Das Tempo des Lebens: Vorsichtige Annäherung an den Futurismus
Seite 10: Befreiung des Wortes
- Das Tempo des Lebens: Vorsichtige Annäherung an den Futurismus
- Das futuristische Manifest
- Eros und Maschine
- Futurismus und Politik
- Krawall und Lyrik
- Futuristische Malerei
- Strafexpedition nach Florenz
- Wir machen Musik
- Kunst für 20 Cent: Urformen der Bewegung
- Befreiung des Wortes
- Triumph des Willens
- Mensch und Übermensch
- Der futuristische Krieg
- Futurismus und Faschismus
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Neben dem, was seine Freunde aus anderen Bereichen der Kunst hervorgebracht haben, nimmt sich Marinettis Lyrik aus den Anfangsjahren des Futurismus ziemlich epigonal aus (vieles ist Victor Hugo, einiges Walt Whitman nachempfunden). Doch auch er wuchs an der Aufgabe. Am 11. Mai 1913 veröffentlichte er sein Manifest „Zerstörung der Syntax – Drahtlose Phantasie – Befreite Worte“.
Die Syntax, so Marinetti, ist ein Erbe der alten Griechen und eine Art „Fremdenführerin“, die alle Lebensenergien in eine erstarrte Ordnung zwängt. Sie muss gesprengt werden. Wenn der Satz in seine einzelnen Bestandteile zerlegt ist, kann das Wort befreit werden. Auf Satzzeichen verzichtet man ganz, oder man ersetzt sie durch Zeichen aus der Musik und der Mathematik. Bevorzugt verwendet man das befreite Substantiv, das Verb im Infinitiv, Lautmalereien. Adjektive und Adverbien dienen dem Stillstand und stehen deshalb dem Dynamismus im Weg.
Man soll nicht mehr mit umständlichen Analogien arbeiten (die Menge war wie eine Brandung), sondern zwei Substantive zusammenstoßen lassen (Menge-Brandung), weil das schneller und effektiver ist. An diese beiden Substantive können weitere Wörter gereiht werden mit dem Ziel, die Kontinuierlichkeit des Lebens zu vermitteln. Aus einem logischen Gedankenablauf wird eine Folge von Gefühlen oder Bildern. Statt eines der im Grunde unübersetzbaren Marinetti-Gedichte soll hier eine gemäßigt futuristische Passage aus August Stramms „Die Menschheit“ zitiert werden:
Tasten Schwanken
In das Dunkel
Bauet
Krücken
Krücken Krücken
Brücken Brücken
Wahne Wahne
Wahne Tiefen
Wahne Höhen
Wahne Schrecken
Wahne Hoffen
Wahne Strafen
Wahne Löhne
Aus
Dem
Eigenen
Blute Blute
Stückt den Raum
Viele Informationen zum Einfluss des Futurismus auf die deutsche Literatur bietet Worte in Freiheit von Peter Demetz. Hier seien nur noch Alfred Döblins Romane Berlin Alexanderplatz, Die drei Sprünge des Wang-lun, Wallenstein sowie Berge Meere und Giganten genannt (letzterer ist ein Dinosaurier-Roman und ein Geheimtipp für alle, die Jurassic Park öde und langweilig finden).
Wer sich ernsthaft für Günter Grass interessiert, sollte das eine oder andere dieser Bücher mal gelesen haben. Grass hat sie genau studiert und viel von Döblins futuristischer, die Gleichzeitigkeit verschiedener Vorgänge betonender Erzähltechnik gelernt. Manch ein Verriss, den Grass sich seit Der Butt eingehandelt hat, erklärt sich auch daraus, dass vielen Kritikern nicht aufgefallen ist, an welche literarische Tradition er anknüpft und warum. Seine Frustration darüber ist durchaus nachvollziehbar.