Das Tempo des Lebens: Vorsichtige Annäherung an den Futurismus

Seite 11: Triumph des Willens

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Formal wenig innovativ ist Marinettis vor dem ersten Futuristischen Manifest entstandener Roman Mafarka le futuriste. Ein Aufreger war er trotzdem. 1910 zuerst im französischen Original und dann auch in italienischer Übersetzung erschienen, brachte das erste Kapitel, „Die Vergewaltigung der Negerinnen“, Marinetti eine Anklage wegen Verstoßes gegen die Sittlichkeit ein. Verhandelt wurde am 8. und 9. Oktober 1910 in Mailand.

Marinetti nutzte das (mit einem Freispruch endende) Verfahren, um für sich und das „futuristische Weltgefühl“ Reklame zu machen. Der Roman, seinem Autor zufolge „zugleich ein lyrischer Gesang, Epos, Abenteuerroman und Drama“, ist ein wildes Gemisch aus bewusster Provokation und Aufrichtigkeit, Wüstenkitsch und Macho-Orgiastik, grellen Effekten und einer futuristischen Rede. Erzählt wird, kurz gesagt, die abenteuerliche Geschichte des Wüstenprinzen Mafarka, der gegen seinen Onkel aufbegehrt, zur Übernahme der Macht brutale Schlachten schlagen muss, allen Verlockungen durch schöne Frauen widersteht und am Ende wie Frankenstein ohne Mitwirkung des weiblichen Geschlechts einen Sohn zeugt.

Bei Mary Shelley besteht dieses Wesen aus Leichenteilen; bei Marinetti aus Draht, Segeltuch, Muskeln und Energie. Mafarka der Futurist erschafft einen modernen „Zentauren“, ein Geschöpf halb Mensch und halb Flugzeug. Das scheint durchaus ernst gemeint zu sein und keine Parodie. Mit dem Roman zeigt Marinetti, dass Punkt 9 des ersten Manifests, die Verherrlichung des Krieges und die „Verachtung des Weibes“, kein Spaß ist und keine beabsichtigte Provokation. Gefühl und romantische Liebe werden dem Weiblichen zugeordnet und müssen überwunden werden, weil sie das Männlich-Heroische schwächen. Da, wo Frauen das männliche Begehren wecken, werden sie getötet, und die Gefahr ist offenbar so groß, dass es gar nicht sadistisch genug dabei zugehen kann. Mafarka beginnt mit einer Massenvergewaltigung, zwei Tänzerinnen müssen sich eine Strafpredigt anhören und werden dann in ein Becken mit Raubfischen geworfen und so fort.

Die Lektüre ist also nicht immer angenehm (kein Wunder bei einem Buch, das bemüht ist, bis an die Grenzen des literarisch Darstellbaren zu gehen). Trotzdem lohnt sie sich. Es mag Romane aus dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg geben, die literarisch anspruchsvoller sind. Man kann aber kaum etwas Besseres lesen, wenn man eine Ahnung davon erhalten will, wie es zum großen Massensterben des Weltkriegs kommen konnte und anschließend zum Faschismus.

In Mafarka geht es um Antihumanismus, die Schaffung eines „neuen Menschen“ durch seine Verschmelzung mit der Maschine, das Schlachtfeld als einem erotischen Ort, den bedingungslosen Willen zur Macht, die Umwertung aller Werte, die Strukturierung einer Gesellschaft nach militärischen Gesichtspunkten, den Krieg als „Hygiene der Welt“, wie es im ersten futuristischen Manifest heißt, die gleichzeitige Todesverachtung und das Verliebtsein in den Tod. Das ist oft abstoßend und immer wieder atemberaubend in seiner Direktheit.

Man könnte eine interessante Entwicklungslinie ziehen von Mafarka über die italienischen Monumentalepen der Stummfilmzeit (Pastrones Cabiria), die deutschen Filme Fritz Langs (Metropolis ist von Cabiria beeinflusst; Dr. Mabuse der Spieler und Das Testament des Dr. Mabuse enden bzw. beginnen mit der zur Schreckensvision verzerrten Fratze des futuristischen Maschinenkults) und die Sandalenfilme der 50er und 60er bis hin zu Terminator, Blade Runner und Robocop, wo Mischwesen aus dem gentechnischen Labor oder der Fabrik aufmarschieren. Damit ist noch nicht gesagt, dass dort Marinettis Ideologie übernommen wird; aber das Hinterfragen einer Tradition, in der gewisse Filme stehen, ist immer zu empfehlen.

Wer Mafarka sowie das eine oder andere Manifest kennt, wird auch neue Zugänge zu den postmodernen Romanen Thomas Pynchons finden, der sich dem Imperialismus, den beiden Weltkriegen und dem Faschismus auf dem Weg über Film und Futurismus nähert. Die herzergreifende Geschichte von Byron the Bulb (der unsterblichen Glühbirne) in Pynchons Gravity’s Rainbow verdanken wir einem Satz, den Boccioni in das „Technische Manifest der futuristischen Malerei geschrieben hat:

Der Schmerz eines Menschen ist für uns genauso interessant wie der einer elektrischen Birne, die leidet, zuckt und die qualvollsten Schmerzensrufe ausstößt […].

Was Boccioni wohl zum Plan der EU-Kommission sagen würde, die Glühbirne zu verbieten? Und zu den Diskussionen um die (menschliche?) Wärme des Lichts dieser Birne, die der Plan ausgelöst hat?