Das Tempo des Lebens: Vorsichtige Annäherung an den Futurismus

Seite 6: Futuristische Malerei

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Die Maler benannten Themen, die man bereits von Marinetti kannte: Eisenbahnen, Flugzeuge, die „frenetische Aktivität der großen Städte“. Hinweise darauf, wie eine futuristische Umsetzung dieser Themen aussehen könnte, gaben sie in ihrem im April 1910 verteilten „Technischen Manifest“ der futuristischen Malerei:

Alles bewegt sich, alles fließt, alles vollzieht sich mit größter Geschwindigkeit. Eine Figur steht niemals unbeweglich vor uns, sondern sie erscheint und verschwindet unaufhörlich. Durch das Beharren des Bildes auf der Netzhaut vervielfältigen sich die in Bewegung befindlichen Dinge, ändern ihre Form und folgen aufeinander wie Schwingungen im Raum. So hat ein galoppierendes Pferd nicht vier, sondern zwanzig Beine, und ihre Bewegungen sind dreieckig. […]
Stellen wir nochmal fest, dass ein Porträt, um ein Kunstwerk zu sein, seinem Modell weder ähneln kann noch darf; und der Maler trägt die Landschaften, die er wiedergeben will, in sich. Um eine Figur zu malen, ist es nicht nötig, sie nachzubilden; ihre Atmosphäre muss wiedergegeben werden.

Aha. Was heißt das jetzt? Hier wenigstens einige Stichpunkte: Alles geht von der Grundidee eines materiellen Bewegungsprozesses aus. Die Malerei soll dynamische Empfindungen und die Energie des Lebens wiedergeben, das Lebensprinzip eines universellen Dynamismus, statt eine photographische Reproduktion der äußeren Welt abzuliefern. Gemalt wird nicht der Gegenstand, sondern, wie Boccioni in einer Rede sagt, „der Rhythmus des in Bewegung befindlichen Gegenstands“.

Alle Formen von Mimetik, Spiegelung und Gegenüber – der Künstler oder der Betrachter auf der einen, das Abgebildete auf der anderen Seite – sind überholt und haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Körper sind keine in sich geschlossenen Gegenstände, sondern sind dauernden Veränderungen unterworfene, von ihrer Umwelt beeinflusste Formen. Der Künstler beobachtet nicht mehr, er taucht in die Energie der Materie ein und versucht, sich ihr einzuverleiben, statt sie zu humanisieren. Um das Leben gestalten zu können, muss es der Künstler erfühlen, teilnehmen und mitschwingen. Für den Betrachter bedeutet das, dass er nicht passiv vor einem an der Wand hängenden Bild steht, sondern – so das Ideal – den Schaffensprozess im Akt des Betrachtens nachempfindet und auf diese Weise aktiv am Kunstwerk teilhat.

Umberto Boccioni: Der Straßenlärm durchdringt das Haus

„Unsere Körper“, schreibt Boccioni im Technischen Manifest, „dringen in die Sofas, auf denen wir sitzen, ein, und die Sofas dringen in uns ein, so wie die vorüberfahrende Straßenbahn in die Häuser dringt, die sich ihrerseits auf die Straßenbahn stürzen und sich mit ihr verquicken.“ 1911 malte er ein Bild, dem er den Titel „Der Straßenlärm durchdringt das Haus“ gab. Man sieht eine Baustelle, auf der ein Haus entsteht. Sie ist umgeben von bereits gebauten, durch Boccioni fragmentierten Häusern. Das Ganze ist eine Form- und Farbexplosion. Die Umrisse einer im Bau befindlichen Treppe werden in die Schulter einer auf einem Balkon stehenden Frau hinein verlängert, Teile des Baugerüsts scheinen wie Nadeln in ihrem Kopf zu stecken, aus ihrer Hüfte galoppiert ein Pferd heraus. Die materielle Welt dringt in den Körper der Frau ein, wie Lärm und Bilder in ihr Bewusstsein eindringen.