Das Tempo des Lebens: Vorsichtige Annäherung an den Futurismus

Seite 5: Krawall und Lyrik

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In Italien standen im April Wahlen an, weshalb Marinetti rasch noch ein Manifest veröffentlichte, diesmal ein explizit politisches. Darin erfuhr man, dass die Futuristen „allein den Stolz, die Energie und die nationale Expansion zum Programm haben“ und eine Volksvertretung wollten, die „frei von Mumien und allen pazifistischen Feigheiten“ ist. Später würde er Sätze schreiben wie diesen: „Das Wort Italien steht noch über dem Wort Freiheit; alles ist erlaubt, nur nicht, gegen Italien zu sein.“

Um ihre Ideen und ihre Kunst unters Volk zu bringen, organisierten Marinetti und seine Dichterfreunde wieder Rezitationsabende. Ein erster größerer Erfolg gelang ihnen mit einer Veranstaltung in einem Mailänder Theater, die der Corriere della Sera so zusammenfasste:

Die Veranstaltung der Futuristen im Teatro Lirico begann mit der poetischen Verherrlichung der fiebrigen Schlaflosigkeit, der Ohrfeige und des Faustschlages; nach einer unerwarteten Wendung endete sie mit dem Erscheinen der Polizei auf der Bühne.

Wenn der Reporter des Corriere es richtig beschrieben hat, hielt Marinetti eine mit viel Beifall bedachte Rede, in der er seinem Hass auf die Vergangenheit und auf „die berühmten Toten, die die Lebenden unterdrücken“ Luft machte. Besonders gut kam der Satz „Wir werden die Lokomotiven unserer Phantasie auf gut Glück losjagen!“ an. Aber nachdem jemand das erste Futuristische Manifest verlesen und die Poeten ihre futuristischen Gedichte vorgetragen hatten, zeigte sich das Publikum stark ermüdet. Dann hatte Marinetti einen Einfall, wie der Abend doch noch zu retten sein könnte. Er trat an die Rampe und verkündete: „Unsere erste futuristische Schlussfolgerung soll sein: ‚Nieder mit Österreich!’“ Die Menge johlte, ein Polizist brach die Vorstellung ab, die Futuristen wurden vorläufig festgenommen.

Wichtiger als der Skandal und die öffentliche Aufmerksamkeit war aber etwas anderes. Im Publikum saßen zwei junge Maler, die sich für Marinettis Idee von der Erneuerung der italienischen Kunst begeisterten: Umberto Boccioni, den wir bereits als Kämpfer gegen das Spießertum kennengelernt haben und Luigi Russolo. Bisher war der Futurismus eine Sache der Literaten gewesen. Boccioni und Russolo kamen auf den Gedanken, dass auch sie Futuristen werden könnten. Gemeinsam mit ihrem Freund Carlo Carrà schrieben sie Ende Februar 1910 ein Manifest, in dem sie „für alles, was jung, neu und voller Leben ist“ eintraten, für eine Kunst, die sich „an den greifbaren Wundern des zeitgenössischen Lebens“ inspiriert, „an dem eisernen Netz der Geschwindigkeit, das die Erde umspannt, an den Überseedampfern, den Dreadnoughts, den wunderbaren Flügeln, die die Lüfte durchziehen, den von Finsternis umgebenen Unterseebooten und dem angespannten Kampf um die Eroberung des Unbekannten.“ Abgerechnet wurde mit der „feigen Faulheit“, dem „ekelerregenden Wiederaufblühen eines blöden Klassizismus“, der „Malerei für Rentenempfänger“, den „schlampigen und dummen Illustratoren“, den „impotenten Sommerfrischen-Malern“ etc.

Als das Manifest mit Marinettis Hilfe fertig gestellt war (er datierte es auf den 11. des Monats zurück), wurde es sofort gedruckt. „Dieser Schrei kühner und offener Rebellion“, schreibt Carrà in seinen Memoiren, „der wenige Tage später in mehreren tausend Exemplaren verteilt wurde, hatte im grauen Himmel der Kunst unseres Landes die Wirkung eines heftigen elektrischen Schlages.“ Konkret sah das so aus, dass Boccioni das Manifest am 8. März in einem Theater in Turin erstmals öffentlich verlas. Inzwischen hatten sich die Gegner formiert. Sie verteilten eine angebliche Grußbotschaft der Insassen des Irrenhauses, brachten Pfeifen und Hupen mit, imitierten Tierstimmen, warfen Bohnen, Kartoffeln und Knallfrösche. Als Boccioni an die Stelle mit der „Malerei für Rentenempfänger“ kam, regneten Kupfermünzen auf ihn herab. Wie gesagt: Bei den Futuristen war immer etwas los. Sie provozierten Widerspruch.