Das Tempo des Lebens: Vorsichtige Annäherung an den Futurismus
Seite 9: Kunst für 20 Cent: Urformen der Bewegung
- Das Tempo des Lebens: Vorsichtige Annäherung an den Futurismus
- Das futuristische Manifest
- Eros und Maschine
- Futurismus und Politik
- Krawall und Lyrik
- Futuristische Malerei
- Strafexpedition nach Florenz
- Wir machen Musik
- Kunst für 20 Cent: Urformen der Bewegung
- Befreiung des Wortes
- Triumph des Willens
- Mensch und Übermensch
- Der futuristische Krieg
- Futurismus und Faschismus
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Die Futuristen waren nicht so bedingungslos neu und originell, wie sie das von sich behaupteten (wer ist das schon?). Am 5. Februar 1912 wurde in Paris die Ausstellung eröffnet, die dann nach London und – auf Betreiben von Herwath Walden – Berlin weiterreiste. Damit stellten sich die Futuristen der Weltöffentlichkeit, und sie begegneten den Avantgarden anderer Länder. Diese Begegnungen forcierten die Einsicht, dass es entscheidend auf die formale Umsetzung der in den ersten Manifesten benannten Themenbereiche ankam, also darauf, wie man Bewegung, die Durchdringung der Ebenen und die Aufhebung der Kategorien Raum und Zeit darstellte. So lernten sie etwa vom Kubismus, wie man Raum und Materie in geometrische Formen auflöst, und die Kubisten lernten einiges von den Futuristen. Zwischen den beiden Gruppen brach auch schon bald ein Streit darüber aus, wer was zuerst gedacht, formuliert und getan hatte. Auf beiden Seiten führte das zu Umdatierungen einzelner Werke, was die Kunstgeschichte bis heute vor Probleme stellt. Man muss nicht alles glauben, was in Büchern und auf Gemälden steht.
Mit vielen ihrer Schriften und Aktionen lieferten die Futuristen ihren Gegnern die Munition, die diese brauchten, um sie als Hochstapler, Scharlatane und Hanswursten anzugreifen. Die Polemik gegenüber der modernen Kunst, sie sei kaum mehr als eine Kleckserei, die jedes Kind und jeder Geisteskranke genauso herstellen könne, ist ohnehin nicht auszurotten. Wer solchen Vorurteilen anhängt, könnte die vielen theoretischen Überlegungen Boccionis lesen und sich die vielen Bilder und Skulpturen ansehen, in denen er Schritt auf Schritt die Probleme löste, die sich ihm stellten, als er versuchte, die kontinuierliche, ununterbrochene Bewegung zu zeigen – nicht einen bestimmten, eingefrorenen Moment dieser Bewegung, sondern die dynamische Sinneserfahrung. Es erforderte mehrere Jahre und umfangreiche Vorarbeiten, bis ihm sein Meisterwerk „Urformen der Bewegung im Raum“ (1913) gelang.
Boccioni war sehr beeindruckt von Henri Bergson und dessen Unterscheidung zwischen relativer Bewegung (das, was wir von außen erfahren) und absoluter Bewegung (das, was wir auf intuitive Weise von innen erfahren), seiner Überlegung, dass „Dauer“ aus der rückwärts gewandten Erinnerung und der vorwärts gerichteten Lebensenergie besteht. Das alles wollte er in einem einzigen Kunstwerk miteinander verbinden oder „synthetisieren“, wie die Futuristen sagten. Mit seiner „Urformen“-Skulptur versuchte er, gleichzeitig die unmittelbare Vergangenheit und die unmittelbare Zukunft einer Bewegung darzustellen sowie das gegenseitige Durchdringen von Objekt und Umgebung, das dabei entsteht.
Die Skulptur nimmt viel von dem vorweg, was uns für das „posthumane Zeitalter“ vorausgesagt wird (falls wir nicht schon mitten drin sein sollten). Die Unterschenkel der Figur sind wie aus dem Auspuffrohr eines Rennwagens kommende Flammen geformt. Es gibt keine Arme, aber an Flügel erinnernde Schultern. Die Brust ist dem bei großer Geschwindigkeit zu erwartendem Luftdruck angepasst. Der Kopf ist teils Schädel und teils Helm, mit Maschinenteilen besetzt und dem Griff eines Schwerts als Gesicht (zu den weniger erfreulichen Aspekten des Futurismus kommen wir noch).
Boccionis „Urformen der Bewegung im Raum“ und einige andere Arbeiten von Balla, Carrà, Sironi etc. kann man derzeit übrigens in der Ausstellung „18 Meisterwerke des Futurismus“ in der Peggy Guggenheim Collection in Venedig sehen. Wer hinfahren will, sollte zur Vorbereitung das Manifest „Wider das passatistische Venedig“ lesen („Verbrennen wir die Gondeln, diese Schaukelstühle für Schwachköpfe …“). Und wer zuhause bleibt, könnte im Antiquariat den wunderbaren Katalog suchen, der 1986 zur Ausstellung „Futurismo&Futurismi“ bei Bompiani erschienen ist (gelegentlich noch sehr günstig zu bekommen). Der kurze Weg zum Futurismus führt übers Kleingeld: Auf der italienischen 20-Cent-Münze sind Boccionis „Urformen“ eingeprägt.