Das Tempo des Lebens: Vorsichtige Annäherung an den Futurismus

Seite 8: Wir machen Musik

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Als der Komponist Francesco Patella zum Futurismus stieß, war es Zeit für ein „Technisches Manifest der futuristischen Musik“ (Schlüsselbegriffe sind Polyphonie und Improvisation). Luigi Russolo erfand die „Geräuschmusik“ und versuchte, die verschiedenen von Maschinen und vom modernen Leben hervorgebrachten Klänge harmonisch und rhythmisch zu ordnen. Die Geräusche teilte er in sechs Gruppen ein (die „Geräuschfamilien“). Da ihm herkömmliche Musikinstrumente ungeeignet erschienen, baute er zur mechanischen Reproduktion der Klänge „Geräuschintonatoren“ (intonarumori) wie den Gurgler, den Explodierer, den Knatterer oder den Heuler, die zusammen ein „Geräuschharmonium“ (rumorarmonio) ergaben. Er wurde dadurch zum Pionier der konkreten und der elektronischen Musik.

Orchestra and „intonarumori“

Am 21. April 1914 dirigierte er im Teatro Dal Verme in Mailand das erste „Große Futuristische Konzert“ mit 18 bis 23 intonarumori (die Angaben differieren). Traditionelle Musiker und Lehrer des Königlichen Konservatoriums begannen schon eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung mit einem Pfeifkonzert; als Wurfgeschosse hatten sie viel Gemüse mitgebracht. Russolo ließ sich davon nicht beeindrucken. Aber als er gerade das dritte und letzte Stück dirigierte, „Das Zusammentreffen von Automobilen und Aeroplanen“, stürmten Marinetti, Boccioni und einige andere Futuristen das Parkett und prügelten auf die Störer ein, bis die Polizei kam. Das Geräuschharmonium wurde leider im Zweiten Weltkrieg vernichtet.

Marinetti, Piatti und Russolo im London Coliseum

Dank der Störenfriede wurde Russolos Konzert zum Happening und zum futuristischen Gesamtkunstwerk. „Das futuristische Theater“, heißt es in einem Text von 1915, „wird jeden Abend eine Gymnastik sein, die den Geist unseres Volkes für die schnellen und gefährlichen Wagnisse trainiert.“ Bei Bedarf wurde diese Gymnastik eben um eine körperliche Komponente erweitert. Die Futuristen waren natürlich gegen das bürgerliche Theater mit Guckkastenbühne und unsichtbarer, das Publikum von den Darstellern trennender „vierter Wand“. Dafür liebten sie das Varieté, weil dort neben Gesangsnummern, artistischen Vorführungen und kurzen Sketchen auch Filme geboten wurden, weil es eine starke Interaktion zwischen Künstlern und Publikum gab, weil es „das Feierliche, das Heilige, das Ernste und das Erhabene in der Kunst“ zerstörte. „Der Futurismus“, schreibt Marinetti in „Das Varieté“ (1913), „will das Varieté in ein Theater der Schockwirkungen, des Rekords und der Psychotollheit verwandeln.“ Punkt 3 seiner Gebrauchsanweisung:

Man muss die Überraschung und die Notwendigkeit zu handeln unter die Zuschauer des Parketts, der Logen und der Galerie tragen. Hier nur ein paar Vorschläge: auf ein paar Sessel wird Leim geschmiert, damit die Zuschauer – Herr oder Dame – kleben bleiben und so die allgemeine Heiterkeit erregen (der Frack oder das beschädigte Kleid wird selbstverständlich am Ausgang ersetzt). – Ein und derselbe Platz wird an zehn Personen verkauft, was Gedrängel, Gezänk und Streit zur Folge hat. – Herren und Damen, von denen man weiß, dass sie leicht verrückt, reizbar oder exzentrisch sind, erhalten kostenlose Plätze, damit sie mit obszönen Gesten, Kneifen der Damen oder anderem Unfug Durcheinander verursachen. – Die Sessel werden mit Juck- und Niespulver usw. bestreut.

Wenn man Marinettis „Varieté“ mit Sergej Eisensteins „Montage der Attraktionen“ vergleicht, einem Text von 1923, wird man viele Übereinstimmungen finden. „Eine Salve unter den Sitzen der Zuschauer als Schlussakkord“, ist der letzte Satz bei Eisenstein.

Es sei DUMM (in Großbuchstaben), heißt es in „Das futuristsche synthetische Theater“ (1915), auf der Bühne alles logisch erklären zu wollen, weil das Leben unlogisch, schnell und zusammenhanglos sei, „weil die Wirklichkeit um uns herum vibriert und uns Teilstücke von Geschehnissen entgegenschleudert, die miteinander in Verbindung stehen, die ineinandergeschoben und verworren, verwickelt und in einem chaotischen Zustand sind.“ So sollte auch das Theater sein. Es sollte ineinander überblendete „Wirklichkeitsfragmente“ ohne kausale oder chronologische Abfolge bieten, deren Zusammenhang der Zuschauer intuitiv erfassen sollte.

In Marinettis „Sie kommen“ decken drei Leute einen Tisch, weil „sie kommen“. Wenn das eine Stunde oder länger dauern würde, könnte es von Andy Warhol sein. Aber die Futuristen mochten die Überraschung, die Schockwirkung und die Kürze. In Francesco Cangiullos „Detonation“ hebt sich der Vorhang. Man sieht eine menschenleere Straße. Eine Minute lang passiert gar nichts. Alles ist totenstill. Dann fällt ein Schuss. Der Vorhang senkt sich. Solche Darbietungen waren nicht jedermanns Sache. Was dann geschah, wissen wir bereits. Marinetti soll sich nach dem Gefecht mit Soffici in Florenz einen besonders stabilen Spazierstock zugelegt haben.