Das Tempo des Lebens: Vorsichtige Annäherung an den Futurismus

Seite 13: Der futuristische Krieg

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Während Marinetti einem aggressiven und gewaltbereiten Heroismus das Wort redete, erhob Italien Anspruch auf das von der Türkei besetzte Libyen. Im September 1911 begann ein blutiger Eroberungskrieg. Marinetti war als Berichterstatter mit dabei. Von Tripolis aus veröffentlichte er das zweite politische Manifest, in dem er gegen „das schmutzige Gesindel der Pazifisten“ wettert und sich glücklich preist, „endlich diese große futuristische Stunde Italiens zu erleben“.

Marinettis Held, Hauptmann Carlo Maria Piazza, war noch nicht selber zum Flugzeug geworden wie der neue Mensch in Mafarka, aber doch immerhin ein schneidiger Flieger und ein Innovator. Piazza war der erste, der aus der Luft die feindlichen Linien photographierte, und er warf zum ersten Mal Bomben aus einem Flugzeug ab - am 19.11.1911, als habe er sich zuvor mit Marinetti abgesprochen. Marinetti inspirierte der Libyen-Krieg zu seinem vielleicht radikalsten Werk, La Bataille de Tripoli (der Verlag belleville, bei dem schon Mafarka der Futurist erschienen ist, bereitet eine deutsche Ausgabe vor).

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde von den Futuristen euphorisch begrüßt. Italien blieb zunächst neutral. Die Futuristen demonstrierten für den Kriegseintritt („da es auch um die Kultur und die Zivilisation geht“). Nach einer ihrer Kundgebungen wurden sie verhaftet; im Gefängnis arbeiteten sie an der „Futuristischen Synthese des Krieges“. Wieder in Freiheit, ließen sie sich in einem grün-weiß-roten „antineutralen Anzug“ sehen. Bei einer Veranstaltung in Rom wurden sie gemeinsam mit Benito Mussolini festgenommen. Ihre Antwort war ein Manifest mit dem Titel „Italienischer Stolz“, in dem ihr übertriebenes Nationalbewusstsein zum Ausdruck kommt. Nicht am deutschen, am italienischen Wesen sollte die Welt genesen.

Am 24. Mai 1915 trat Italien schließlich in den Krieg ein. Die Futuristen meldeten sich freiwillig und schlossen sich einem Radfahrerbataillon an (der Rausch der Geschwindigkeit). Im Oktober wurden sie in erste Kampfhandlungen verwickelt.

Boccioni an der Front

Beim Ersten Weltkrieg denkt man zunächst an zermürbende Grabenkämpfe und einen unübersichtlichen, nicht enden wollenden Stellungskrieg. Der Krieg war jedoch geprägt von modernster Waffentechnik und für Nachrichtenübermittlung und Transport dienstbar gemachter Technologie. Die von den Futuristen verherrlichte Schnelligkeit triumphierte auf eine Weise, wie auch sie sich das nicht vorgestellt hatten.

Der Traum von der Zerstörung der Vergangenheit und dem Eintritt in eine neue, von immerwährender Innovation getragene Daseinsform schlug um in einen Albtraum. Dazu nur einige Zahlen: Am 6. August 1914 begannen die Deutschen damit, in 11.000 Transportzügen 3 Millionen 120.000 Soldaten über den Rhein zu bringen. Der Schlieffen-Plan scheiterte ironischerweise daran, dass das deutsche Heer mit Hilfe deutscher Eisenbahner viel schneller als gedacht vorankam und bald vom Nachschub abgeschnitten war, der nicht rasch genug folgen konnte. Die französische Armee erlitt die ersten Niederlagen in einer bis dahin ganz unerhörten Geschwindigkeit, konnte aber ebenfalls „positive“ Temporekorde vermelden: Im August 1914 brachten 4278 Züge etwa 2 Millionen Soldaten an die Front, und nur 19 Züge hatten Verspätung.

Sobald sich die Armeen eingegraben hatten, erfuhren die Soldaten den Krieg als ein zähes Ringen, bei dem kaum etwas voranging. Doch die tatsächlichen Gefechtshandlungen verliefen äußerst schnell. Das hing damit zusammen, dass die neuen Gewehre und Artilleriegeschütze größere Magazine hatten und schneller geladen und abgefeuert werden konnten als je zuvor. Man schätzt, dass 80 Prozent aller Verwundungen durch Maschinengewehrfeuer verursacht wurden. Diese moderne Waffe tötete schneller als jede andere. Am ersten Tag der Schlacht an der Somme wurden etwa 60.000 britische Soldaten verwundet, 21.000 davon tödlich. Die meisten sollen innerhalb der ersten Stunde gestorben sein, vermutlich sogar in den ersten Minuten.

Marinettis „Technisches Manifest der futuristischen Literatur“ endet wie folgt:

Mit Hilfe der Intuition werden wir die scheinbar unbeugsame Feindschaft besiegen, die unser menschliches Fleisch vom Metall der Motoren trennt. Nach dem Reich der Lebewesen beginnt das Reich der Maschinen. Durch Kenntnis und Freundschaft der Materie, von der die Naturwissenschaftler nur die physikalisch-chemischen Reaktionen kennen können, bereiten wir die Schöpfung des MECHANISCHEN MENSCHEN MIT ERSATZTEILEN vor. Wir werden ihn vom Todesgedanken befreien, und folglich auch vom Tode, dieser höchsten Definition logischer Intelligenz.

Auch das, wenigstens der erste Teil, wurde durch den Krieg grausige Realität. Die technisch hochentwickelten Waffen richteten Verwüstungen am menschlichen Körper in einem noch nie erlebten Ausmaß an. Das führte zu einem Innovationsschub bei der Entwicklung chirurgischer Prothesen und bei den Herstellern dieser Prothesen zu Rekordumsätzen. Wer einen anti-futuristischen Film sehen will, könnte es mit J’accuse von Abel Gance versuchen, einem Film über die Invaliden des Ersten Weltkriegs.