Das Tempo des Lebens: Vorsichtige Annäherung an den Futurismus

Seite 14: Futurismus und Faschismus

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Nicht in jedem Fall war der Tod auf das Tempo der technisierten Welt zurückzuführen. Boccioni fiel im August 1916 bei einer Übung seines Artillerieregiments vom Pferd und erlag seinen Verletzungen. Der futuristische Architekt Antonio Sant’Elia, ein Visionär der von Wolkenkratzern dominierten Stadt, fiel in der Nähe von Triest im Gefecht. Marinetti, Russolo und Carrà wurden schwer verwundet.

Nach dem Krieg schlossen sich diejenigen, die überlebt hatten und sich weiterhin zum Futurismus bekannten (das galt nicht für wichtige Weggefährten Marinettis wie Severini, Balla und Russolo) den faschistischen Kampfbünden an. Sie stellten bei den Wahlen von 1919 eine gemeinsame Liste mit den Faschisten auf und machten mit, als diese im April in Mailand den Redaktionssitz des sozialistischen Avanti zerstörten. Allerdings gab es bald Spannungen, da Marinetti zwar die Republik, den Parlamentarismus und die liberale Gesellschaftsordnung ablehnte, aber für einen von Künstlern regierten Staat ohne Polizei und Gefängnisse eintrat. Mussolini war da ganz anderer Meinung. Trotzdem blieben die beiden Freunde und Verbündete.

Die meisten der übriggebliebenen Futuristen kehrten nach und nach zur traditionellen, früher einmal als „passatistisch“ attackierten Kunst zurück, heirateten und wurden Familienväter. Sollten sie noch immer, wie im ersten Manifest gefordert, das Weib verachtet haben, taten sie dies nun im Geheimen. Auch von Zeugungen unter Umgehung des Geschlechtsakts, sei es durch Willenskraft oder im Flugzeughangar, ist nichts bekannt.

Als Mussolini 1922 mit dem Marsch auf Rom seine Ernennung zum Ministerpräsidenten erzwang, rührte Marinetti wieder die Reklametrommel. Der Futurismus, ließ er wissen, sei der geistige Wegbereiter des Faschismus gewesen, und durch diesen sei nun zumindest ein „futuristisches Minimalprogramm“ gewährleistet. Zur Untermauerung seines Anspruchs, den Faschismus ideologisch mit durchgesetzt zu haben, gab er 1924 einen „meinem lieben und großen Freund Benito Mussolini“ gewidmeten Sammelband heraus: Futurismo e Fascismo.

Die Faschisten waren vermutlich nicht nur begeistert von Marinetti und seinem immer wieder aufblitzenden Anarchismus, aber sie tolerierten ihn und ließen ihm sogar einige Ehrungen zuteil werden. Er durfte im Ausland als Kulturbotschafter seines faschistischen Heimatlandes auftreten, und 1929 wurde er zum Mitglied der Akademie Italiens ernannt. Diese war zwar neu gegründet worden, aber eigentlich doch dieselbe Akademie, zu deren Bombardierung er in seiner Sturm-und-Drang-Zeit aufgerufen hatte.

1934 stellten er und die verbliebenen oder neu hinzugekommenen Mit-Futuristen auf der Biennale in Venedig aus, in jener Stadt also, zu der ihnen 1909 vor allem eingefallen war, dass es dort „kleine, stinkende Kanäle“ gebe, „lepröse Paläste“ und „das von seiner alten Größe abgefallene venezianische Volk, morphiniert von einer ekelerregenden Feigheit und durch die Gewöhnung an seine miesen kleinen Geschäfte erniedrigt“. „Damit“, hält Christa Baumgarth lapidar fest, „war der Futurismus in jene Akademien, Bibliotheken und Museen eingezogen, deren Zerstörung er auf sein Banner geschrieben hatte.“

Marinetti hatte, wie man heute vielleicht sagen würde, den Marsch durch die Institutionen angetreten und nun erfolgreich abgeschlossen (er starb am 2. Dezember 1944 in Bellagio, nachdem er sich zuvor noch freiwillig gemeldet hatte, um gegen die Sowjetunion zu kämpfen). Das ist doch irgendwie traurig. Er selbst hatte vorausgeahnt, was kommen würde. Wenn es einmal so weit ist, schrieb er vor hundert Jahren im Figaro, „mögen andere, jüngere und tüchtigere Männer uns ruhig wie nutzlose Manuskripte in den Papierkorb werfen. Wir wünschen es so!“

Einige der Manuskripte, den Mafarka und manche der Manifeste, sollte man zum Jahrestag wieder herausholen und, je nach Laune, futuristisch rasant oder ganz in Ruhe lesen. Man muss nicht alles mögen, was Marinetti und die Futuristen geschrieben, gemalt, geformt und gezeichnet haben. Aber die Auseinandersetzung mit ihnen und ihrem Werk ist garantiert lehrreich. Und unterhaltsam ist sie natürlich auch. Langeweile ist ganz unfuturistisch.