Das Tempo des Lebens: Vorsichtige Annäherung an den Futurismus
Seite 2: Das futuristische Manifest
- Das Tempo des Lebens: Vorsichtige Annäherung an den Futurismus
- Das futuristische Manifest
- Eros und Maschine
- Futurismus und Politik
- Krawall und Lyrik
- Futuristische Malerei
- Strafexpedition nach Florenz
- Wir machen Musik
- Kunst für 20 Cent: Urformen der Bewegung
- Befreiung des Wortes
- Triumph des Willens
- Mensch und Übermensch
- Der futuristische Krieg
- Futurismus und Faschismus
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Was ist das also, der Futurismus? Gar nicht so leicht zu sagen. Es gibt viele, teils einander widersprechende Definitionen (die Klassiker zum Thema sind Christa Baumgarths Geschichte des Futurismus und Umbro Appolonios Der Futurismus, beide mit vielen Dokumenten und heute noch lesenswert). Für eine künstlerische Bewegung ist das kein schlechtes Zeichen, weil es belegt, dass sie sich, obwohl nun hundert Jahre alt, nicht zwischen zwei Aktendeckeln abheften und ins Regal hängen lässt, nachdem die Kunsthistoriker das Amen über sie gesprochen haben. Am besten, man fängt mit dem Anfang an, mit dem Gründungsmanifest.
Am 20. Februar 1909 erschien auf Seite 1 der französischen Tageszeitung Le Figaro ein von F.-T. Marinetti unterzeichneter Leitartikel der etwas anderen Art. Überschrift: „Le Futurisme“. Der Beitrag reichte über drei Spalten (bei insgesamt sechs Spalten ist das eine ganze Menge) und begann folgendermaßen:
Wir hatten die ganze Nacht gewacht, meine Freunde und ich, unter den Moscheeampeln mit ihren durchbrochenen Kupferschalen, sternenübersät wie unsere Seelen und wie diese bestrahlt vom eingefangenen Glanz eines elektrischen Herzens. Lange haben wir auf weichen Orientteppichen unsere atavistische Trägheit hin und her getragen, bis zu den äußersten Grenzen diskutiert und viel Papier mit irren Schreibereien geschwärzt.
Ein ungeheurer Stolz schwellte unsere Brust, denn wir fühlten, in dieser Stunde die einzigen Wachen und Aufrechten zu sein, wie stolze Leuchttürme oder vorgeschobene Wachtposten vor dem Heer der feindlichen Sterne, die aus ihren himmlischen Feldlagern herunterblickten.
So ging es noch etliche Absätze dahin, und dann folgte das „Manifest des Futurismus“ (1912, im Sturm, erschien es erstmals in deutscher Übersetzung):
1. Wir wollen die Liebe zur Gefahr singen, die gewohnheitsmäßige Energie und die Tollkühnheit.
2. Die Hauptelemente unserer Poesie werden der Mut, die Kühnheit und die Empörung sein.
Und so weiter bis Punkt 11. Am problematischsten wirkt heute:
9. Wir wollen den Krieg verherrlichen, - diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.
Das Sterben für die schönen Ideen vollzog sich dann auf den Schlachtfeldern und in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, der gelegentlich, nicht ganz zu Unrecht, als der „futuristische Krieg“ bezeichnet wird. Das macht schon deutlich, dass der Futurismus auch die angeht, die sich für Kunst nicht interessieren.
Eigentlich findet jeder was in den vielen Manifesten (das erste war noch lange nicht das letzte). Der Bayerischen Staatsregierung etwa gehen langsam die Argumente für den Bau der Autobahn aus, die das Isental zerstören wird, und auch der weitere „Ausbau“ der Donau stößt auf Widerstand. Seehofer & Co. sei ein Text Marinettis von 1916 empfohlen, in dem er sich an der Geschwindigkeit als neuer Religion berauscht. Darin träumt er von der Entfernung des Arabesken aus der Landschaft (gemeint sind die Täler) und einer Begradigung der Flüsse, damit die Donau eines Tages mit einer Geschwindigkeit von 300 Kilometern pro Stunde dahinschießen könne. Sein Ideal von den schnurgeraden Autobahnen ist ohnehin längst Wirklichkeit geworden.