Das Tempo des Lebens: Vorsichtige Annäherung an den Futurismus

Seite 4: Futurismus und Politik

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg war mit der italienischen Kultur nicht viel Staat zu machen. Die meisten Künstler waren im Klassizismus des 19. Jahrhunderts steckengeblieben, oder sie ahmten nach, was in anderen europäischen Ländern und in Amerika erfolgreich war, kopierten etwa den Jugendstil aus München und Wien. Junge Intellektuelle wie Marinetti wollten diesen Provinzialismus überwinden, die Kultur Italiens wieder auf internationales Niveau bringen.

1905 gründete er mit einigen Dichterfreunden eine „internationale Zeitschrift für Lyrik“ mit dem Titel Poesia. In der Poesia veröffentlichten vor allem französische und italienische Autoren. Die bald von Marinetti allein herausgegebene Zeitschrift war stark von den Symbolisten beeinflusst und versuchte, in Italien dem freien, nicht in das Korsett traditioneller Versmaße und Reimschemata gezwängten Vers zum Durchbruch zu verhelfen. Marinetti selbst schrieb weiter ausschließlich in französischer Sprache.

Die Einigung Italiens war noch nicht vollendet. Die „unerlösten“ Gebiete von Trient und Triest, wie es im damaligen Sprachgebrauch hieß, gehörten zu Österreich. Marinetti, bis dahin ein frankophiler Kosmopolit mit Verwurzelung in Paris, hatte eine Art Erweckungserlebnis, als er am 9. März 1908 bei einem Rezitationsabend in Triest auftrat. Vorgestellt als „ein französischer Künstler“, trug er Gedichte von Baudelaire, Victor Hugo und Gustave Kahn vor. Dann hielt er eine feurige Rede, in der es um die Liebe zum Meer ging, den trunken machenden „Widerschein von tausend Rüstungsfabriken“, die „Lippen der schönen Italienerinnen“ und eine „vom Fremden befreite Stadt“. Unter Applaus bekannte er sich auf österreichischem Hoheitsgebiet dazu, ein Italiener zu sein. Als Höhepunkt des Abends brachte er seine „Ode an ein Automobil“ zu Gehör.

Der Auftritt in Triest machte klar, was sich in seinen Zeitungsartikeln bereits angedeutet hatte: Marinetti entwickelte sich zum Anhänger des Panitalianismus. Der von ihm begründete Futurismus hatte deshalb von Beginn an auch eine starke politische Komponente. Neben der künstlerischen sollte er auch eine weltanschauliche Erneuerungsbewegung sein, und Italien sollte die Führung übernehmen. Marinetti und seinen Mitstreitern ging es darum, ein neues Italien zu schaffen und dann, im nächsten Schritt, auch eine neue Welt.

„Von Italien aus“, schrieb Marinetti am 20.2.1909 im Figaro, „schleudern wir unser Manifest voll mitreißender und zündender Heftigkeit in die Welt, mit dem wir heute den ‚Futurismus’ gründen, denn wir wollen dieses Land von dem Krebsgeschwür der Professoren, Archäologen, Fremdenführer und Antiquare befreien.“ Um etwas Neues schaffen zu können, musste man sich zuerst von all dem befreien, was „passatistisch“ war, also der Vergangenheit verhaftet. Dabei waren die Futuristen, zumindest in ihrer Rhetorik, nicht zimperlich. Die Museen wollten sie unter Wasser setzen, die Bibliotheken niederbrennen, die Akademien bombardieren.

Der Begleittext zum ersten Manifest endet mit einem berühmten Satz: „Aufrecht auf dem Gipfel der Welt, schleudern wir noch einmal unsere Herausforderung den Sternen zu!“ Was die Sterne davon hielten, ist nicht überliefert. Unterhalb des Gipfels war man äußerst zögerlich. Die Resonanz war bei weitem nicht so überwältigend, wie es die Futuristen später dargestellt haben. In Mailand klebten sie einen Meter breite und drei Meter lange Plakate, die in brennend roten Buchstaben verkündeten, dass der Dichter F.T. Marinetti den Futurismus ins Leben gerufen habe. Doch der große Zulauf ließ auf sich warten. Der Futurismus blieb zunächst auf den kleinen Literatenkreis um die Zeitschrift Poesia beschränkt. Marinetti wurde als „Koffein Europas“, „Mr. Pink“ und „Barnum der Literatur“ verspottet. Die Etablierten rümpften die Nase über seine „Zirkusmethoden“ und die „amerikanische Propaganda“, deren er sich bediente.