Debatte: Meinungen aufs Geratewohl

Auch die Bewertung von Tatsachen ist keineswegs nur Geschmackssache. Über Verständigungsprobleme nicht nur im Journalismus, Hürden der Aufklärung (Teil 4 und Schluss).

Sind die Fakten zu einem Thema geklärt und anerkannt, liegen die nächsten großen Verständigungshürden in deren Bewertung. Der Sinn jeder Diskussion kann nur sein, die eigenen Bewertungen anhand der von anderen vorgetragenen zu überprüfen – und daraufzusetzen, dass alle Beteiligten so verfahren.

Das setzt voraus, die eigene Position nicht für 100 Prozent perfekt zu halten. Selbst wenn man sehr von ihr überzeugt ist, es sich z.B. um eine moralische Grundhaltung handelt, muss die Option bestehen, andere könnten mit ihrer Beurteilung der Situation besser liegen.

Die im demokratischen Prozess so oft betonte Kompromissbereitschaft ist etwas anderes: Denn dabei nähern sich die Meinungen gerade nicht an, ihre Protagonisten sind nur bereit, auf die ungestutzte Umsetzung in politisches Handeln zu verzichten. Davor allerdings steht der Meinungsstreit, das Ringen um die richtige Bewertung.

Hauptproblem Nummer eins dabei: das Messen gleicher Dinge mit unterschiedlichen Maßstäben bzw. genauer, um im Tatsachenbild zu bleiben, das unterschiedliche Beurteilen gleicher Messergebnisse ohne für alle Beteiligte akzeptable Begründung.

Die Wertung "Preprint" in Corona-Debatten

Nehmen wir aus den Corona-Debatten beispielsweise die unterschiedliche Bedeutungszumessung wissenschaftlicher Erkenntnisse als "Preprint", also eine Veröffentlichung, die noch von keiner Fachzeitschrift einer Begutachtung unterzogen und aufgrund der positiven Prüfung (oft erst nach Verbesserungen) zur Publikation angenommen worden ist.

Wenn es sich um einen Preprint-Aufsatz handelte, wurde dies stets von denen betont, die an den Ergebnissen oder deren Bewertungen Zweifel hatten (gelegentlich Autoren eingeschlossen).

Die Bedeutungsabstufung erfolgte jedenfalls nicht konsistent, zumal in allen anderen Fällen völlig auf ein solches Prüfverfahren verzichtet wird: Etwa wenn Wissenschaftler Bücher veröffentlichen oder wenn sie als Experten von Medien befragt werden, Interviews geben oder in Talkshows diskutieren.

Was von dem so Geäußerten nicht ein alter Hut (und damit auch von jedem anderen vortragbar) war, müsste mit dem "Preprint-Label" versehen werden: Achtung, die Aussagen sind noch nicht von anderen Fachleuten überprüft worden.

Die Wertung "Sexismus"

Die Wertung "Sexismus" ist permanent Ergebnis unterschiedlicher Bewertungen gleicher Tatsachen, so dass es ihn in der öffentlichen Debatte praktisch nur von Männern ausgehend gibt. Dabei ist zunächst jede Äußerung über die (mutmaßliche) Ausprägung primärer oder sekundärer Geschlechtsmerkmale vergleichbar und daher entweder gleichermaßen für verbale Auseinandersetzungen abzulehnen oder zuzulassen.

Und so führen teilweise bei denselben Menschen uralte Witze über Geschlechterklischees zu Empörung (Twitter), die Penis-Bemerkung einer Klimaaktivistin aber zu Jubel (Twitter). Beides wurde mit eben dieser Konnotation auch von den Nachrichtenmedien behandelt.

Spaziergänge werden bei Protesten gegen Waldrodungen für Autobahnbauten unproblematisch als solche bezeichnet, bei Protesten gegen die Pandemie-Politik jedoch apostrophiert und problematisiert. (Dass der Protestform "Spaziergang" oft Demonstrationsverbote, versagte Anmeldebestätigungen oder einschränkende Auflagen zugrunde liegen und sie deshalb gewählt wird, gehört zu den Tatsachen, die vor einer Kommentierung zur Kenntnis zu nehmen wären.)

Bewertung von Gewalttaten bei Demonstrationen

Die Bewertung von Gewalttaten bei Demonstrationen hängen stark von den politisch bekundeten Zielen ab, ebenso wie die Beurteilung sonstiger Gewalttaten regelmäßig von den Tätern abhängt (siehe derzeit die Polarisierung bei Debatten um die jüngsten "Silvesterkrawalle").

Die Veröffentlichung einer Rechercheanfrage wurde bei Christian Drosten bejubelt (weil sie von der Bild-Zeitung kam?), bei Fynn Kliemann gescholten (obwohl er die Fragen öffentlich beantwortet hat).

Die Ausübung des "Hausrechts" auf Social-Media-Plattformen können ein und dieselben Personen in einem Fall grundsätzlich richtig finden (nach dem Motto: Seit wann ist ein privates Unternehmen verpflichtet...?), in einem anderen Fall als Angriff auf nicht weniger als die Demokratie sehen (zuletzt etwa in großem Stil, als Twitter am 15. Dezember 2022 acht Journalisten-Accounts vorrübergehend sperrte). Solch selektive Wahrnehmung von Tatsachen bei der Bewertung erschwert die Erörterung erheblich.

Oder: Welche Beschränkungen der eigenen Autonomie oder welche verbale Ansprache ist "Gewalt"? (Ausführlich zum Verständigungsproblem durch unterschiedliche "Gewalt-Wertungen" Strafrechtler Thomas Fischer).

Es geht nicht darum, in der Betrachtung alles gleich zu machen, sondern Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu bewerten. Ob einem das Ergebnis dann gefällt oder nicht, steht auf einem anderen Blatt. Wer bei der Bewertung von zwei Tatsachen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommt, muss daher – intersubjektiv nachprüfbar – verschiedene Tatsachen vorliegen haben.

Tötung

Die ganze Bandbreite von Bewertungen finden wir beispielsweise bei der Tötung von Menschen. Sie reicht von unbedingt verachtenswert (Todesstrafe) und unbedingt zu verhindern (Selbsttötung) über einen "wir schauen mal lieber nicht so genau hin"-Bereich (Exekution von als Krieger gelabelte mutmaßlichen Terroristen) bis hin zu unbedingt notwendig (Waffenlieferungen aus Nächstenliebe).