Der Mehrwert ist überhaupt kein Rätsel

Seite 2: a) Arbeitsmehrwertlehre ist unvollständig

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Es ist bekannt, dass auf dem Kunstmarkt Werke gehandelt und bei Auktionen Preise erzielt werden, welche diejenigen aller Produkte handwerklicher Erzeugnis um ganze Größenordnungen überschreitet. Wäre es also wahr, wie die Marxisten sagen, dass der Wert einer Ware sich durch die darin eingebrachte Arbeit bestimmt, dann dürften doch handwerkliche Tätigkeiten kaum schlechter entlohnt werden als künstlerische. Aus der Patsche helfen letztlich nur zwei Auswege. Die Kalkulationen auf dem Kunstmarkt zu einem abgeleiteten Sonderfall zu erklären, was ich beiläufig tat. Oder umgekehrt auf die vollkommene Gleichartigkeit beider Märkte und insofern dem festgestellten Widerspruch zu beharren:

Den Kunstmarkt zum Sonderfall zu erklären, macht es zu einfach. Wenn die Theorie von Angebot-und-Nachfrage die Preise zufriedenstellend erklärt, sowohl auf den Kunst- als auch auf sonstigen Märkten, dann ist diese Theorie offensichtlich mächtiger als die vom Mehrwert.

Forist "Nützy"

Ein paar Nachfragen:

(1) Wieso sollte eine Theorie ganz prinzipiell keine Sonderfälle enthalten dürfen, die sie separat von der Haupttheorie erklärt, bzw. unscheinbar aus letzterer nachträglich ableitet? Es kommt halt ganz drauf an, wie sie dies rechtfertigt. Und diese Rechtfertigung muss man dann auch noch inhaltlich genau kennen, um die darin vorgebrachten Fehler sorgsam herauszuarbeiten. Sonst hat man doch außer dem eigenen Vorteil überhaupt keine Entscheidungsgrundlage für eine sachgemäße Beurteilung und Zurückweisung einer vorgebrachten Theorie. Welche Fehler wären das?

(2) Woher kommt die Gewissheit, dass Marx bei seinen Erläuterungen auf das Konzept von Angebot und Nachfrage gänzlich verzichtet hat?1 Dies tat er keineswegs:

Es gib [...] Beispiele von Angebot und Nachfrage [...], denen auch ein Marxist zustimmen würde. Vieles von dem, was am Finanzmarkt geschieht, basiert auf Angebot und Nachfrage. Insbesondere Bodenspekulation ist so ein Ding, denn mein Boden hat natürlich keinen direkten Wert im Sinne des Wertgesetzes Was mein Boden wert ist, hängt von der zahlungsfähigen Nachfrage ab. Diese Nachfrage wiederum hängt vor allen Dingen davon ab, was der Bauherr meint, für Mieten aus seinem Haus später herauspressen zu können. Und diese Mieten hängen damit zusammen, wie viel in der Region wirtschaftlich läuft. Jeder kennt das doch, dass ein Haus auf dem Land billiger zu haben ist als in der Stadt. Das kommt eben daher, dass hier der Boden billiger ist.

Forist "Gegenstandpunktleser"

Hieraus sollte klar werden: Marxisten erklären den Bodenpreis, ohne mit der Wimper zu zucken, durchaus mit Angebot und Nachfrage. Es handelt sich hier insofern um einen Sonderfall der Warenwelt, als dass der Boden gar kein Produkt von Arbeit ist, diese also nicht wertsteigernd auf ihn eingewirkt hat. Was beim Boden bezahlt wird, ist im Grunde nichts anderes als eine Nutzungslizenz, ein Rechtstitel. Natürlich kann der Boden zwar Arbeit in sich aufsaugen und ihn dadurch aufwerten, z.B. indem er vor Verkauf bearbeitet wird. Doch diese zusätzlich am oder auf dem Boden vollzogene Warenproduktion/Dienstleistung (z.B. Bodenreinigung, Hausabriss, Hausbau, Pflasterung, Landschaftspflege, Verlegung von Kommunikations- und Sanitätsinfrastruktur etc.), die oft mit dem Boden im Verbund verkauft wird, trägt nicht zum Bodenpreis bei. Sie ist als vom Boden getrennte, zweite Ware anzusehen, die ihren eigenen Wert hat. Beim Wechseln des Eigentümers werden beide Bestandteile, Boden + vorausgegangene Bearbeitung, jedoch oft im Verbund verkauft und können auf diese Weise die Illusion nähren, dass es sich um eine einzige Gesamtware handelt, deren Preis sich eben auch nur in einer einzigen Zahl äußert. Man sollte nicht den Fehler machen, sie miteinander zu verwechseln und zu vermengen. Beide Preisanteile haben ihre jeweils eigenen, voneinander getrennt zu erklärenden Bewegungsgesetze.

Der Sonderfall, den der Bodenpreis darstellt, ist jedoch inhaltlich nicht völlig losgetrennt vom Arbeitswert. "Gegenstandpunktleser" hat den Zusammenhang bereits angedeutet. Der Verkäufer des Bodens sucht unter den politisch vorgeschriebenen Nutzungsarten (Wohnen, Gewerbe, Industrie etc.) einen möglichst hohen Preis zu erzielen. Die Käufer zahlen ihn in der Regel entweder aus ihrem Lohn oder aus den Einnahmen einer Geschäftstätigkeit. Sowohl der Lohn als auch der geschäftliche Ertrag, mit deren Höhe die potentiellen Käufer um das Grundstück konkurrieren, werden ihrerseits sehr eindeutig durch den Marxschen Arbeitswert erklärt. Insofern spielt er in die Erklärung des Bodenpreises letztlich doch hinein und dann sogar maßgeblich, was sich zu Beginn - als "Sonderfall" - überhaupt gar nicht so darstellte. Auf das Beispiel Detroit, an dem sich diese Effekte sehr schön bebildern lassen, werden wir noch in Teil 5 der Artikelserie zu sprechen kommen.

Wenn "Nützy" von seinen Gegnern eine Theorie ohne Sonderfälle einfordert, d.h. eine Theorie aller Preise, die jeden Preis nach derselben Weise erklären können muss, dann kann er sich gern selbst dran versuchen und uns die Früchte seiner Überlegungen zur Prüfung vorlegen. Allein mit Angebot und Nachfrage lassen sich die Preisbewegungen auf dem Super-, Kunst-, Militär-, Finanz-, Boden- und Schwarzmarkt (z.B. Hehlerware, Kokain) nicht erklären.

Erst wenn man vor sich selbst zugibt, dass all die obigen Szenarien gewichtige Unterschiede zueinander aufweisen, z.B. unterschiedliche Typen von Akteuren unterwegs sind (z.B. Supermarkt: Lohnarbeiter; Kunstmarkt: Reiche; Militärmarkt: Staaten), kann man erkennen, dass die Auslagerung von Sonderfälle aus einer gegebenen Theorie nicht nur möglich, sondern gegebenenfalls sogar inhaltlich geboten ist. Es wäre geradezu theoretisch fahrlässig, sie nicht als erklärungsbedürftige Sonderfälle anzuerkennen, sondern per fehlerhafter Verallgemeinerung in ein gemeinsames Schema pressen zu wollen, dem sie unmöglich alle gleichermaßen gerecht werden können.

Bitte nicht missverstehen. Umgekehrt taugt es sicherlich nichts, jede einzelne Ware als Sonderfall für sich zu proklamieren. Dem widerspricht der empirische Fakt, dass einzelne Akteure sich darin über verschiedene Warengruppen hinweg - z.B. als Mischkonzern - sehr zielstrebig zum eigenen Vorteil bewegen, also ganz genau wissen, was sie tun, weil das, was sie tun, eine systemische Grundlage hat.

Sollte "Nützy" es tatsächlich schaffen, in seinem noch vorzulegenden Ansatz eine alternative Ursachen der Preisbewegung zu finden, müsste er im Anschluss, damit das Ganze nicht bloß eine Behauptung bleibt, noch einiges erklären, was Marx für seine Theorie bereits geleistet hat:

• Wie übersetzen sich die involvierten Bestimmungsgrößen - Plural, falls es mehrere sind - quantitativ in den jeweiligen Preisanteil? • Wie sind die Bewegungsgesetze des Preises als Reaktion auf die Änderung der involvierten Bestimmungsgrößen? Will sagen, wodurch erklären sich die offensichtlich existenten Preisschwankungen? • Wodurch ist das Verhältnis der verschiedenen Preisanteile zueinander geregelt? • Was ist das Bewegungsspektrum der Bestimmungsgrößen des Preises, sozusagen ihre Randfälle (sofern vorhanden) und in welchen Preisober- und Untergrenzen äußert sich dies?

"Nützy" erläutert seinen Vorwurf an anderer Stelle:

Diese Argumentation ist nicht nur unlogisch, sie widerspricht auch dem Vorgehen in den Wissenschaften wie z. B. der Physik. Wenn ich eine Theorie aufstelle, deren Anspruch es ist, allgemeingültig, universell, zu sein, dann muss sie selbstverständlich auch in Extremszenarien gültig sein und wenn sie das nicht ist, dann beweist das, dass sie nicht allgemeingültig ist.

Forist "Nützy"

Methodologisches: Was machen Wissenschaftler, wenn sie in ihren Theorien ein unliebsames Gegenbeispiel finden? Werfen sie die gesamte Theorie einfach so über Bord? Nun, das kommt ganz auf das Gegenbeispiel an. In der Regel agieren sie weniger überhastet, und versuchen zunächst zu ergründen, was die Besonderheit des Gegenbeispiels ausmacht, wie es sich zu den bisher gültigen Beispielen verhält, wie groß die Menge der Gegenbeispiele ist, ob und wie die Theorie geringfügig angepasst werden könnte, um die Gegenbeispiele doch noch sachgemäß einzugemeinden usw. Das ist die reale Praxis der Wissenschaft. Das macht man sogar in der Mathematik nicht anders, die in ihrer Theoriebildung ansonsten unter allen Disziplinen am aller strengsten das Gebot des Gegenbeispiels beachtet. Lakatos spricht in solchen Fällen, wo das Kind gleich mit dem Bade ausgeschüttet zu werden droht, ganz zurecht von "naivem Falsifikationismus".2