Deutsche Kriegstüchtigkeit: Was vor 75 Jahren nicht im Grundgesetz stand

Dunkle Wolken des Militarismus zogen für das Grundgesetz schon in den 1950er-Jahren auf. Für die Wiederbewaffnung wurde es geändert. Symbolbild: G. Czekalla / CC BY 3.0

Die Wiederbewaffnung war von Repression gegen Andersdenkende begleitet. Statt zu feiern, sollte die Realität kritisch geprüft werden. Ein Kommentar.

Vor rund 20 Jahren gab es große Proteste, als die Bundeswehr mit öffentlichen Gelöbnisfeiern den Wiederaufstieg des deutschen Militarismus zelebrierte. Der hatte nach 1990 in der vergrößerten Bundesrepublik einen mächtigen Sprung gemacht.

Ortswahl für Bundeswehr-Rituale: Ein Politikum

Zeitweise verzog sich die Bundeswehr mit ihren Zeremonien auf das Gelände des Bendlerblocks, wo schon seit mehreren Generationen jene Behörde residiert, die schönfärberisch Verteidigungsministerium genannt wird – und doch viel öfter ein Kriegsministerium war.

So könnte es auch nach der "Zeitenwende" wieder genannt werden. Schließlich spricht der Amtsinhaber davon, dass Deutschland wieder kriegstüchtig werden muss. "Kanonen statt Butter" ist zumindest sinngemäß längst wieder zur politischen Maxime geworden.

Reklame für Wehrpflicht und Kriegstüchtigkeit

Zudem wird über die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht diskutiert. Deutschland soll erklärtermaßen "kriegstüchtig" werden, wie es der zuständige Bundesminister Boris Pistorius (SPD) nennt.

Da ist es nur konsequent, dass die Bundeswehr gerade wieder ein Gelöbnis außerhalb des Bendlerblocks abhielt, direkt vor dem Berliner Abgeordnetenhaus. Nur wenige Meter entfernt kann man sich in der "Topographie des Terrors" über die Verbrechen des letzten deutschen Versuchs informieren, zur Weltmacht zu werden.

Kitschige Polit-Phrasen über Sicherheit, Freiheit und Frieden

Es wird zwar noch daran erinnert, aber immer mit dem Hintergedanken: Beim nächsten Versuch haben wir die richtigen Bündnispartner dabei. Weil nun die Menschen nicht so gerne für Volk und Vaterland in den Tod ziehen, wenn die nackten Kapitalinteressen benannt werden, braucht man auch etwas für das Gemüt.

Dafür dient das ganze Zeremoniell der Feier des Grundgesetzes, das nun 75 Jahre alt wird. Dazu wird dann ein Polit-Kitsch verbraten, der sich so liest:

Wir feiern 75 Jahre Grundgesetz und die damit verbundenen Kernelemente Sicherheit, Freiheit, Frieden und Demokratie. Unsere freiheitlich demokratische Grundordnung und die Bundeswehr sind inhaltlich eng miteinander verknüpft. Mit dem Gelöbnis wollen wir deutlich sichtbar unterstreichen, dass die Bundeswehr als Parlamentsarmee in die Mitte der Gesellschaft gehört. Dies gilt vor allem in Zeiten, in denen sie sicherheitspolitisch wieder eine größere Rolle spielt.

Die Präsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses, Cornelia Seibeld (CDU)

Die Wiederbewaffnung war im Grundgesetz nicht vorgesehen

Interessant ist, was bei soviel inhaltsleerem Wortgeklingel vergessen wird: In der ursprünglichen Fassung des Grundgesetzes war eine Wiederbewaffnung nicht vorgesehen – und viele hätten sie sich 1949 auch nicht vorstellen können.

Das war eine Konsequenz der beiden von Deutschland ausgegangenen verbrecherischen Weltkriege. Eine dritte Gelegenheit wollten damals auch die anderen kapitalistischen Mächte Deutschland nicht geben. Doch als die BRD im Kalten Krieg zum Vorposten des Kampfes gegen die vermeintlich kommunistische Gefahr wurde, war das alles schnell vergessen.

Für die Wiederbewaffnung Deutschlands 1956 musste das Grundgesetz geändert werden – und sie wurde gegen eine große Opposition durchgesetzt. Das hatten Hunderttausende, die in den 1950er-Jahren aus sehr unterschiedlichen Gründen in der BRD gegen die Remilitarisierung auf die Straße gingen, durchaus erkannt.

Der erste Tote der Wiederbewaffnung: Ein junger Demonstrant

Gegen sie wurde ein Großaufgebot der Polizei eingesetzt. Der erste von der Polizei nach 1945 in der BRD erschossene Demonstrant war der gerade 21-jährige Philipp Müller, den die Kugeln der Ordnungshüter trafen, als er 1952 gegen die Wiederbewaffnung protestierte.

In den 1950er-Jahren gab es eine erste massive Repressionswelle gegen linke Kritiker. Dazu zählt auch das Verbot der KPD und zahlreicher linker Organisationen, die Verfolgung linker Gewerkschafter sowie tatsächlicher oder vermeintlicher Kommunisten und Sozialisten in der BRD.

Altnazis gegen Kommunisten: Alte Rollenverteilung im neuen Staat

Dies waren keine Einzelfälle, die Repressalien hatten System. So schnell wie die ehemaligen Nazis und ihre Förderer wieder in den alten Machtpositionen in der BRD saßen, so schnell wurden die wenigen aktiven Antifaschisten, die Widerstand gegen den NS-Staat geleistet hatten, wieder inhaftiert.

Mit dem Vorwurf, die Arbeit der verbotenen KPD fortzusetzen, hatte man immer eine gute Handhabe, um gegen Oppositionelle vorzugehen. Und die wurde reichlich genutzt. Nach dem KPD-Verbot wurden viele verfolgt und inhaftiert, waren es die NS-Widerstandskämpfer, die mitansehen mussten, wie ihre Gegner von einst, die Nazis wieder in hohen Positionen saßen.

Von dieser realen Praxis der Verfolgung müsste heute die Rede sein, statt das Ideal eines Grundgesetzes zu beschwören, das mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat.

Von der DDR-Opposition lernen

Im Vergleich zwischen Anspruch und Wirklichkeit könnten wir durchaus von den linken DDR-Oppositionellen nennen, die Ilko Sascha Kowalczuk in der taz beschreibt. Sie machten die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der DDR-Verfassung immer wieder zum Thema.

"In der DDR berief ich mich oft auf die Verfassung, um meine Kritik am SED-Staat mit dessen eigenen Papieren zu untermauern", schrieb Kowalczuk. Berechtigterweise kritisiert er auch, dass nach 1989 keine neue Verfassung geschrieben, sondern das westdeutsche Grundgesetz einfach übergestülpt wurde.

Unverständlicherweise schwadroniert Kowalczuk aber im Anschluss von den "Freiheitsfeinden von links und rechts" und merkt gar nicht, dass er damit in eine autoritäre Staatsschutzsprache verfällt.

Der Feind steht links – und im nato-kritischen Flügel der AfD

Es ist diese Feinderklärung, die auch das Grundgesetz seit 75 Jahren begleitet. Dabei wird aber schnell klar, dass der Feind links steht und die Rechten nur dann die Staatsgewalt zu spüren bekamen, wenn sie zu offen gegen die Staatsräson verstoßen. Das bekommt jetzt der nato-kritische Teil der AfD zu spüren.

Doch die Opfer der üblichen Auslegung Grundgesetzes waren größtenteils Linke, erst tatsächliche oder vermeintliche Mitglieder und Sympathisanten der KPD, aber auch unabhängige Sozialisten wie der Gewerkschaftler Viktor Agartz, der durch eine Verfassungsschutzaktion kaltgestellt wurde.

FDGO als Waffe gegen Linke

Ab Mitte der 1960er-Jahre bekam dann auch die Neue Linke, die sich klar vom autoritären Nominalsozialismus osteuropäischer Prägung distanzierte, die Schärfe des Rechtsstaats zu spüren.

Heute ist weitgehend vergessen, wie in den 1970er- und 1980er-Jahren das Kürzel "FDGO" zum Schrecken für eine kritische Generation wurde. "Stehen sie auf den Boden der Freiheitlich-demokratischen Grundordnung?" Diese Frage konnte über die beruflichen Perspektiven hunderttausender Menschen entscheiden.

Die Regelanfrage beim Verfassungsschutz führte schnell zu Berufsverboten, die es aber offiziell in der BRD nicht geben dürfte. Das konnte bedeuten, dass jemand schon deshalb nicht Lehrerin werden durfte, weil er oder sie in einen Artikel oder einer Rede das Wort "Berufsverbot" verwendet hatte.

Man brauchte nicht in einer inkriminierten linken Partei wie der DKP zu sein, um nicht Lehrer, nicht Postbeamter oder Briefträger werden zu können. Es reichte schon, in einer Organisation mitzuarbeiten, in der auch Kommunisten aktiv waren. Das Klima der Verdächtigung und der Denunziation hat der linksliberale Schriftsteller Heinrich Böll in seiner Erzählung "Du fährst zu oft nach Heidelberg" gut beschrieben.

Tod eines Arbeiters durch Polizeigewalt vor 50 Jahren

Doch es blieb nicht nur bei Berufsverboten. Es gab auch Tote unter den Linken. Am 5. Juni jährt sich zum 50. Mal der Tod des Arbeiters Günther Routhier. Der mit einer maoistischen Kleinstpartei sympathisierende Frührentner besuchte 1974 mit seinem Sohn einen Arbeitsgerichtsprozess.

Als der Saal von der Polizei geräumt wurde, gab es viele Verletzte. Routhier wurde von einem Polizisten so heftig geschlagen, dass er starb. Sein Sohn versuchte vergeblich, die Polizisten auf die Vorerkrankung seines Vaters aufmerksam zu machen.

Nach Routhiers Tod gab es bis in die 1980er-Jahre hinein zahlreiche Prozesse gegen Menschen, die Mordvorwürfe gegen die Polizei erhoben hatten. Einige Verurteilte mussten deswegen ins Gefängnis. Heute ist Routhier weitgehend vergessen. Es wäre doch eine gute Gelegenheit, zu seinem Todestag an 75 Jahre Repression gegen Linke zu erinnern.

Es ist einer historischen Amnesie geschuldet, dass heute mit großem Brimborium 75 Jahre Grundgesetz gefeiert werden und selbst Linksliberale nur dazu aufriefen, es zu verteidigen. Das zeigt, wie sehr eine staatskritische Linke heute fehlt.

Bundeswehr-Gelöbnis nicht völlig ungestört

Allerdings haben Adbuster auf Plakaten ein Stück Realität sichtbar gemacht und dafür gesorgt, dass besagte Bundeswehr-Gelöbnis nicht ganz ungestört von Protest über die Bühne gehen konnte. In dem Satz "Ausbeutung gewaltsam verteidigen" kommt die Realität hinter den Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes gut zum Ausdruck.

Zum Schluss stellt sich die Frage: Hat das Grundgesetz in der Realität gar keinen Wert? Das kann mit einer Passage aus Franz Josef Degenhardt "Befragung eines Kriegsdienstverweigerers" beantwortet werden:

"Also, sie berufen sich hier pausenlos aufs Grundgesetz. Sagen sie mal, sind Sie eigentlich Kommunist?"