Die Finnlandisierung der Ukraine: Scholz' stiller Kurswechsel
Olaf Scholz erwägt eine "Finnlandisierung" der Ukraine. Doch kann Neutralität jetzt noch Frieden bringen? Ein Gastbeitrag.
Diese Woche meldete Politico, dass der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz vor seinem Treffen mit Nato-Generalsekretär Mark Rutte in Berlin informell gegen die Aussichten der Ukraine auf eine Nato-Mitgliedschaft Stellung bezogen habe.
Das Modell der "Finlandisierung" in der Diskussion
Stattdessen schlug er eine "Finnlandisierung" vor – einen neutralen Status, wie ihn Finnland während des Kalten Krieges und in den folgenden drei Jahrzehnten zwischen der Nato und Russland aufrechterhielt.
Dem Bericht zufolge wurde sein Vorschlag in Berlin diskutiert, als über die Einrichtung einer "Kontaktgruppe" mit China, Indien und Brasilien gesprochen wurde, um ein verhandeltes Ende des Krieges in der Ukraine anzustreben.
Diese Idee wurde während des Treffens mit Rutte nicht angesprochen, da sie noch keine gefestigte Position der deutschen Regierung darstellt – einer schwerfälligen Koalition aus Scholz’ kriegsmüden Sozialdemokraten, den leidenschaftlich pro-ukrainischen Grünen und den finanzpolitisch strengen Liberalen der FDP.
Die Tatsache, dass die Option der "Finnlandisierung" überhaupt diskutiert wird, zeigt jedoch, wie sehr sich die Debatte in Europa von dem Mantra "Was auch immer nötig ist, um die Ukraine zu besiegen" zu einer nüchternen Einschätzung der Realitäten vor Ort verschoben hat: Selbst der Economist, der die Ukraine von Anfang an unterstützt hat, räumt inzwischen ein, dass es für die Ukraine nicht um den Sieg, sondern um das Überleben als unabhängiger Staat geht.
Für die Ukraine würde "Finnlandisierung" bedeuten, dass sie ihre Nato-Mitgliedschaftsbestrebungen aufgeben müsste, was Moskau als eine so unerträgliche Bedrohung seiner nationalen Sicherheit ansah, dass es sich gezwungen sah, in die Ukraine einzumarschieren, um dies zu verhindern.
Zum ersten Mal negativ konnotiert wurde das Konzept in den Debatten um die Nato-Mitgliedschaft der baltischen Staaten in den 1990er Jahren.
Erfolgreiche Beispiele
Damals wurde es von den Befürwortern sowohl in den USA als auch in den baltischen Staaten als künstliche Schaffung von Einflusszonen in Europa wahrgenommen. Die baltischen Staaten befürchteten, dass sie außerhalb der Nato in den Einflussbereich Russlands gedrängt würden, wenn nicht sogar Schlimmeres.
Die baltischen Staaten sind der Nato natürlich unter der Regierung von George W. Bush beigetreten, und es gibt keinen Grund, die Debatten, die zu dieser Entscheidung geführt haben, jetzt wieder aufzurollen.
Aber es war schon immer merkwürdig, die "Finnlandisierung" als Schreckgespenst zu benutzen, wenn man bedenkt, dass Finnland es geschafft hat, eine widerstandsfähige Demokratie und eine erstklassige, innovative Wirtschaft aufzubauen und gleichzeitig neutral zu bleiben.
Heute scheint selbst Finnland dieses bemerkenswert erfolgreiche Erbe abzulehnen; sein Botschafter in Berlin wies die Idee zurück, weil "es nicht in unserem Interesse liegt, künstliche Einflusssphären zu schaffen" und "wir verpflichtet sind, die freie Entscheidung der Ukraine und ihre territoriale Integrität zu respektieren".
Finnland und Schweden traten der Nato nach der russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 bei, obwohl der Boden für einen solchen Schritt bereits seit Jahrzehnten von atlantischen Falken in beiden Ländern bereitet worden war, darunter Alexander Stubb, der derzeitige Präsident Finnlands, und Carl Bildt, ein ehemaliger Premierminister und Außenminister Schwedens.
Es gibt jedoch auch Beispiele für erfolgreiche neutrale Staaten in Europa, wie etwa Österreich, wo derzeit keine der großen politischen Parteien einen Nato-Beitritt befürwortet. Dies unterstreicht den begrenzten Nutzen, Diskussionen über Sicherheit und Stabilität in Osteuropa ausschließlich in der Dichotomie Nato/Russland zu führen.
Stimmungswandel in Deutschland
Die Tatsache, dass Berlin bereit zu sein scheint, über diese künstliche Dichotomie hinauszublicken und sich für die Idee einer dauerhaften Neutralität der Ukraine zu erwärmen, spiegelt den Stimmungswandel in Deutschland wider.
Bundeskanzler Scholz äußert seit einigen Monaten Ideen, die bis vor kurzem als Tabu galten, wie etwa direkte Gespräche mit Russland bei einem nächsten Friedensgipfel zur Ukraine. Der Aufstieg der rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) und dem linkspopulistischen Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) bei einer Reihe von Kommunalwahlen auf Kosten der Regierungsparteien erklärt sich zum Teil aus deren Widerstand gegen einen weiteren Krieg in der Ukraine.
Im Juni 2024 boykottierten AfD und BSW eine Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Bundestag wegen seiner "kompromisslosen Ansichten", obwohl Wagenknecht Putins Invasion verurteilte.
Von den beiden Parteien ist insbesondere das BSW bereit, von ihrer Antikriegshaltung politisch zu profitieren. Die AfD unterliegt als rechtsextreme Partei einer "cordon sanitaire", d.h. keine andere Partei ist bereit, mit ihr eine Koalition einzugehen, weder auf kommunaler noch auf Landesebene.
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Dies gibt dem BSW zusätzlichen Spielraum für die Aushandlung von Koalitionsverträgen. In Thüringen, einem ostdeutschen Bundesland, hat sie diesen Spielraum bereits genutzt, indem sie die beiden potenziellen Partner, die CDU und die SPD, dazu zwang, Deutschland aufzufordern, sich für eine diplomatische Lösung des Krieges einzusetzen.
Das BSW, das in Umfragen derzeit bei 9 Prozent liegt, überholt die liberale FDP (die die 5-Prozent-Hürde nicht überspringen würde, wenn heute Wahlen wären), liegt gleichauf mit den schwächelnden Grünen (um die 10 Prozent) und erweist sich als tragfähige Alternative für eine Koalitionsbildung sowohl mit der CDU als auch mit der SPD.
Am 6. November entließ Bundeskanzler Scholz Finanzminister Christian Lindner (FDP), weil dieser im Haushaltsstreit vorgezogene Neuwahlen gefordert hatte. Bei den anstehenden Neuwahlen dürften sowohl BSW als auch AfD angesichts der jüngsten Landtagswahlergebnisse gute Ergebnisse erzielen. Das BSW wird mit ziemlicher Sicherheit seine Friedenshaltung in möglichen Verhandlungen ausspielen.
Möglicherweise ist es bereits zu spät
Das Problem ist, dass selbst wenn die "Finnlandisierung" der Ukraine zur offiziellen Linie einer hypothetischen neuen deutschen Regierung wird, es einfach zu spät sein könnte, sie als Anreiz für Russland zu nutzen, den Krieg zu beenden.
Es war eine realistische Option im gescheiterten Friedensabkommen, das im April 2022 in Istanbul ausgehandelt wurde, aber es scheiterte an den überzogenen Forderungen Russlands und den Versprechungen des Westens, die Unterstützung für die Ukraine auf dem Schlachtfeld zu eskalieren.
Der russische Präsident Wladimir Putin, der spürt, dass sich die Stimmung zu seinen Gunsten gedreht hat, könnte versucht sein, größere Vorteile zu erzielen, bevor er sich auf ernsthafte Verhandlungen einlässt.
Russische Hardliner wie der ehemalige Präsident und jetzige Vizepräsident des Sicherheitsrates, Dmitri Medwedew, drängen weiter nach Westen und sprechen von der Zerstörung des ukrainischen Staates als Kriegsziel.
Tragischerweise könnte die "Finnlandisierung", selbst wenn die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer wie Deutschland ihr zustimmen würden, nicht mehr ausreichen, um den Krieg zu beenden.
Eldar Mamedov ist ein in Brüssel ansässiger Experte für Außenpolitik.
Dieser Text erschien zuerst bei unserem Partnerportal Responsible Statecraft auf Englisch.