Die globale Massage oder das Geheimnis der Lady Di
Alles, was Sie schon immer über Meme, Aufmerksamkeit, Medien, kollektive Hysterie und das Magma der Informationsgesellschaft wissen wollten.
Am Dienstag, dem 16.12.97, wurden Hunderte von japanischen Kindern und Jugendlichen wegen tranceartigen Zuständen, Krampfanfällen und Schwindelzuständen in Krankenhäuser eingeliefert. Alle hatten im Fernsehen einen Comic angeschaut, der auf Figuren eines Spiels von Nintend basiert. Ursache waren vermutlich stroboskopartige Lichtblitze, die bei manchen Menschen vorübergehende epileptische Anfälle auslösen können und offenbar während einer Dauer von fünf Sekunden in der "richtigen" Frequenz von den Augen einer Figur ausgingen. Optische Stimulationen haben die Gehirne massiert und starke Reaktionen bei vielen Menschen ausgelöst. Aber massieren Massenmedien, zu denen auch das Internet gehört, die Menschen nicht vielleicht dauernd, ohne daß die Wirkungen direkt zu merken sind?
Das größte, globale oder zumindest weltweit intramediale Ereignis des letzten Jahres, das noch immer widerhallt - und dies gerade am Ende des Jahres -, war sicherlich neben dem ersten geklonten Schaf, dem Kometen Hale-Bopp und dem Massenselbstmord der Sekte Heaven's Gate, Pathfinder, dem Angriff auf Microsoft und den Auswirkungen der Globalisierung mit den taumelnden Börsen der Tod der Märchenprinzessin Di, einer Heldin der Medien und der Schaulust, ein Objekt der individuellen und kollektiven Aufmerksamkeit, eine Trägerin von gemeinschaftsstiftenden Emotionen, deren Wellen der Erregung über die Medien wie ein Mem sich verbreiteten und viele ansteckten, aber zugleich eine Woge der Entrüstung gegenüber den Medien erzeugte.
Im Bewußtsein der Kritik und der Skepsis gegenüber dem Medium von einem medialen Virus angesteckt zu werden, ist offenbar die wirkungsvollste Ausbreitungsmöglichkeit einer mentalen Seuche. Vermeintlich in Sicherheit durch das funktionsfähige Immunsystem dringt das Mem wie ein Trojanisches Pferd unter einer Maske ein und besetzt das wichtigste "Organ" der Informationsgesellschaft: die Aufmerksamkeit. Dann kann die Selektion walten, Varianten erzeugen und aussieben, experimentieren, welche Mutation sich durchsetzt. Es kommt zu einer Klimax, der kollektive Körper schüttelt sich in Fieberträumen, findet Möglichkeiten, mit dem Parasiten zu leben, wird wieder gesund. Heutzutage gehen, dank der lichtgeschwinden Verbreitung, auch die Infektionen schnell wieder vorbei. Doch der Virus ist nicht tot: er wartet nur auf den nächsten Auftritt, um eine neue Epidemie zu entfachen. Oder warten wir schon auf den nächsten Anfall, der uns mitreißen wird, weil wir die Leere spüren, die ein solches kollektives Ereignis hinterläßt?
Warum noch einmal auf diesen Tod zu sprechen zu kommen? Ganz einfach: Er war nicht nur ein Ereignis der Massenmedien, sondern auch eines des Internet, also der Online-Welt, die es offenbar ebenso transportiert und verstärkt hat. Wir kamen auf den Gedanken, uns einmal die "Hitliste" der am meisten gelesenen Beiträge in Telepolis anzuschauen, wahrhaft kein populäres Magazin, das auf die Massen schielt und alles macht, um deren Aufmerksamkeit einzufangen und so höhere Klickraten zu erzeugen. Noch sind überdies die "digitalen Bürger" oder Netizen keineswegs ein Durchschnitt der Bevölkerung. Nicht viel anderes als in den USA, wie sich jüngst durch eine große WIRED-Umfrage herausgestellt hat, sind auch bei uns die "Vernetzten" noch eine Elite: überdurchschnittlich gebildet, meist etwas jüngeren Alters, ein wenig mehr männlich, wenn nicht Student, dann relativ gut verdienend, eher städtisch oder vorstädtisch: kurz gehobener Mittelstand und nicht unbedingt das Publikum, auf das die Boulevardblätter ausgerichtet sind. Dennoch: die von Armin Medosch und mir verfaßten Beiträge über die wundersame Massage der Seelen angesichts des banalen Unfalltodes einer an sich bedeutungslosen jungen Frau, die nur das Glück hatte, zu einer Prominenten zu werden, also eine Rolle in der medialen Aufmerksamkeitsökonomie zu spielen, erlangten selbst eine für uns überraschende Prominenz - und sie werden weiter gelesen.
Natürlich: die Prinzessin und ihr Tod, die Prominente und die bösen Medien sind nur Anlaß für den Ausbruch einer Stimmung gewesen, die wahrscheinlich irgendwie an der Zeit war, die den Zeitgeist getroffen hat. Prominenz ist wichtig. Sie ist die Voraussetzung für kollektive Phänomene, denn Aufmerksamkeit fällt nur auf das, was bereits Aufmerksamkeit gefunden hat, weswegen sie zutiefst ansteckend ist. Aber die Wirkung ihres Todes war nicht gesteuert, sie trat so plötzlich wie der Tod ein: ein zufälliges Ereignis - eben genau das, was die Medien suchen, permanent inszenieren und nur in Ausnahmen finden.
Doch vor allem handelte es sich nicht um eine wirkliche Katastrophe. Niemand war zum Helfen, zum Aktivwerden aufgefordert, praktisch niemand war persönlich in seinem eigenen Schicksal betroffen. Es gab keine Massen von Menschen, die das Mitleid zerfließen und ungerichtet werden lassen. Und es war kein "Schiffbruch mit Zuschauern", denn das Ereignis blieb verborgen, nur das Ergebnis war zu sehen. Es schleppte sich nicht dahin wie die vielen Massaker und Katastrophen, zu deren Beobachtern wir dank der Medien und ihrer Aufmerksamkeit wurden. Auch die Komplexität war relativ simpel, nicht unendlich verhakt in unübersehbaren Randbedingungen und allzu vielen Akteuren. So plötzlich wie der Aufprall des Unfallwagens mit der Prominenten, so schnell ging es wie bei einem Krimi um das Auffinden des/der Schuldigen. Daß er noch nicht gefunden ist und der überlebende Bodyguard einen Gedächtnisausfall hat, gibt dem Fall erst die Würze und das notwendige Ingredrienz des Geheimnisses. Ohne Geheimnis schließt sich, um mit Luhmann zu sprechen, nicht Kommunikation an Kommunikation an. Selbstverständlich waren alle unschuldig, auch die von der kollektiven Trauer Angesteckten, aber das Gefühl, daß man den/die Bösen prinzipiell identifizieren könnte, ließen diesen Tod faszinierender werden als die vielen anderen Tode, Sexualmorde, Grausamkeiten oder nur das stille Verhungern oder Dahinsiechen von Menschen, die nicht prominent sind.
Die Time versucht in ihrem Rückblick das vergangene Jahr zu fassen, es auf einen Nenner zu bringen: The Year Emotions Ruled Es geht dabei, wie immer, um Aufmerksamkeit, denn das Heft soll verkauft werden. Das größte Medienereignis wird recycelt und neu aufbereitet, es wird zur Grundlage des Zeitgeistes erklärt. Um Aufmerksamkeit zu erregen, muß das Jahr sich unterscheiden von anderen, möglicherweise etwas Neues zeigen, das auf uns zukommt, stärker, also ein Trend wird. Man versucht, nicht in große Differenzierungsleistungen einzutreten, sondern den einmal behaupteten Unterschied auszutreten, indem man nur nach Bestätigungen Ausschau hält und den Unterschied wie eine Luhmannsche Begriffsmaschinerie iteriert. Die Unterschiede sind vor allem amerikanisch, aber was soll's? Die USA dominiert nicht nur wirtschaftlich und machtstrategisch, sondern eben auch technisch und daher kulturell, d.h. im Sinne der Aufmerksamkeit.
"Alle paar Wochen während der letzten 12 Monate ereignete sich etwas, das eine emotionale öffentliche Reaktion der massenhaften Trauer, Panik oder Begeisterung auslöste, die oft ungeheuer disproportional mit der Bedeutung des Ereignisses war. Die meisten dieser Ausbrüche waren nicht von langer Dauer, aber während der Augenblicke ihres Aufloderns waren sie gewaltig und manchmal furchteinflößend."
Und was führt dazu? In einer individualisierten Gesellschaft, die oft genug von einer großen oder auch kleinen neuen Gemeinschaft träumt, vielleicht gar von einer (guten) kollektiven Intelligenz oder einem (vereinenden, kommunitären) globalen Gehirn phantasiert, sind die Menschen isoliert, leben als Individuen mit ihrem eigenen Risiko. Dann kamen die Nachrichten, um die man sich versammelt, dann war die Kollektivität die Nachricht und deren Auslöser natürlich nur Nebensache.
Globalität oder zumindest eine große Kollektivität war plötzlich ein verbindendes Gefühl, daß etwas verloren gegangen ist, was wertvoll und stellvertretend war. Und stellvertretend kann nur Prominenz sein, die von den Medien rastlos gesucht und inszeniert wird. Ohne Prominenz, also Objekte, in denen sich kollektive Aufmerksamkeit kondensiert, wären Medien, die auf dem freien Markt der Aufmerksamkeit konkurrieren, nichts. Prominenz und Medium spiegeln sich daher permanent ineinander, wobei lediglich die Flüchtigkeit der Aufmerksamkeit für einen permanenten Zwang zur Innovation sorgt. Der Tod der Prominenten führte uns, wie die Time sagt, "in ein globales Dorf, in dem es nicht mehr cool ist, cool zu sein." Alle werden eins, ein Pfingstfest, der Heiland eine Geopferte, die zur Himmelfahrt antritt, gedemütigt, gejagt, von der Macht ausgeschlossen, dem Guten ergeben, das bescheidene persönliche Glück suchend: "Gefühle waren die Botschaften". Und die Intelligenz wurde emotional, wie es Golemans Bestseller über die "Emotionale Intelligenz" und verschiedene Versuche demonstrieren, Gefühle für intelligente Systeme einzubauen oder "affective computing" zu implementieren.
Wollte man die Intelligenz der durch Quoten als "natürliche Auslese" getriebenen Evolution der Medien und der Prominenz als Grundlage ansetzen, dann wäre man tatsächlich naiv. Selbst in den Wissenschaften, den Garanten der Objektivität, ist mittlerweile Aufmerksamkeit zur Meßlatte geworden, was man an Dolly oder Pathfinder mit dem Thema des Lebens auf dem Mars sehen kann. Die Evolution der Medien in einem deregulierten Markt wird bestenfalls durch emotionale Intelligenz bestimmt, also durch die Massage der Aufmerksamkeit und die daraus folgende Stimulierung von Gefühlen, zu deren stärksten das Gefühl der Gemeinsamkeit gehört.
Just im Jahr der Gefühle erschien denn auch ein Buch, das eine alte Kategorie aus der Psychoanalyse zur Deutung von Massenphänomenen wieder heranzieht, wie sie durch Medien ausgelöst werden: Elaine Showalters "Hystorien". Hysterie ist für sie die Bezeichnung eines Syndroms, das irgendwie zwischen Memetik, Paranoia und Epidemien steht und die Menschen "ansteckt". Die Ursachen der psychischen Probleme werden von den Befallenen außerhalb gesucht: "in einem Virus, sexueller Belästigung, chemischer Kriegsführung, in teuflischen Verschwörungen, außerirdischer Infiltration." Die hysterischen Syndrome verbreiten sich über die Kommunikations-Netzwerke, aber die Menschen weigern sich noch immer, dafür eine "psychologische Erklärungsweise" zu akzeptieren. Damit aber hat sich Showalter bereits in einem diskursiven Netz eingeschlossen, das verhindert, wirklich über "hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien" zu sprechen. Die Medien kommen bei aller Psychologie und Phänomenologie nur als Ort der Verbreitung vor, nicht aber als bestimmende Kräfte.
Sich nur an die Psyche der einzelnen zu halten und stets Verdrängungen zu entdecken, wird sicherlich den großen Massenansteckungen nicht gerecht, die sich nicht nur über Medien verbreiten, sondern eben auch von ihnen und medialen Ereignissen oder Personen, also von Prominenz, ausgelöst werden. Die Menschen in London, die Blumen niederlegten oder an der Trauerfeier teilnahmen, zeigten sich als Masse und waren sich vermutlich, wie heutzutage jeder Demonstrant und Zuschauer von Talk-Shows, wohl bewußt, Statisten für die Medien und ihre Bilder zu sein. Und je stärker sich die Nachrichten und Berichte in Medien jeder Art vernetzten und verdichteten, desto mehr Menschen wurden in eine seltsame Trauer oder Betroffenheit, zumindest aber in ein verwundertes Fragen hineingezogen und so zum Teil der wachsenden Masse vor und hinter den Bildschirmen.
Alle Medien massieren uns gründlich durch. Sie sind dermaßen durchgreifend ..., daß sie keinen Teil von uns unberührt, unbeeinflußt, unverändert lassen.
Marshall McLuhan
Den Medien ausgesetzt, werden die Menschen bearbeitet, wird ihre Aufmerksamkeit geknetet. Das Massenereignis, das Ereignis der Masse, die sich um eine schöne Leiche kristallisierte, erzeugte auf einmal eine Gemeinschaft, eine wirkliche Öffentlichkeit, ein Beteiligtsein an der Geschichte, auch wenn sie wie in diesem Fall banal war. Plötzlich vermittelte das Medium eine Verbindung, über die die Aufmerksamkeit erhalten blieb und sich mit der der anderen über den medialen Anschluß verkettete.
Marshall McLuhan war nicht nur der Verkünder des globalen Dorfes und des globalen Gehirns sowie der Ansicht, daß das Medium die Botschaft ist, sondern er war auch der Ansicht, daß die Medien, vor allem der Fernseher, körperlich wirken und uns oder unser Gehirn durch optische Stimuli massieren. Irgendwie allerdings war für ihn die Elektrizität, also etwa die Geschwindigkeit der Medien, die Hauptursache dafür, daß die Menschen einen tiefgreifenden Wandel durchleben und von den Medien verbunden werden: "Im Zeitalter der Elektrizität wird die ganze Menschheit zu unserer eigenen Haut."
Die Grenzen zwischen den Individuen also verschwinden, während sie durch Gleichzeitigkeit zum Teil einer größeren Ganzen, zu einem globalen Gehirn, werden. Als Luhan von der medialen Massage schrieb, gab es ähnlich Ereignisse, die von einer neuen Stufe der Globalität und Kollektivität zeugten: den Tod Kennedys, die Landung auf dem Mond, die Studentenrevolte oder den Vietnamkrieg. Darin wurde die Macht des Fernsehens, der medialen und kollektiven Aufmerksamkeit, entdeckt und benutzt. Die Massage ist allerdings nicht einseitig. Die Menschen sind ihr nicht passiv ausgesetzt. Das hatte schon die erste Generation entdeckt, die mit den Medien spielte, mit ihnen aufwuchs und daher Aufmerksamkeitsfallen inszenierte, wohl wissend, daß nur Prominenz oder Spektakel kollektive Aufmerksamkeit erzeugt.
Das Medium vermittelt keine Nachrichten, es schafft sie. Ein Ereignis geschieht erst in dem Moment, wo es auf dem Bildschirm erscheint, es wird Mythos. Das Medium ist nicht 'neutral' Die Gegenwart einer Kamera verwandelt eine Demonstration, macht uns zu Helden. Wir riskieren mehr, wenn die Presse da ist, weil wir wissen, daß dann all unsere Unternehmungen innerhalb von Stunden der ganzen Welt bekannt sein werden. Das Fernsehen sorgt dafür, daß wir unsere Methoden ständig eskalieren; eine Methode wird unwirksam, wenn sie aufhört, Gerede und Interesse - 'Nachrichten' zu provozieren. ... Ohne einen Fernsehapparat kann man heutzutage kein Revolutionär sein - der Fernseher ist genauso wichtig wie die Waffe!::Jerry Rubin: Do it! (1970)
McLuhan schrieb, daß durch die elektronischen Medien die Menschen ihr Gehirn zu einem weltumspannenden Netz ausgeweitet hätten, als dessen Knoten sie auch viel unmittelbarer durch alles beeinflußt werden, was sich irgendwo auf der Welt abspielt. Bald wird diese Vision immer handgreiflicher werden, wenn neurotechnologische Implantate den Menschen unter die Haut gehen und das Gehirn oder sensorische Bahnen direkt elektrisch stimulieren. Das wird nachträglich deutlich machen, daß wir immer nur sehr oberflächlich die Wirkung der Medien aufgrund ihrer Inhalte oder ihrer internen Funktionsweisen und Strukturen, die die gesellschaftliche Organisation oder unser Selbstverständnis verändern, beurteilt haben. Noch arbeiten wir uns an den alten erkenntnistheoretischen Modellen mit ihren finalen Grenzzuständen Simulation und Virtualität ab, die Unterscheidungen einreißen und verschwimmen lassen, aber wir sehen noch zu wenig, daß Wahrnehmen und Erkennen ein Effekt der Stimulation ist, die viel tiefer reicht, als "nur" bis zum Bombardement unserer Sensoren.
Und das eben meint Massage: das Durchkneten unseres Gehirns, das sich erst durch Stimulation fest verdrahtet, aber in gewissen Grenzen stets weiter durch sie verschaltet wird, wobei Aufmerksamkeit das "Organ" an der Front ist - an der Front nach außen und nach innen, denn selektiert wird nach diesen zwei Richtungen der S(t)imulation. Je mehr die Kinder schon in frühestem Alter den Medien über lange Zeit ausgesetzt sind, desto gründlicher werden ihre Gehirne massiert. Die Folgen werden erst allmählich spürbar, etwa durch steigende Konzentrationsschwierigkeiten.
Die Medien sind nur weitere Aufmerksamkeitsorgane, die in das biologische Aufmerksamkeitssystem, das immer schon "sozial" ist, integriert werden. Wahrscheinlich spielen dabei Gesichter und Stimmen eine entscheidende Rolle - von der ersten prominenten Person der Mutter, der die erste Aufmerksamkeit gilt, über das soziale Umfeld bis hin zu der Medienprominenz. Technische Medien sind gewissermaßen Plug-Ins in das Betriebssystem der Aufmerksamkeit, Browser der Welt, die mit ihm unlösbar verbunden sind - und darin sich noch von Computersystemen unterscheiden, die nicht von vorneherein Knoten in einem Netz darstellen und mit allen anderen verbunden sind.
Aber die Geschichte der medialen Massage und dem Glauben an die verbindende Elektrizität geht natürlich weiter zurück, nämlich in eine vorrevolutionäre, von der Wissenschaft und Technik ebenso begeisterte Zeit wie die unsere. Man hatte am Ende des 18. Jahrhunderts den ersten Schritt mit Ballonflügen in die Luft gemacht, die Wissenschaften schienen in ihrem unaufhörlichen und kontinuierlichen Fortschritt alles möglich zu machen. Die Hysterie war noch nicht erfunden, und auch nicht die Psychoanalyse. Massenmedien waren die Zeitungen, der öffentliche Raum und die Gerüchte, die Meme weiterreichten, aber auch die Cafes, Salons und Gesellschaften, die überall aus dem Boden schossen und einen engen Verkehr in einer Art Gegenöffentlichkeit schufen, die zu einer wirkungsvollen Infektion nötig war. Diese Gegenöffentlichkeit, auf das Neue ausgerichtet, der Technik und der Wissenschaft, aber genauso wilden Spekulationen ergeben, glich dem, was das Internet noch immer ein Stück weit ist: eine offene Struktur der Kommunikation von Menschen, die sich als Avantgarde verstehen.
Ebenso wie mit den Computernetzen sich die Theorie komplexer, vernetzer Systeme unter der Bedingung der Selbstorganisation durchsetzte und man sich im Widerstand gegen die etablierte, erstarrte und hierarchische Kultur fand, durch den sich Vorstellungen von einem globalen Gehirn, einer kollektiven Intelligenz und einer Harmonie der Gemeinschaft mit einer neuen Theorie der Gedankeninfektion, der Memetik, verband, entstanden im vorrevolutionären Frankreich aus den Netzwerken der Diskurse ganz ähnliche Theorien - und eine Praxis, die von einem Deutschen begründet wurde und die Erwartungen technisch einzulösen schien: der Mesmerismus.
Die Wissenschaft hatte Mesmers Zeitgenossen durch die Enthüllung gefesselt, daß sie von wunderbaren unsichtbaren Kräften umgeben wären: Newtons Schwerkraft, die Voltaire verständlich gemacht hatte, Franklins Elektrizität, popularisiert durch die Mode der Blitzableiter und durch Vorführungen in den modegängigen Lyzeen und Museen von Paris, und die wunderbaren Gase der Charlières und Montgolfières, die Europa in Staunen versetzten.
Robert Darnton: Der Mesmerismus und das Ende der Aufklärung in Frankreich
Während aber heute technische Medien die Menschen zusammenbinden, aber man wieder eher biologisch als mechanisch denkt, stand zu jener Zeit der beginnenden Massenmedien und der Metropolen ein allgemeines Medium oder Fluidum, das alles miteinander verbindet, im Kern der Aufmerksamkeit. Der Äther wurde abgelöst vom Magnetismus und der eben entdeckten "tierischen Elektrizität", die Mesmer für seine Experimente benutze. Es ging um Übertragung - und jeder sollte angeschlossen sein, worin sich ein egalitäres, dem Feudalismus und der Hierarchie entgegengesetztes Prinzip verbarg. Man schickte mit der Hilfe von Maschinen - den "Baquets", mit Eisensplittern und Flaschen, die mesmerisiertes Wasser enthielten, gefüllte Fässer - Elektrizität durch eine "Kette" von Menschen. Diese mesmerisierte oder massierte die "Pole" im Körper und löste mitunter heftige Konvulsionen aus, um schließlich, nachdem die Sperren überwunden waren, die den Fluß des Fluidums behinderten, zur Harmonie zu führen. Geübte Mesmeristen brauchten keine Elektrizität, sie konnten den Fluß auch durch eine Massage der geeigneten Pole in Gang setzen. Weil man gerne dazu Bauchgegend hernahm, kursierten bald Gerüchte über den sexuellen Magnetismus, zumal besonders Frauen zu konvulsivischen Anfällen neigten - nicht unähnlich dem Verhalten der Fans bei der Anwesenheit vor allem prominenter Musiker, die für kurze Momente wirklich werden und sich von ihrer Existenz in den Medien lösen. An mesmeristischen Sitzungen nahmen normalerweise Gruppen teil, da man davon ausging, daß jedes "Kettenglied" die Kraft stärkte, und es wurde Musik gespielt, die die Seele bekanntlich auf ganz besondere Weise massiert.
Der Mesmerismus massierte aber nicht nur die Körper, er war über Jahre hinweg ein prominentes Thema, das sich wie ein Mem oder eine Epidemie ausbreitete. Langsamer als heute, aber doch allmählich über Paris und schließlich Frankreich hinausgehend. Er drang mit seiner materialistischen und natürlichen Grundlagen in die politische Philosophie ein, begeisterte manche Revolutionäre, steckte Visionäre wie Saint-Simon oder Fourier an, ging in die idealistischen Philosophien der Fichtes, Schellings und Hegels und der Vorstellungswelt der Romantiker wie Novalis ein - und vielleicht fand er mit Marshall McLuhan den ersten Nachfolger im Zeitalter der elektrischen Kommunikation, die weniger Botschaften (messages) übermittelt, sondern eher die Gehirne und die Seelen der Menschen massiert: Das Medium ist die Massage.
Doch zur Massage reichen die Medien alleine nicht aus. Sie brauchen nicht wirklich Botschaften, aber ein Objekt, das Aufmerksamkeit erregt und von den Medien, den kollektiven Aufmerksamkeitsorganen, mesmerisiert wurde. Und um als Trojanisches Pferd zur Infektion von kollektiven Gefühlen zu wirken, darf das obskure Objekt der Aufmerksamkeit, das man gleichfalls Medium nennen könnte, nicht zu sehr gegen die mentalen Abwehrkräfte stoßen und muß mehr oder weniger neutral sein. Wirkliche und fiktive Katastrophen, denen man durch die Medien ausgesetzt ist und denen man sich zur weiteren Abhärtung des Schutzschildes immer wieder freiwillig in immer höheren Dosen aussetzt, haben eines gemeinsam: sie fordern zur Abgrenzung heraus. Daraus mögen sich Epidemien entzünden, die eine wirkliche Gemeinschaft, und es sei es in der Form der Horde oder der in diesem Jahrhundert so gefürchteten entfesselten Masse, hervorbringen, die sich gegen einen Feind stellt, aber eine globale und mediale Massage hat, abgesehen von irgendwelchen ETs, den Feind und die Abgrenzungen verloren.
Die Time schreibt richtig, daß "ein Schlachtfeld, ein Feld der offenen Spannung, in dem sich Massenemotionen enzünden könnte", gefehlt habe. Die globale Massage durch den Tod Dianas, der Angehörigen einer untergehenden und überlebten Schicht der Rituale, Symbole und Hierarchien, aber auch einer Prominenz, die nur noch Simulation oder Schauspiel ist, sei durch die "Anwesenheit einer Abwesenheit" gekennzeichnet gewesen - und der Tod schließlich vielleicht nur eine Abwesenheit zuviel. Es war der Einfall des Realen in die Simulation, die die Menschen verstört hat, aber auch eine vereinende Trauer über all das, was immer schneller wie durch eine Verschwörung der Medien und der Techniken verschwindet, während eine neue Welt entsteht: eine mesmeristische Welt, eine Welt der Massage, in der alles mit allem zusammenhängt und die alten Differenzen verschwinden. Aber eine Harmonie der Gleichen, wie es sich die bürgerlichen Revolutionäre erhofften, die in Wissenschaft, Technik und medialer Öffentlichkeit schon damals ihren Zusammenhalt fanden, wird wahrscheinlich aus dem gegenwärtigen Aufplatzen der Grenzen und den begleitenden globalen Konvulsionen nicht entstehen. Aber das wird nur die Eule der Minerva endgültig wissen, die bekanntlich immer post festum kommt, während der Maulwurf der Geschichte blind ist.