Erdogans neo-osmanische Träume: Krieg, offen und verdeckt – ein Jahresrückblick

Siegesdenkmal in Ankara, erbaut 1925 bis 1927. Foto: Enes Sözen / CC0 1.0

Aus dem Nahen und Mittleren Osten wird momentan wenig in westlichen Medien berichtet. Der Nato-Partner Türkei spielt dort schon lange eine unrühmliche Rolle. Im Windschatten des Ukraine Krieges kennt er kein Halten. (Teil 1)

Die Bilder der Zerstörung in der Ukraine durch Russlands völkerrechtswidrigen Angriffskrieg sind dauerpräsent in den Medien. Die Bilder der Zerstörung in Nordsyrien und im Nordirak durch die völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei finden in unseren Medien kaum Beachtung.

Im Rückblick auf das ausgehende Jahr 2022 ist erkennbar, dass die türkische Regierung weiterhin erheblich zur Destabilisierung des Nahen Ostens beiträgt. Auch der Umbau des türkischen Staates hin zu einem islamistisch geprägten, autoritären Regime wird von Präsident Recep Tayyip Erdogan weiterhin vorangetrieben. Der Abbau der Reste von Rechtsstaatlichkeit und das Befeuern des Nationalismus nimmt angesichts der 2023 bevorstehenden Wahlen Fahrt auf.

Destabilisierung und Abkehr von demokratischen Grundwerten

Anscheinend hat sich an Erdogans Einstellung nichts geändert, seit er im Jahr 1998 diese von Ziya Gökalü zitierte:

Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Moscheekuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.


Vorgetragen von Recep Tayyip Erdogan 1998

Erdogan, ein Anhänger der Muslimbruderschaft, verfolgt diesen Kurs vehementer denn je. Der Rabia-Gruß (vier erhobene Finger mit eingeknicktem Daumen) fehlt bei keinem seiner Auftritte.

Religiöse und ethnische Minderheiten

Minderheitenrechte – wie zum Beispiel das Recht auf Muttersprache, das Recht auf Bewahrung der kulturellen Identität und den Schutz historischer Orte – sucht man in der türkischen Verfassung vergeblich. Stattdessen wird die nationalistische Atatürk-Doktrin (ein Land, eine Sprache, eine Fahne) mit Erdogans neo-osmanischen Plänen zur Eroberung fremden Territoriums von Griechenland bis in den Irak noch übertroffen.

Im April diesen Jahres wurde erstmals das stille Gedenken an den Völkermord an den Armeniern am 24. April 1915 vom Istanbuler Gouverneur verboten. Obwohl der Genozid an den Armeniern international als solcher anerkannt ist, leugnet dies die türkische Regierung bis heute.

Die Aleviten sind in der Türkei noch immer nicht als Religionsgemeinschaft anerkannt – in Deutschland wurde nach NRW 2020 nun im Dezember 2022 auch in Berlin die Alevitische Gemeinde Deutschlands als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannt.

Die ethnische Minderheit der Kurden ist seit Jahrzehnten einer beispiellosen Diskriminierung ausgesetzt. Im Februar 2022 wurden drei kurdische Studierende an der Universität in Antalya von einem rassistischen Mob angegriffen und verletzt. Als Studierende an der Universität von Van sich mit den Opfern solidarisierten und sich gegen den antikurdischen Rassismus positionierten, wurden sie wegen angeblicher Volksverhetzung festgenommen.

Indem die Opfer kriminalisiert und die Täter nicht geahndet werden, wird antikurdischer Rassismus von staatlicher Seite quasi unterstützt.

Ausschaltung der demokratischen Opposition

Im April wurde der Kulturmäzen Osman Kavala wegen unbewiesener Umsturzpläne zu lebenslanger Haft verurteilt - trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der seine Freilassung verlangte, was für die Türkei eigentlich verpflichtend ist.

Im Oktober wurde die Vorsitzende der Ärztekammer TTB, Sebnem Korur Fincanci verhaftet. Ihr Vergehen: Sie forderte eine unabhängige Untersuchung des Vorwurfs, das türkische Militär würde Chemiewaffen im Irak einsetzen. Schon allein die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung, die ja theoretisch auch zur Entlastung der Türkei von den Vorwürfen führen könnte, ist mittlerweile strafbar.

Die staatliche Repression gegen die parlamentarische Opposition gipfelte nun im Dezember in der Verurteilung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu (CHP) zu einer zweijährigen Haftstrafe und einem Politikverbot. Vorgeworfen wurde ihm Beleidigung von Amtsträgern, weil er bei der Kommunalwahl 2019 den Wahlleiter als "Narren" bezeichnet hatte.

Nachdem die HDP durch die Absetzung ihrer demokratisch gewählten Bürgermeister und Bürgermeisterinnen, die Aufhebung der Immunität von Parlamentsangehörigen, der Inhaftierung ihres ehemaligen Vorsitzenden Selahattin Demirtas und anderen Parlamentariern, der Inhaftierung tausender HDP-Mitglieder und dem anhängigen Parteiverbotsverfahren fast handlungsunfähig gemacht wurde, rückt nun die säkulare kemalistische CHP in den Fokus.

Im Mai wurde die Vorsitzende der CHP in Istanbul, Canan Kaftancioglu zu fünf Jahren Haft wegen AKP-kritischen Tweets, die sie vor neun (!) verfasst hatte, verurteilt. Die CHP ist derzeit im Bündnis mit weiteren fünf konservativem Parteien die einzige relevante Konkurrentin zur amtierenden islamistisch-nationalistischen AKP-MHP Koalition. Der Istanbuler Bürgermeister ist einer der aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten.

Braindrain und Fluchtbewegungen aus der Türkei

Diese Entwicklung, weg von demokratischen und westlichen Werten hin zu einem rückwärtsgewandten, autoritären islamistischen Staat, fördert den seit Jahren andauernden Braindrain. Die hohe Inflationsrate, steigende Preise und die andauernde Abwertung der türkischen Lira verstärken die Abwanderung ins Ausland noch.

Das betrifft mittlerweile nicht nur die demokratischen, an westlichen Werten orientierten Bevölkerungsschichten. Auch konservative Unternehmer bauen sich sicherheitshalber ein Standbein in Europa auf, man weiß ja nie, wie lange die AKP-Seilschaften noch halten.

Auch die Zahl der türkischen Geflüchteten hat von Januar bis September 2022 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 254 Prozent zugenommen. Die Zahl der geflüchteten Syrer in Europa übersteigt 2022 mittlerweile die Zahl der geflüchteten Syrer von 2015. Syrische Geflüchtete in der Türkei suchen ebenfalls verstärkt den Weg nach Europa und begeben sich auf die lebensgefährlichen Fluchtrouten übers Mittelmeer oder den Balkan.

Sie fliehen vor dem wachsenden Rassismus in der Türkei und der Zwangsrückführung in die türkisch besetzten Gebiete Nordsyriens. "Der stellvertretende türkische Innenminister Ismail Catakli beziffert die Zahl der bereits zurückgeführten Syrer:innen selbst auf insgesamt über eine halbe Million. Nur: Die türkische Regierung spricht dabei nicht als Abschiebungen, sondern von freiwilliger Rückkehr.

Als Beweis dienen unterschriebene Dokumente, in denen die Betroffenen die angebliche Freiwilligkeit bestätigen. Allerdings entstehen diese nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen oft unter Androhung von Haft und zum Teil massiver Misshandlung. Zwar seien die Zwangsabschiebungen gut belegt. "Aber wo kein Kläger, da kein Richter."

Nordsyrien wird durch den IS und die Türkei destabilisiert

"Fluchtursachen verhindern" ist eine gern gebrauchte Floskel unserer Bundesregierung, wenn es um die Präsentation ihres humanitären oder entwicklungspolitischen Engagements geht. Dass nun aber ausgerechnet der türkische Präsident Erdogan durch seine völkerrechtswidrigen Angriffe auf Nordsyrien und Nordirak für neue Fluchtursachen sorgt, wird von unseren Politikern und den Verantwortlichen im Auswärtigen Amt geflissentlich übersehen.

Dabei bedient sich die türkische Regierung seit Jahren der von ihr geschaffenen sogenannten "Syrischen Nationalen Armee" (SNA), ein Sammelbecken ehemaliger IS-Kämpfer und islamistischer Milizen von z.B. Al Qaida und der "Freien syrischen Armee" (FSA). Die SNA terrorisieren nicht nur die Bevölkerung in den türkisch besetzten Gebieten Nordsyriens.

Sie greifen auch immer wieder die Gebiete der demokratischen Selbstverwaltung an, versorgen mit Hilfe des türkischen Geheimdienstes IS-Schläferzellen mit Waffen und Logistik und koordinieren gezielte Angriffe auf die Sicherheitskräfte der Selbstverwaltung. Im Januar 2022 gab es etliche Artillerieangriffe aus der Türkei mit zivilen Opfern.

In einer offensichtlich koordinierten Aktion zwischen türkischem Militär, Proxy-Truppen und IS-Schläferzellen kam es zu einem großen Ausbruchsversuch im Gefängnis für IS-Angehörige bei Hasaka, der von Artillerieangriffen aus der Türkei begleitet wurde, um die Kräfte der Syrian Democratic Forces (SDF) abzulenken und zu binden.

Dabei gab es auch etliche Tote unter den SDF und dem Wachpersonal. Im Februar wurde ein Umspannwerk in Dêrik durch einen Luftangriff stark beschädigt, so dass es in Dêrik und Umgebung zu längeren Stromausfällen kam. Im November wurde das gleiche Umspannwerk durch die Bombardierung von Kampfflugzeugen komplett zerstört. Seitdem haben die 60.000 Einwohner der Stadt und die umliegenden Dörfer keinen Strom und kein Wasser mehr, denn die Trinkwasserbrunnen werden mit Strom betrieben.

Die offiziell als Vergeltung für den Terroranschlag auf der Istanbuler Konsummeile Istiklal vom 13. November deklarierten türkischen Angriffe auf Nordsyrien fanden von der Sheba Region im Nordwesten, wo sich mehr als 100.000 Geflüchtete aus dem türkisch besetzten Afrin befinden, entlang der türkischen Mauer bis in den Nordirak statt.

Die angebliche Vergeltung konzentrierte sich auf die zivile Infrastruktur: In Kobane wurden das Covid-Krankenhaus und Schulen durch türkische Kampfbomber zerstört, bei Dêrik wurde das Gaswerk schwer beschädigt, Ölfelder wurden bombardiert, wie auch Getreidesilos.

Inzwischen kristallisierte sich immer deutlicher heraus, dass auch der Terroranschlag in Istanbul einen islamistischen Hintergrund hatte und nicht etwa von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verübt worden war.

Alle kurdischen Organisationen distanzierten sich umgehend von dem Attentat. Es ist auch unmöglich, angesichts der geschlossenen Grenze und der türkischen Mauer unbemerkt vom türkisch besetzten Idlib und Afrin in die Türkei zu gelangen, wie es die Attentäterin angeblich getan hatte. Auch international wurde eine "False-Flag-Operation" der Türkei vermutet.