Gaza als Schlachtbank
Über Maßlosigkeit und Niedergang der Politik. Darüber, wie Israel seine Reputation verspielt. Und wie sich der Westen zur Debatte darüber unfähig zeigt. Ein Einwurf.
Auch nach dem Beschluss des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag ist kein Einlenken in Sicht, kein Ende der blutigen israelischen Operation in Gaza, kein Plan für danach. Die arabische Bevölkerung im Gazastreifen bleibt ihrem Schicksal überlassen, reduziert auf ihre nackte Physis. Ihre Entmenschlichung folgt der Staatsräson.
Die resultiert aus einer alternativlosen Unpolitik. Das Ganze mündet in das Recht des Stärkeren; das ist das, was hier von Politik übrigbleibt. Europa folgt dem doppelten Spiel.
Unbeeindruckt bleibt Israels Staatschef Benjamin Netanjahu von dem unablässigen Bitten und Betteln der Angehörigen der Geiseln, deren Anliegen nicht durchdringt. Ihre Verzweiflung kann auch als Ausdruck vager Hoffnung gelesen werden, politischer Praxis neben Kettengerassel und Kanonendonner Raum zu geben.
Kein Krieg ohne Hintergrund
Nur – wo gab es solche Praxis vorher? Die Hamas ist nicht in den letzten Monaten ex nihilo erstanden. Den Feind mit Waffengewalt physisch auszurotten, ihn mit Stumpf und Stiel zu vernichten, klingt auf Anhieb, jedenfalls in den Ohren der Unterstützer Israels, plausibel: kann aber nicht als Ausdruck von Politik verstanden werden.
Das Magazin +972, eine Plattform, auf der palästinensische und israelische Journalisten und Aktivisten über das Geschehen berichten, erinnert an den Kontext des Konflikts:
Diese Eskalation hat einen ganz klaren Hintergrund, über den +972 in den letzten 13 Jahren berichtet hat: Der wachsende Rassismus und Militarismus der israelischen Gesellschaft, die anhaltende Besatzung und die zunehmend normalisierte Blockade des Gazastreifens.
+972 gewährt auch Einblicke in den Kriegsalltag in Gaza und lässt Schrecknisse, Tod und Verzweiflung greifbar werden.
Netanjahus letzte Schlacht
Der Staatschef muss liefern: Sein Regierungsbündnis ist ein Ausdruck von Schwäche, die den Verfallsgrad der Macht dokumentiert. Insofern ist das, was in Gaza passiert, Netanjahus letzte Schlacht, sein politischer Überlebenskampf, der den palästinensischen Opfergang einrechnet.
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Das wiederum geht nur, wenn die USA, die Galionsfigur doppelzüngiger Moral, den Waffengang unterstützt und der Westen bereitwillig dem Narrativ folgt, das zusammengekürzt lautet: Schuld trägt allein die Hamas. Mit der Aufforderung an die Kritiker und Empörer: Mund halten!
Jedoch: In seiner bedenkenlosen, autochthonen Machtentfaltung geht Israel – das moderne, hochgerüstete, ans weltimmanente Ziel gelangte Israel – zu weit. Hier ist das Ende glaubhafter Legitimität erreicht, das eschatologische Erbe verspielt.
Haltung Deutschlands zum Israel-Krieg stößt auf mehr Kritik
Immer mehr Stimmen äußern sich derweil kritisch zur Berliner Haltung gegenüber Israels Kriegsführung.
Aktuelle Meinungsumfragen in der arabischen Welt zeigten eine "Schneise der Verwüstung" in den deutsch-arabischen Beziehungen, berichtet die Politplattform german-foreign-policy.com.
Wie wir dort lesen, hat die Juristin Azza Soliman, die beim Centre for Egyptian Women’s Legal Assistance arbeitet, gemeinsam mit über 250 Leitern internationaler NGOs einen Aufruf unterzeichnet, der das Ende des Krieges im Gazastreifen fordert. Soliman zufolge leben wir "in einer kritischen historischen Phase, in der die Masken von den Gesichtern aller Unterstützer der Menschenrechte fallen".
Ai Wei Wei: Kulturelles Klima wie unter Mao
Westlichen "Hypermoralismus" erkennt der chinesische Künstler Ai Wei Wei. Im November hatte eine Londoner Galerie eine Ausstellung mit Werken von Ai Wei Wei abgesagt – nach kritischen Kommentaren des Künstlers über den Gaza-Krieg und die "jüdische Community".
Im Interview mit dem britischen TV-Sender Sky News vergleicht der streitlustige Chinese das kulturelle Klima des Westens mit dem China der Tage Mao Zedongs – und sieht einen bedenklichen Hang: Die westliche Gesellschaft, so konstatiert er, sei derart eingeschüchtert, dass sie allen Fragen und Debatten aus dem Weg gehe.
Israels Krieg in Gaza: 70 Prozent der Häuser zerstört
Das Sterben in Gaza geht weiter. Jüngste Zählungen sprechen von 27.478 getöteten Palästinensern und 66.835 Verletzten seit Kriegsbeginn. Diese Zahlen der palästinensischen Gesundheitsbehörde unterscheiden nicht zwischen Zivilisten und bewaffneten Kämpfern.
Der Spiegel schreibt, 70 Prozent der 439.000 Häuser und Wohnungen in Gaza sind beschädigt oder komplett zerstört. Israel kann seine Ziele nur unter Inkaufnahme Tausender weiterer ziviler Opfer erreichen. Die Schlacht wird weiter wüten, in Form einer Bodenoffensive im überfüllten Süden um Rafah, den südlichsten Zipfel des Kriegsgebiets.
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Nachbemerkung: Der Ausdruck "Schlachtbank" ist Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte entnommen. Der Philosoph erwähnt dort die "Geschichte als Schlachtbank", tut dies jedoch in guter Absicht: Als Schlachtbank offenbart die Menschheitsgeschichte zwar Defizite, diese hindern den Gang der Vernunft jedoch nicht an seinem untergründigen Wirken hin auf dem Weg zum panlogischen Endziel.
Gaza vor der Auslöschung: Die Hand der hegelschen Vernunft – von Humanität nicht zu reden – ist nicht zu erkennen. Was wir sehen, ist die Apotheose menschenverachtender Staatlichkeit in excelsis. Abgehoben von Kritik, entwertet sie die eigenen Maßstäbe und verkennt die Wurzeln der eigenen Identität.
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