Jacqueline Bisset und das Ende einer Männerfreundschaft
Seite 2: Der Preis des Filmemachens
- Jacqueline Bisset und das Ende einer Männerfreundschaft
- Der Preis des Filmemachens
- Orientierungsstörung bei der Métro
- Film als Tagebuch
- Zwischen Lebensfreude und Suizid
- Altstar sucht Dialog
- Wie ein Zug in der Nacht
- Kartoffelsalat und Antisemitismus
- Ein Regisseur, der nicht bumst
- Auf einer Seite lesen
Truffaut war ein Mensch voller Widersprüche. In seinem Job als Regisseur inszenierte er diese sehr harmlos wirkende Komödie. Als Aktivist ging er auf die Straße, um für die Freiheit des Films von staatlicher Gängelung zu kämpfen, wofür ihn die gaullistische Presse als "Saboteur" und "Champagnerrevoluzzer" schmähte. Dieselben Zeitungen fanden viel Lob, als Baiser volés zum Überraschungserfolg des Herbstes 1968 wurde. Nach den Événements im Mai traf der Film auf ein Publikum, das sich von den Zumutungen des engagierten Kinos erholen wollte.
Die Kritiker nahmen Geraubte Küsse entweder als ein ebenso liebenswertes wie zeitloses Vergnügen wahr oder als ein im Grunde reaktionäres, rückwärtsgewandtes Stück Kinokonfektion, das nicht den Kopf des Zuschauers ansprach, sondern dessen Empfindsamkeit. Truffaut war dabei, sich zum Repräsentanten eines Kinos zu entwickeln, wie es (angeblich) einmal gewesen war, in der guten alten Zeit. Damit erfüllte er ein Bedürfnis, das deshalb nicht unbedingt das seine war, oder zumindest nicht ausschließlich.
Der Preis des Filmemachens (6 Bilder)
Baisers volés bescherte Truffaut mehrere Auszeichnungen und seinen größten kommerziellen Erfolg seit Les quatre cents coups. Das Geld hatte seine Produktionsfirma, die Films du Carrosse, dringend nötig (der Name ist eine Hommage an Jean Renoir, den Regisseur von Le carrosse d’or). Diese Firma hatte Truffaut schon bei den Vorbereitungen zu den Dreharbeiten zum Kurzfilm Les mistons (Die Unverschämten, 1957) gegründet, auf Anraten seines Schwiegervaters, des Filmverleihers Ignace Morgenstern, und mit tätiger Unterstützung von Marcel Berbert, einem Kompagnon Morgensterns, der dann ein Vierteljahrhundert lang bei der Carrosse als Produzent arbeitete.
In der Firmengründung kam ein Geschäftssinn zum Ausdruck, der manchen suspekt war. Dazu sollte man das Vorwort lesen, das Truffaut 20 Jahre später für eine Neuauflage von André Bazins Buch über Orson Welles schrieb. "Für mich liegt die wahre Tragik von Orson Welles darin", heißt es da, "dass er seit 30 Jahren seine Abende mit allmächtigen Produzenten verbringt, die ihm zwar ihre Zigarren anbieten, ihm aber keine 100 Meter Filmmaterial zum Belichten anvertrauen." In eine solche Lage wollte Truffaut nie kommen. Daher sein Pragmatismus im Umgang mit Geld und Erfolg, den ihm einige verübelten.
Charakteristisch für Truffaut ist eine aus der Wirklichkeit übernommene Szene in La nuit américaine. Die Warner Bros. steuerte 800.000 Dollar zur Finanzierung bei. Als Berbert das Budget erstellte waren das vier Millionen Francs. Dann fiel der Dollarkurs um zehn Prozent. Statt geplanter acht Wochen mit je fünf Arbeitstagen musste die Drehzeit auf sieben Wochen reduziert werden, um den Kursverlust auszugleichen. Truffaut machte daraus eine Szene. Der Produzent Bertrand kommt auf den von Truffaut gespielten Regisseur Ferrand zu und sagt ihm, dass die amerikanischen Geldgeber auf einer Drehzeit von sieben Wochen bestehen. Ob das zu schaffen sei? Schwierig, meint Ferrand. Er müsse erst den Drehplan studieren.
Bertrand wirkt zufrieden. 35 Drehtage, denkt Ferrand frustriert. Für einen Film wie diesen sei das viel zu wenig. Dann geht er an die Arbeit, um es in sieben Wochen hinzukriegen. Ein Aufbegehren gegen die Macht des Kapitals sieht anders aus. In einem Interview sagt Truffaut zu der Szene, dass er von der üblichen Rollenverteilung - der Regisseur als der Künstler und der Produzent als das Schwein - nichts halte: "Ich finde, beide sind aufeinander angewiesen, denn man fertigt gemeinsam ein Produkt an, das seinen Preis kostet, und daher sollte man tunlichst versuchen, auch einen Gewinn zu erzielen oder zumindest die Unkosten zu decken, damit man später einen neuen Film machen kann."
Der Truffaut'sche Pragmatismus: Ein Film musste so viel Geld einspielen, dass es danach weitergehen und er den nächsten Film drehen konnte, denn das Filmemachen war sein Leben. So gesehen ließen die Geraubten Küsse nichts zu wünschen übrig. Sie beseitigten die finanzielle Schieflage, in welche die Carrosse Ende der 1960er geraten war. Allerdings drehte Truffaut in den folgenden Jahren die beiden größten Misserfolge seiner Karriere. La sirène du Mississippi (1969) und Les deux anglaises et le continent (1971) fielen an der Kinokasse durch und wurden als leblose, unpersönliche Produkte zum Auffüllen der Filmographie verrissen. Sie hätten eine Neubewertung verdient.
Geschichten erzählen oder die Welt auseinandernehmen?
Godard kämpfte sich unterdessen durch seine Agitprop-Phase, in der er alles über den Haufen warf, was er bisher gemacht hatte und versuchte, ein neues, militantes Kino zu schaffen. Der Film sei keine Waffe, sagte er damals, wohl aber das Licht, das einem dabei helfe, die Waffe schussfertig zu machen. Legendär ist sein Auftritt beim London Film Festival von 1968. Der Produzent hatte sich vor der Premiere von One Plus One für einen neuen Titel entschieden und aus Kommerzgründen eine an sich kleine, aber die künstlerische Intention unterlaufende Änderung vorgenommen. Godard stürmte die Bühne und schlug ihm die Faust ins Gesicht.
Man braucht eine lebhafte Phantasie, um sich einen größeren Gegensatz als diesen zu dem Regisseur vorstellen zu können, den Truffaut in La nuit américaine spielt, seinem Film über das Filmemachen. Für Godard muss Ferrand eine Provokation gewesen sein und ein weiterer Beleg dafür, dass der Freund die gemeinsamen Ideale verraten hatte. 1959, als Truffaut in Cannes mit Les quatre cents coups triumphierte, stand in den Cahiers du cinéma zu lesen, dieser Film sei "die Bombe, die im Feindeslager hochging und es von innen her zerstörte". Damit war eine Erwartung formuliert und vielleicht ein großes Missverständnis.
Der Autor dieser Zeilen, Jean-Luc Godard, erwies sich in der Folge als der Revolutionär, der davon überzeugt war, dass man erst wieder lernen musste, die Liebe und überhaupt alles zu buchstabieren, wie Dominik Graf in einem schönen Text zu seinem siebzigsten Geburtstag schreibt: "Wir müssen mit Godard die Welt auseinandernehmen, um sie dann neu sehen, neu hören zu lernen. Auch auf die Gefahr hin, dass das Alphabet und die Worte dabei erstmal völlig durcheinandergeraten wie Buchstabensuppe."
Truffaut dagegen wollte das Alphabet weder zerlegen noch es neu erfinden. Im Prinzip akzeptierte er die Regeln des klassischen Erzählkinos, die Godard für wertlos hielt. Bei seinem vierten Spielfilm, La peau douce (Die süße Haut, 1964), brachte ihm das zum ersten Mal den Vorwurf ein, die Nouvelle Vague verraten zu haben. Von da an saß er immer wieder mal vor einer Kamera, um sich zu rechtfertigen und zu erklären, dass er das Kino nicht revolutionieren, sondern besser machen wolle, glaubwürdiger und authentischer. Godard konnte damit wenig anfangen.
Er interessierte sich nicht für linear erzählte Geschichten mit Anfang, Mitte und Schluss, verstand sich zunehmend als Medienkünstler und ist bis heute bestrebt, die von der Unterhaltungsindustrie gezogenen Grenzen des Films zu sprengen und Möglichkeiten aufzuzeigen, die das Kino seiner Überzeugung nach nicht genutzt hat. Das ist derselbe Godard, der Truffaut einmal vorwarf, er habe einen einzigen echten Film gedreht, Les quatre cents coups, und dann nur noch Geschichten erzählt. Ein Film, sagt Godard, muss mehr sein als das.
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