Jacqueline Bisset und das Ende einer Männerfreundschaft
Seite 6: Altstar sucht Dialog
- Jacqueline Bisset und das Ende einer Männerfreundschaft
- Der Preis des Filmemachens
- Orientierungsstörung bei der Métro
- Film als Tagebuch
- Zwischen Lebensfreude und Suizid
- Altstar sucht Dialog
- Wie ein Zug in der Nacht
- Kartoffelsalat und Antisemitismus
- Ein Regisseur, der nicht bumst
- Auf einer Seite lesen
Jetzt sind wir auf eine beinahe Godard'sche, das chronologische Erzählen sabotierende Weise vom Thema abgekommen. Wir waren bei Séverine und ihrer großen Szene mit Alexandre. Eine große Szene ist es nicht wirklich, so wie "Je vous présente Paméla" kein guter Film zu werden scheint, und mit den großen Gefühlen, die das Melodram verlangt, ist das auch so eine Sache, wenn man dauernd vergisst, was man sagen soll. In ihrer Not schlägt Séverine vor, es zu machen wie bei Federico: Emotionen zeigen und dazu Zahlen aufsagen, damit man den Dialog nachsynchronisieren kann (gemeint ist Federico Fellini, in dessen Julia und die Geister Valentina Corsese mitgespielt hatte).
In Frankreich sei das unmöglich, muss Ferrand sie enttäuschen und zeigt ihr das Mikrophon. Hier wird mit O-Ton gearbeitet. Also werden im Dekors Zettel mit Séverines Dialogsätzen aufgehängt, damit sie davon ablesen kann, während sie mit melodramatischen Gesten durch die Kulissen schreitet, immer auf der Suche nach ihrem Text. Das klappt einigermaßen, bis sie am Ende der Szene das Zimmer verlassen muss, was schon deshalb verwirrend ist, weil hinter der Tür Odile als Zofe steht. Séverine ist an eine klare Arbeitsteilung gewöhnt. "Zu meiner Zeit", sagt sie, "waren Schauspielerinnen noch Schauspielerinnen und Maskenbildnerinnen waren noch Maskenbildnerinnen."
Altstar sucht Dialog (24 Bilder)
Außerdem sieht die Zimmertür der zum Wandschrank täuschend ähnlich. Séverine erwischt dauernd die falsche und blickt auf Gläser und Geschirr statt auf die Zofe. Während die Darstellerin gegen ihre wachsende Verzweiflung kämpft zeigt uns Truffaut die Mitwirkenden, die man auf der Leinwand nicht sehen wird und ohne die kein Film entstehen kann: den Regisseur und seinen Stab, von der Kamera über Beleuchtung und Ton bis zum Requisiteur Bernard, der mit einer Gasflasche das Kaminfeuer reguliert und die Zigaretten für Alexandre zurechtschneidet, weil Joëlle schon ahnt, dass es viele Wiederholungen geben wird.
Als Scriptgirl muss Joëlle darauf achten, dass die Anschlüsse stimmen. Wenn die Einstellungen mit dem rauchenden Alexandre im Schneideraum montiert werden sollte die Zigarette im Verlauf der Szene kürzer werden und nicht länger. Truffaut wollte möglichst unterhaltsam vom Handwerk des Filmemachens erzählen, über "eine Gruppe von Leuten, die an derselben Sache arbeiten und eine Zeitlang zusammenleben", was ihm hier gut gelingt. Es ehrt ihn, dass er sich nicht damit zufrieden gibt, ein paar billige Lacher abzuholen, auf Kosten der überforderten Séverine.
Liliane (Dani, bis dahin nur als Sängerin bekannt), die Freundin von Alphonse, deutet an, dass Séverine zu tief ins Glas geschaut hat. Joëlle, der gute Geist am Set, klärt sie darüber auf, dass Séverine unter einem enormen Stress steht. Ihr Sohn ist an Leukämie erkrankt und sie fürchtet sich vor einem Anruf mit der Todesnachricht. Das ist vielleicht ein bisschen melodramatisch und einer jener Dramaturgentricks, über die Godard nur die Nase rümpfte. Wirkungsvoll ist es aber auch. Wer eben noch über die besoffene Alte gelacht hat, die eine Zimmertür nicht von einem Schrank unterscheiden kann, erhält Gelegenheit, das zu überdenken.
Die Liebe und ihre Spielarten
Auf der Suche nach Gründen für ihr Versagen wird Séverine auch beim Regisseur fündig, der ihr immer erst kurzfristig den Text für die nächsten Einstellungen gibt. Das war die bevorzugte Arbeitsweise von Truffaut. Er drehte gern chronologisch, weil er dann am Abend die Dialoge für den nächsten Tag schreiben konnte, statt sich an ein fertiges Buch halten zu müssen. In La nuit américaine wird das mehrfach thematisiert. Am Ende eines Drehtags geht Ferrand mit Joëlle die nächste Szene durch: Pamela und Alexandre begegnen sich nachts in der Küche.
Die nächtliche Küchenszene sehen wir von ihrer Entstehung in Ferrands Hotelzimmer bis zur Aufnahme. Joëlle schiebt die soeben abgetippten Dialoge unter der Tür von Julie durch, damit diese sie vor dem Schlafengehen lernen kann. Am Morgen darauf wird die Szene eingerichtet. Wir sehen das Team bei der Arbeit. Ferrand probt mit den Darstellern, gibt letzte Regieanweisungen. Bis Joëlle die Klappe schlägt und alles still sein muss (wegen des Direkttons) erklingt wieder die barocke Jubelmusik von Georges Delerue.
Die Liebe und ihre Spielarten (24 Bilder)
Truffaut fordert nicht die kritische Distanz wie Godard. Er feiert den Zauber des Filmemachens als unwiderstehliche Erfahrung, das Kino als die bessere Form des Lebens. Tadellos, sagt Ferrand nach dem ersten Take. Gleich noch einmal. Und Truffaut verknüpft die Liebe vor der Kamera mit der dahinter. Während Pamela und Alexandre in der Küchenkulisse beschließen, sich "wie Diebe in der Nacht" davonzustehlen, weil die Gesellschaft ihre Liebe niemals akzeptieren würde, nimmt Christian in Alexandres Stuhl Platz.
Christian wird mit einem Running Gag eingeführt. Alexandre fährt täglich zum Flughafen, um eine Person abzuholen, die nie kommt. Alle tippen auf eine junge Geliebte. Als die "Geliebte" doch noch eintrifft erscheint ein junger Mann, Christian. Die anderen reagieren darauf mit einer Selbstverständlichkeit, die nicht jedem gegeben war. In Frankreich wurde heftig über ein (1974 verabschiedetes) Reformprogramm der Regierung gestritten, das eine Liberalisierung der Abtreibung und des Scheidungsrechts vorsah sowie die Absenkung der Sexualmündigkeit für Schwule von 21 auf 18 Jahre.
Verglichen mit Heteros (15 Jahre) war das noch immer diskriminierend, doch das Alter der Sexualpartner spielte in der Debatte ohnehin eine untergeordnete Rolle, weil es um homophobe Ressentiments ganz generell ging. Die Verteidiger von Sitte und Anstand verwechselten dabei Schwule mit Pädophilen und warfen sie mit Ehebrechern und gottlosen, ihre in Sünde gezeugten Kinder abtreibenden Nymphomaninnen in einen Topf, um daraus das Zerbild von Frankreich als einem neuzeitlichen Sodom und Gomorra zu destillieren, das nun unmittelbar bevorstehe.
Xavier Saint-Macary (Christian) war damals 25 und halb so alt wie sein Filmpartner Aumont. In der homosexuellen Beziehung eines älteren Mannes zu einem jüngeren spiegelt sich die heterosexuelle Beziehung eines älteren Mannes (Dr. Nelson) zu einer jüngeren Frau (Julie Baker). Das eine ist gesellschaftlich akzeptiert, das andere nicht, obwohl - wenn man schon von Sitte und Anstand spricht - Nelson für Julie Frau und Kind verlassen hat, während sich mit Alexandre und Christian zwei unverheiratete Männer lieben. Was ist schlimmer? Truffaut entlarvt die bürgerliche Moral in ihren Widersprüchen.
Dann packt er noch Tracey mit dazu, die Darstellerin von Alexandres Sekretärin, die in der Pool-Szene keinen Badeanzug tragen will, weil sie verschwiegen hat, dass sie schwanger ist. Tracey ist unverheiratet, der Kindsvater unbekannt. Was macht man damit? Das geht uns gar nichts an, sagt der Film. Nach der für alle überraschenden Entdeckung gibt es eine Diskussion zwischen Regisseur und Produzent, dies aber nur, weil Tracey laut Drehplan jetzt eine längere Pause hat und einen nicht mehr zu verbergenden Fünfmonatsbauch haben wird, wenn sie wieder vor der Kamera steht. Dafür muss Ferrand eine Lösung finden. Moralische Bewertungen werden nicht abgegeben.
Traum vom Kino
Verheiratete Heteros, Schwule ohne Trauschein, Paare mit großem Altersunterschied, unverheiratete Mütter: sie alle werden mit demselben Respekt behandelt. Truffaut war der tolerante Spross einer intoleranten Familie. Angesichts der #MeToo-Debatte und seiner "Love Stories" dürfte man sich allerdings mehr dafür interessieren, dass Ferrand zur Drehbuchbesprechung in sein Hotelzimmer bittet, mit Bett und Bademantel wie bei Harvey Weinstein (und mit Pauline Kaels Citizen Kane Book im Bücherstapel).
Joëlle hat trotzdem nichts zu befürchten, obwohl der Sex in diesem Film als etwas präsentiert wird, das genauso zum Leben gehört wie das Essen und das Trinken und - Ehrensache für die Nouvelle Vague - der Kinobesuch. Joëlle und Bernard nutzen eine Autopanne für ein Quickie im Gebüsch, dann findet Joëlle den Requisiteur mit Odile im Bett, und Alphonse hat seine Freundin Liliane als Scriptgirl-Volontärin untergebracht, damit er sie dauernd begrapschen kann, im Hotelzimmer wie im Vorführraum.
Traum vom Kino (18 Bilder)
Während die anderen unbeschwerten Sex haben übt sich Ferrand in Keuschheit. Truffaut hält es sogar für nötig, uns das extra mitzuteilen. Bei der Drehbuchbesprechung mit Joëlle erhält Ferrand einen Anruf. Unten an der Rezeption steht Dominique, ein Callgirl. Ferrand lässt ihr ausrichten, dass er zu arbeiten habe und schickt sie weg. "Merci, bonsoir", sagt Dominique zum Portier und geht. Mit diesem geschäftsmäßigen, beinahe wortlosen Kurzauftritt der jungen Dame handelte sich Truffaut den Vorwurf einer dreisten Lüge ein.
Leute, die ihn als den Charmeur mit den unzähligen Liebschaften kannten, legten ihm zur Last, dass er sich in der Gestalt von Ferrand als einen Regisseur porträtiert habe, der für die Dauer der Dreharbeiten ein zölibatäres Leben führt, wohingegen der echte Truffaut stets bemüht war, die eine oder andere attraktive Frau ins Bett zu kriegen. Wie zur Bestätigung der Schönfärberei schickt Ferrand erst Dominique weg um sodann, nachdem er die Küchenszene mit der verbotenen Liebe gedreht hat, fast demonstrativ allein im Bett zu liegen. Das ist eine von drei Traumsequenzen.
Jede beginnt damit, dass der schlafende Ferrand in immer derselben Stellung im Bett liegt, geplagt von den Sorgen und Nöten eines Regisseurs. Dann ein Stück in Schwarzweiß. Ein kleiner Junge geht in der Nacht durch eine menschenleere Straße, einen Stock in der Hand. Am Schluss der ersten Traumsequenz dreht sich der Junge nervös um wie um sich zu vergewissern, dass er nicht beobachtet wird. Bei Sigmund Freud (siehe "Das Unheimliche") würde am Ende der Straße eine Prostituierte stehen. Bei Truffaut, in der zweiten Traumsequenz, kommt der Junge zu einem Gitter. In der dritten Sequenz sehen wir, dass es der vergitterte Eingang eines Kinos ist.
Auf dem Spielplan steht Citizen Kane von Orson Welles. Der Junge beugt das Knie wie vor einem Altar. Das Gitter trennt ihn von der Sehnsuchtswelt des Kinos. Mithilfe des mitgebrachten Stocks (engl. cane) lässt es sich zumindest soweit überwinden, dass der Junge die Aushangphotos stehlen kann. Nach jeder der drei Traumsequenzen sehen wir eine Einstellung mit dem Eingang der Victorine-Studios in Nizza. Das ist eine der Geschichten, die La nuit américaine erzählt: die Geschichte von dem Jungen, der - wie Truffaut in seiner Kindheit - aus den Pariser Kinos Memorabilien stahl und der sich als Erwachsener seinen Traum vom Filmemachen erfüllt hat.
Mag die Nacht auch noch so unruhig sein: Jeden Morgen öffnet sich für den Regisseur Ferrand die Schranke vor den Ateliers; und immer ist die Angst dabei, dass sie sich schließen könnte, wenn er vor ihr steht. Trotz offensichtlicher Gemeinsamkeiten wäre es jedoch zu einfach, Truffaut mit Ferrand gleichzusetzen. Man kommt ihm näher, wenn man Ferrand zusammen mit Alphonse sieht, seinem prätentiösen Jungstar. Mehr als in den Doinel-Filmen, wo er immer auch als Truffauts Alter ego gefragt war, oder bei Godard, der ihn als politisierten Alternativ-Truffaut über den Maoismus-Leninismus diskutieren ließ, spielt sich Jean-Pierre Léaud in La nuit américaine selbst.
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