Jacqueline Bisset und das Ende einer Männerfreundschaft

Seite 8: Kartoffelsalat und Antisemitismus

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Natürlich hätte Truffaut eine Szene einfügen können, in der die Bauern mit dem Eselskarren erzählen, was im Krieg in ihrem abgelegenen Tal geschehen ist. Aber das war nicht seine Art. Die Methode Truffaut geht anders. Unter der Oberfläche von La nuit américaine verbirgt sich ein Subtext, dem man folgen kann wie Ferrand und seine Crew den "Pamela"-Schildern, die sie von der rue Jean Vigo in das Tal der Vésubie bringen. Unterwegs begegnet man - als Zitat oder Verweis verpackt - noch anderen Regisseuren und deren Filmen.

Nehmen wir Jean Renoir. Er kommt ins Spiel, wenn Julie Baker - als Beispiel für abstruse Starallüren - einen Haufen Butter verlangt. Nicht rechteckig portioniert soll die Butter sein, sondern ein Klumpen wie auf dem Bauernmarkt. Um den Film zu retten holt Bertrand ein paar Päckchen aus dem Laden und verknetet sie mit Joëlles Hilfe zur gewünschten Form (nicht einmal die Original-Bauernbutter ist echt beim Film). Jetzt muss das Ding noch jemand zu Julie in die Garderobe bringen. Das bleibt an Ferrand hängen, weil Joëlle sich weigert.

"Nein nein nein", sagt sie, "ich bin wie der alte Koch aus La règle du jeu: Diäten lasse ich gelten, aber keine Manien." Die Spielregel ist "eine Dokumentation über den Zustand der Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt", wie Renoir sein Meisterwerk von 1939 selbst charakterisierte. Der Zeitpunkt ist der Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Dokumentiert wird das Leben der französischen Oberschicht und ihrer Dienerschaft. Wenn sich Joëlle mit dem Koch vergleicht ist das mehr als die Zitierwut eines Filmverrückten von der Nouvelle Vague.

Kartoffelsalat und Antisemitismus (13 Bilder)

La règle du jeu

Wer die Anspielung nicht versteht wird nicht als Dummkopf vorgeführt, sondern überhört sie und sieht noch immer eine komische Szene. Für den, der weiß, was gemeint ist, öffnet sich ein neues Fenster, was die Seherfahrung reicher und La nuit américaine vielschichtiger macht. Man denkt dann den von Renoir vorausgeahnten Zweiten Weltkrieg mit, oder es fällt einem auf, dass Truffaut einiges von La règle du jeu übernommen hat: von einzelnen Handlungselementen und der Struktur bis zum Charakter beider Filme als Ensemblestück.

Ferrands Gang über das Studiogelände, von Lajoie mit den Autos bis zu Bernard mit den Pistolen, ist von der berühmten Küchenszene inspiriert. Mit einer Kamerafahrt, parallel zum langen Esstisch, stellt uns Renoir einige von den Dienern vor. Sie teilen die schlechten Eigenschaften der Aristokraten in der Etage über ihnen, und auch den Antisemitismus. So mokiert sich die Dienerschaft über die jüdische Herkunft des Marquis de la Chesnaye. Plötzlich taucht im Hintergrund der Koch auf und mischt sich in das Gespräch ein. Die Leute aus der Oberschicht, sagt er, essen wie die Schweine.

Der Marquis hingegen habe ihn über seinen Kartoffelsalat ausgefragt und sich dabei als ein wahrer Kenner gezeigt, der weiß, wie wichtig die Details sind, und ihre Reihenfolge bei der Zubereitung. Darum sei der Mann, Jude hin oder her, für ihn ein feiner Herr. Der Koch vergisst da einen Moment lang seinen Antisemitismus und beurteilt den Marquis nicht nach seiner Herkunft, sondern als Person; danach, wer er ist und was er kann. Joëlle hat gute Gründe, wenn sie sich mit ihm vergleicht. Auf die Einzelheiten kommt es an.

Verdrängte Schuld und Filmzensur

À propos Lajoie. Der Aufnahmeleiter ist für einen der drei Running Gags in La nuit américaine zuständig (die beiden anderen sind Alexandres tägliche Fahrt zum Flughafen und die Frage von Alphonse, ob Frauen etwas Magisches haben). Lajoie (Gaston Joly) sieht man öfter mit einer grimmigen Dame, die immer ihr Strickzeug dabei hat und ihm folgt wie ein Schatten. Magisch ist da nichts. Einmal muss Ferrand die Dame bitten, ein paar Meter zur Seite zu gehen, weil sie sonst mit im Bild sitzt. Dabei erfahren wir, dass das Lajoies Gattin ist.

Joëlle erzählt, dass Madame Lajoie ihren Mann nie aus den Augen lässt, weil sie furchtbar eifersüchtig ist und glaubt, dass alle Frauen mit ihm schlafen wollen. Im Filmteam heiße das Paar nur das Leid (chagrin) und das Mitleid (pitié). Das ist mehr als ein Wortspiel (aus Freude/Lajoie wird Leid und das Team hat Mitleid mit dem Aufnahmeleiter, dem seine Frau das Leben zur Hölle macht). Le chagrin et la pitié (1969) ist ein Dokumentarfilm von Marcel Ophüls über Widerstand, Kollaboration, Antisemitismus und das alltägliche Leben im Frankreich der Jahre 1940 bis 1944.

Le chagrin et la pitié

La nuit américaine wirkt, als reihe er locker Episoden aneinander und ist doch sehr sorgfältig konstruiert. Das Leinwandleben von Pamela (als fiktive Figur hat sie kein anderes) beginnt und endet mit Hinweisen auf die Okkupationszeit. Bei ihrer "Geburt" (der ersten Einstellung mit Pamela im Film im Film) fahren sie und Alphonse im blauen Auto des Regieassistenten beim Haus der Eltern vor, eingeführt durch Joëlles Wortspiel mit Le chagrin et la pitié. Bei ihrem Tod stürzt sie mit diesem Auto in die Schlucht im Tal der Vésubie, das den Juden eine Zuflucht bot, während anderswo die Kollaborateure Juden ans Messer lieferten (wie die Mutter von Suzanne Schiffman, dem Vorbild für Joëlle).

Verdrängte Schuld und Filmzensur (10 Bilder)

La nuit américaine

Anhand von La nuit américaine ließe sich auch eine kurze Geschichte der Filmzensur in Frankreich erzählen, beginnend mit dem frühen Tonfilm. Jean Vigo hatte Anfang der 1930er genauso mit der Zensur zu kämpfen wie Jean Renoir am Ende des Jahrzehnts. La règle du jeu wurde gleich zweimal verboten, kurz nach Beginn des Krieges und nach Kriegsende schon wieder. In der Zeit zwischen den beiden Verboten, im besetzten Frankreich, war das französische Kino Teil der deutschen Propagandamaschinerie. Ophüls’ Le chagrin et la pitié ist der beste Dokumentarfilm über diese Zeit.

In Deutschland lief er ohne größere Widerstände im Fernsehen (als Das Haus nebenan). In Frankreich, wo Jacques Chirac 1995 ein Tabu brach, weil er - als Staatspräsident - erstmals eine französische Mitschuld an den Judendeportationen anerkannte, war Le chagrin et la pitié 1969 ein Politikum. Erste private Aufführungen sorgten gleich für einen Skandal. Auf Druck der Regierung verweigerte das französische Fernsehen die Ausstrahlung (ein Bann, der bis 1981 andauern sollte). Als sich Truffaut der Sache annahm gelang es, den Film in einige Kinos zu bringen. Die Zuschauerresonanz war enorm.

Treue zu den Toten

Truffaut verweist nicht nur auf die Werke anderer Filmemacher, er zitiert sich auch selbst. Am offensichtlichsten ist das bei der Szene mit dem Kätzchen und dem Frühstückstablett. Das hatte man zuvor in La peau douce gesehen. Beide Male folgt das Frühstück einem Ehebruch. In Die süße Haut hat eine junge Stewardess (Françoise Dorléac) mit einem verheiraten älteren Mann geschlafen. In "Je vous présente Paméla" hat Pamela Sex mit dem Vater von Alphonse. Daraus resultieren - nach der Logik des Melodrams - zwei Todesfälle. Pamela stirbt beim Autounfall. Alphonse erschießt seinen Vater (wie die betrogene Ehefrau in La peau douce ihren Gatten).

Für einen Film, der so leicht und locker daherkommt wie La nuit américaine, wird überraschend viel gestorben, im Film im Film und darum herum. Séverine wird nach den Dreharbeiten zu ihrem Sohn fahren, der Leukämie im Endstadium hat. Gérard, einer aus der Crew, bittet Ferrand um drei Tage Urlaub, weil er zum Begräbnis seiner Mutter muss. Es gibt so viel Tod und Sterben, dass es fast frivol wirkt, wenn sich Stacey mit ihrem Fünfmonatsbauch zum Gruppenphoto aufstellt.

Treue zu den Toten (19 Bilder)

La peau douce

Einmal erhebt sich ein Flugzeug mit lautem Dröhnen über den Kulissen. Das leitet eine Szene ein, in der sich Ferrand bei Alexandre dafür entschuldigt, dass er in "Je vous présente Paméla" sterben muss. Alexandre nimmt es gelassen. In nunmehr 80 Filmen, antwortet er amüsiert, sei er 24-mal auf die eine oder andere Weise ums Leben gekommen, aber noch nie eines natürlichen Todes gestorben (vgl. die Projektionsgeschwindigkeit beim Tonfilm: 24 Bilder pro Sekunde). Das sei richtig so, weil er den Tod für nichts Natürliches halte. Wie im Kino, so im Leben. Beim Drehen der Ballszene bringt Bertrand die Nachricht, dass Alexandre einen tödlichen Autounfall hatte. Auf der Straße zum Flughafen von Nizza.

1967 hatte Françoise Dorléac einen Unfall mit einem Mietwagen. Sie war unterwegs zum Flughafen von Nizza. Bei der Autobahnausfahrt nach Villeneuve-Loubet, rund 50 Kilometer von dem Ort entfernt, wo Pamela mit ihrem Wagen in die Schlucht stürzt, überschlug sich der Wagen und geriet in Brand. Françoise konnte sich nicht befreien und verbrannte bei lebendigem Leib. Seine Bekanntheit (aber das ist wirklich ein Zufall) verdankt Villeneuve-Loubet einem berühmten Bewohner. Marschall Pétain, der "Held von Verdun" und Chef der mit den Nazis kollaborierenden Vichy-Regierung, besaß dort ein Landhaus, das er 1942 zum letzten Mal besuchte und das nach dem Krieg viele Rechtsextreme anzog.

Als Truffaut die Nachricht von Françoises Tod erreichte drehte er gerade La mariée était en noir, in den Seealpen und nicht weit weg vom Unfallort. Er war so getroffen, dass er den Film zunächst abbrechen wollte. Die Autounfälle von Pamela und Alexandre sind (nicht die einzigen) Stellen in La nuit américaine, wo die Fiktion mit der Wirklichkeit verschmilzt. Vielleicht war das Truffauts ganz persönliche Art der Konfrontationstherapie. Vielleicht mussten die Unfälle sein, weil er den Tod von Françoise Dorléac weder vergessen konnte noch wollte. "Ich bin den Toten treu", sagte er 1978 in einem Interview, "ich lebe mit ihnen."

Schüsse im Schnee

Alexandre wird beigesetzt. Dann kommt die merkwürdigste Szene des Films. Ferrand sitzt in einem Auto und fährt auf dem Studiogelände im Kreis herum. Aus dem Off hören wir seine (Truffauts) Stimme: "Mit Alexandre ist eine ganze Kino-Epoche verschwunden. Die Ateliers veröden, die Filme werden auf der Straße gedreht, ohne Stars und ohne Drehbuch. Filme wie Je vous présente Paméla werden nicht mehr gemacht." Dann fährt er aus den Victorine-Studios hinaus. Was soll das heißen? Dreht Ferrand seinen Film in den 1940ern oder 1950ern, als das Studiosystem zerbrach, obwohl wir im Nizza der frühen 1970er sind?

Ist das der Grund, warum Ferrand und seine Crew nie die Klamotten wechseln? Sind wir aus der Zeit gefallen und in einem Paralleluniversum gelandet, in dem die Nouvelle Vague noch gar nicht stattgefunden hat? Man weiß es nicht. Jedenfalls muss der Film irgendwie gerettet werden. Aus London reist ein Herr von der Versicherungsgesellschaft an. Ihn spielt Graham Greene, der Autor von Der dritte Mann (mit einer Paraderolle für Orson Welles als Harry Lime). Truffaut hielt ihn angeblich für einen pensionierten englischen Geschäftsmann und erfuhr erst später, um wen es sich da handelte, aber das dürfte nicht viel mehr als eine amüsante Anekdote sein.

Schüsse im Schnee (17 Bilder)

La nuit américaine

Der Engländer hat als Dolmetscher den französischen Repräsentanten seiner Firma mitgebracht. Ihn spielt Marcel Berbert, der Produzent von La nuit américaine und das Vorbild für Bertrand, den Produzenten von "Je vous présente Paméla". Das Original und sein Doppelgänger stehen nebeneinander, wenn Greene die schlechte Nachricht verkündet: Die Versicherung zahlt für fünf zusätzliche Arbeitstage. Alle Szenen Alexandres mit einem anderen Schauspieler neu zu drehen kommt nicht in Frage. Viel zu teuer. Die Filmhandlung muss nun gekürzt und gestrafft werden.

Ferrand ist mindestens so pragmatisch wie Truffaut. Der Film muss fertig werden, und wenn Alexandre für seine Sterbeszene nicht mehr da ist zeigt man sie eben aus der Distanz. Alphonse erschießt seinen Vater jetzt von hinten (damit man das Gesicht des Doubles nicht sieht). Das ist sowieso viel besser, sagt Ferrand. Joëlle schlägt vor, die Szene auf einem verschneiten Platz zu drehen. Das kostet eigentlich nur Geld, lohnt sich aber trotzdem, weil es eine schöne Hommage an Orson Welles ist.

Im schon erwähnten Vorwort zum Buch von André Bazin schreibt Truffaut, Welles habe Filme "mit rechts" (Citizen Kane, The Magnificent Ambersons, die Shakespeare-Adaptionen) und "mit links" gedreht (Thriller wie The Stranger, The Lady from Shanghai): "In den ersteren gibt es stets Schnee, in den letzteren fallen stets Schüsse. Doch sie alle sind, wie Jean Cocteau es nannte, ‚filmische Poesie’." In La nuit américaine, Truffauts Liebeserklärung an das Filmemachen und an seine Kinohelden, gibt es Schnee und es fällt ein Schuss.

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