Jacqueline Bisset und das Ende einer Männerfreundschaft
Seite 3: Orientierungsstörung bei der Métro
- Jacqueline Bisset und das Ende einer Männerfreundschaft
- Der Preis des Filmemachens
- Orientierungsstörung bei der Métro
- Film als Tagebuch
- Zwischen Lebensfreude und Suizid
- Altstar sucht Dialog
- Wie ein Zug in der Nacht
- Kartoffelsalat und Antisemitismus
- Ein Regisseur, der nicht bumst
- Auf einer Seite lesen
La nuit américaine kann man als Reaktion auf diesen Vorwurf verstehen, und auch als Reaktion auf Le mépris. Sollte es anders gewesen sein tat Truffaut zumindest nichts, um diesen Eindruck zu vermeiden. Er scheint da weiterzumachen, wo Godard fast zehn Jahre vorher aufgehört hatte. Le mépris endet damit, dass Fritz Lang eine Szene des Odysseus-Films dreht. "Silence!" ruft Godard als Regieassistent. Wir sehen das blaue Meer und dann einen Schlusstitel in blauer Schrift. Blau war die Erkennungsfarbe der Nouvelle Vague. Blau sind auch die Anfangstitel von Die amerikanische Nacht. "Beaucoup de silence!" sind die ersten Worte, die wir hören.
Es spricht Georges Delerue, der die Musik für Le mépris geschrieben hat und nun mit dem Orchester die Musik für La nuit américaine probt. Truffaut zeigt nicht den Komponisten und die Musiker, sondern - in Form zweier vertikaler, sich seitlich ausbuchtender Linien - den sichtbar gemachten Soundtrack. Das ist das Pendant zum Beginn von Le mépris, wo uns Godard Raoul Coutard bei einer Kamerafahrt zeigt und die (nicht sichtbaren) Vorspanntitel spricht. Die Kamerafahrt wird gleich nachgeliefert. In der ersten Sequenz des Films führt sie uns über einen belebten Platz. Ein junger Mann kommt aus der U-Bahn: Jean-Pierre Léaud.
Orientierungsstörung bei der Métro (Le mépris) (15 Bilder)
Die Kamera folgt dem jungen Mann, scheint sich dann aber mehr für ein über den Platz fahrendes Cabrio zu interessieren. Es ist rot wie der Alfa Romeo, in dem Camille und Prokosch beim Zusammenstoß mit einem LKW sterben, in Le mépris. Ich glaube nicht, dass das ein Zufall ist in diesem Film, in dem der Requisiteur das letzte Wort haben wird und eine der Hauptfiguren bei der Kollision mit einem LKW stirbt. Wir sind also wieder auf vertrautem Nouvelle-Vague-Gebiet, mit Zitaten und Querverweisen und versteckten Botschaften für Cineasten.
"Plakatieren verboten" steht auf der Hauswand neben dem Friseurladen, wie das "Betreten verboten" (ein Citizen-Kane-Zitat) am Ende von Le mépris, auf der Treppe zwischen dem blauen Meer und der rot angestrichenen Villa Malaparte. Wer hier ein Plakat ankleben will - sagen wir: das schon etwas lädierte Vivre-sa-vie-Plakat mit Anna Karina aus Die Verachtung - muss damit rechnen, dass er von den beiden Gendarmen, die den Platz kontrollieren, festgenommen wird. Das ist die Selbstironie eines Regisseurs, dem seine Gegner vorwarfen, ein Sklave des von Hollywood diktierten Regelbuches geworden zu sein.
Die Kamera konzentriert sich nun auf einen Mann Mitte 50 (Jean-Pierre Aumont), der die Treppe vor dem "Plakatieren verboten" heruntergekommen ist und nähert sich ihm, bis plötzlich wieder Léaud im Bild erscheint. Die beiden stehen sich gegenüber, fixieren sich wie zwei Cowboys beim Duell, dann gibt der Jüngere dem Älteren eine Ohrfeige. "Schnitt!" ruft Truffaut (in seiner Rolle als Regisseur Ferrand), der das Ganze wiederholen will. Wir haben nicht etwa die Wirklichkeit gesehen, sondern eine Filmszene mit einer Kranfahrt, die die Illusion erzeugen soll, dass wir als unsichtbare Beobachter am echten Leben teilhaben dürfen.
Orientierungsstörung bei der Métro (La nuit américaine) (32 Bilder)
Klassisches Erzählkino eben, nur mit dem nicht unerheblichen Unterschied, dass die Illusion erst geschaffen und dann zerstört wird, um uns darauf aufmerksam zu machen, wie artifiziell das alles ist. Darum sehen wir jetzt auch den Scheinwerfer, den Kamerakran und den Regieassistenten, der mit einem Megaphon die Komparsen zu sich ruft, um Manöverkritik zu üben. Die Ohrfeige, die Léaud Aumont verabreicht hat, war schmerzhaft. Überzeugend war sie nicht. Im Film ist nur realistisch, was realistisch aussieht. Also probt Ferrand mit seinen Hauptdarstellern noch einmal, wie man "realistisch" ohrfeigt (im Sinne einer uns antrainierten Sehgewohnheit). Dann geht es wieder von vorne los.
Beim zweiten Versuch wird es nicht bleiben. Der Bus fährt zu spät ab, oder es kommen mal zu viele und mal zu wenige Statisten aus der U-Bahn, und als alles zu klappen scheint gehen zwei Komparsinnen im falschen Moment los, lenken von der Ohrfeige ab und von den Stars, die im Mittelpunkt stehen sollten. Aus Sicht der Hollywood-Polizei sind solche Fehler in der Choreographie sehr ärgerlich. Stars sind dafür da, dass sie das Bild dominieren und uns Orientierung bieten in einer Welt, die verwirrend ist, wenn die unseren Blick lenkenden Hierarchien nicht mehr da sind.
Ohne den Star in Großaufnahme ist das eine nicht bedeutsamer als das andere, müssen wir auf alles achten, weil wir nicht wissen, wer oder was noch wichtig werden könnte: die Frau mit dem Kinderwagen, die Schrift an der Wand, der auf Kunden wartende Friseur oder doch das rote Auto, das aus dem Bild gefahren ist? Wir sind also auf zwei Ebenen unterwegs. Auf der einen klappt die von Ferrand einstudierte Choreographie nicht. Auf der anderen erfahren wir eine Orientierungslosigkeit, die das Resultat der Inszenierung von Truffaut ist, der die Fehler im Ablauf genau so haben wollte. Das ist doch schon mal recht komplex.
Hinter den Kulissen bemüht sich unterdessen ein Fernsehreporter um die Interviews für einen Drehbericht. Dabei kann er sich auf die Hilfe von Bertrand verlassen. Als Produzent weiß Bertrand genau, dass solche Berichte eine gute Reklame sind. Nur selber vor die TV-Kamera treten will er nicht - ein erfreulicher Zug, wenn man an die schwer erträglichen Making ofs unserer Tage denkt, in denen die Produzenten die Gelegenheit erhalten, sich in schamlosen Lobhudeleien auf alles und jeden zu ergehen, was irgendwie mit dem Film zu tun hat.
Bertrand übt sich in angenehmer (und durchaus falscher) Bescheidenheit. Als Produzent, sagt er, müsse man im Schatten bleiben. Interessant ist die Inszenierung. Der Darsteller, Jean Champion, ist gut ausgeleuchtet, wenn er vom Schatten spricht, und er erhält eine Großaufnahme, die er nicht haben möchte. Bertrand ist dauernd in Bewegung, als wolle er aus der Einstellung fliehen. Die Kamera hat Mühe, ihn dort festzuhalten. Durch die Großaufnahme, nicht durch den Dialog zeigt sich die Bedeutung der Figur. Truffaut ist ein sehr subtiler Regisseur, der nicht zur großen Geste neigt.
Regisseur und Verführer
Alle, die Truffaut gut kannten, sind sich darin einig, dass er ein Mensch war, in dem heftige Leidenschaften tobten. Das Filmemachen half ihm über die schwarzen Gedanken hinweg, die ihn zu anderen Zeiten nur mit Tabletten schlafen ließen und er konnte dabei Gefühle ausleben, für die er sonst kein Ventil hatte. Bei ihm zeigte sich dieses Ausleben nicht in Sadismus und diktatorischem Regisseursgehabe, sondern im Erzählen bestimmter Geschichten und im Anbändeln mit der Hauptdarstellerin. Heute würde man ihn womöglich in einen Topf mit Harvey Weinstein werfen, weil in der #MeToo-Debatte selten Zeit für Differenzierungen bleibt.
Truffaut hasste körperliche Gewalt. Niemand scheint ihm je vorgeworfen zu haben, dass es etwas anderes gab als Sex in gegenseitigem Einvernehmen. Unproblematisch war sein Verhalten aber trotzdem nicht. Baecque und Toubiana zitieren aus einem Brief Truffauts an die Schauspielerin Liliane Dreyfus, mit der er früher einmal (heimlich) liiert gewesen war. "Wenn ich arbeite werde ich zum Verführer", heißt es in dem Brief, den er während der Dreharbeiten zu Les deux anglaises schrieb, "und ich spüre es, und gleichzeitig versetzt mich diese Arbeit, die schönste der Welt, in einen Gefühlszustand, der den Beginn einer love story fördert."
Regisseur und Verführer (12 Bilder)
Denn: "Mir vis-à-vis habe ich üblicherweise ein Mädchen oder eine Frau mit wachen Gefühlen, die mir furchtsam und folgsam vertraut und zur Hingabe bereit ist. Was dann geschieht, ist immer dasselbe. Manchmal verläuft die love story synchron mit den Dreharbeiten und hört auch mit ihnen wieder auf; in anderen Fällen geht sie auf Wunsch eines oder beider Beteiligten weiter." Mit wachen Gefühlen. Furchtsam und folgsam vertrauend. Zur Hingabe bereit. Diese "Love Story" des Regisseurs mit einer Schauspielerin lässt sich auch als Abhängigkeitsverhältnis interpretieren, das der Verführer für seine Zwecke ausnützt.
In La nuit américaine gibt es eine der seltenen Szenen in Truffauts Werk, in denen - eher indirekt - Dinge verhandelt werden, die von seiner Art des Filmemachens schwer zu trennen sind und über die er nicht sprechen wollte, oder nur in seiner privaten Korrespondenz. Alexandre und Dr. Nelson, der Mann des von Jacqueline Bisset gespielten Hollywoodstars Julie Baker, fahren zusammen zum Flughafen. Julies letzter Film musste abgebrochen werden, weil sie einen Nervenzusammenbruch hatte. Es sei erstaunlich, meint Alexandre, wie verletzlich Schauspieler sind.
Dr. Nelson, von Beruf Psychiater, hält das für ganz normal. Jeder Mensch habe Angst davor, beurteilt zu werden. Bei Schauspielern sei es aber ein Teil des Lebens, dass sie beurteilt werden, bei der Arbeit und privat. Richtig, erwidert Alexandre. Darum sei es für Schauspieler auch so wichtig, dass sie sich geliebt fühlen. Man müsse sich dauernd um den Hals fallen, sich küssen und Sachen sagen wie "Mon chérie, my darling, my love, du bist wunderbar." "Wir brauchen das", sagt Alexandre als ein Mann, der auf ein langes Berufsleben zurückblicken kann und weiß, wovon er spricht.
Die Szene ist recht zwiespältig. Zum einen wird ein Metier beschrieben, das nicht ist wie jedes andere, weil die Leute, die da arbeiten, im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen, permanent bewertet werden und deshalb besonders liebesbedürftig sind, menschliche Wärme und Nähe brauchen, weil die Situation so besser auszuhalten ist. Zugleich ist für den Dialog ein Mann verantwortlich, der bei der Filmarbeit zum Verführer wurde und das intime Verhältnis zur jeweiligen Hauptdarstellerin suchte. Die Grenzen zwischen Berufsbeschreibung und Rechtfertigung sind da fließend.
Als Dr. Nelson sitzt David Markham neben Alexandre, der Vater von Kika Markham. Kika hatte zwei Jahre davor eine der Titelheldinnen in Les deux anglaises gespielt, und in der Berufliches mit Privatem verbindenden "Love Story" des Regisseurs die Rolle der Geliebten übernommen. Das ist, als würde Jean-Pierre Aumont - anstelle von Truffaut - dem Vater vor laufender Kamera erklären, warum dessen Affäre mit seiner Tochter die Dreharbeiten nicht lange überdauerte, als Teil eines sehr speziellen Berufsbildes.
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