Jacqueline Bisset und das Ende einer Männerfreundschaft

Seite 9: Ein Regisseur, der nicht bumst

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Der Film wird doch noch fertig. Alle machen sich zur Abreise bereit. Ein Filmteam ist - im Guten wie im Schlechten - wie eine Großfamilie auf Zeit. Man kommt zusammen, bildet eine Gemeinschaft, geht wieder auseinander, wenn der Film abgedreht ist. Truffaut will - Godard zum Trotz - keine die Konventionen zertrümmernde, sondern eine gut konstruierte Geschichte erzählen, mit Anfang, Mitte und Schluss in der üblichen Reihenfolge. Darum taucht am letzten Tag wieder der Fernsehreporter auf, der auch am ersten Tag schon da war. Den Film schließt das ab wie die zwei Deckel vorn und hinten ein Buch.

Es will sich nur keiner vor das Mikrophon stellen mit Ausnahme des Requisiteurs. Bertrand weiß, was verlangt wird. "Wir hoffen, dass das Publikum beim Anschauen dieses Films das gleiche Vergnügen hat wie wir beim Drehen", sagt er direkt in die Kamera und kommt ihr so nahe, dass man kurz erschrecken kann. Am Anfang wie am Ende wird die von der Filmindustrie verkaufte Illusion zerstört, dass wir unsichtbare Beobachter sind, die im Kino ein Stück vom echten Leben sehen dürfen. Zum Abschluss schlüpft Truffaut in die Rolle des allwissenden Erzählers. Aus der Vogelperspektive stellt er uns noch einmal die Darsteller vor wie Medaillons in einem Erinnerungsalbum, begleitet von Delerues jubilierender Musik.

Godard war nicht vergnügt. Am Tag, nachdem er Die amerikanische Nacht gesehen hatte, schrieb er Truffaut einen Brief, in dem er gleich zur Sache kommt. "Wahrscheinlich wird dich niemand einen Lügner nennen", lautet der zweite Satz, "also tue ich es." Das sei keine größere Beleidigung als "Faschist", denn Filme wie La nuit américaine "hinterlassen nur die Abwesenheit von Kritik, und die beklage ich. Du sagst: Filme sind wie große Züge in der Nacht, aber wer nimmt den Zug, in welcher Klasse sitzt man, und wer ist es, der den Zug steuert, mit dem ‚Spitzel’ von der Direktion an seiner Seite?"

Ein Regisseur, der nicht bumst (13 Bilder)

La nuit américaine

Nach weiteren Anwürfen kommt Godard zum eigentlichen Zweck des Briefes. Er wirft Truffaut vor, sich bei denen eingereiht zu haben, die "klotzend produzieren" und das Geld verbrauchen, das dann für Filme wie die seinen nicht mehr zur Verfügung stehe: "Euch hindert niemand daran, den Zug zu nehmen, aber ihr hindert andere." Godard arbeitete damals an einem neuen Projekt, "Un simple film", das unvollendet blieb, weil ihm mitten unter den Dreharbeiten das Geld ausging. Truffaut forderte er nun auf, sich mit zehn Millionen Francs an den Kosten zu beteiligen: "Angesichts von La nuit américaine müsstest du mir helfen, damit die Zuschauer nicht glauben, es würden nur Filme wie deine gemacht."

Erst beleidigen und dann Kohle einfordern: sehr diplomatisch war das nicht. Doch es war typisch für Godard, der immer und aus Prinzip auf Konfrontationskurs ging und daraus seine Energie bezog. Wie für Bert Brecht beim Zoff wegen der Verfilmung der 3Groschenoper war der Streit für ihn ein "soziologisches Element", das Machtstrukturen sichtbar machte. Heute strahlt Godard eine gewisse Altersmilde aus, aber das ist wahrscheinlich trügerisch. Damals war es bestimmt nicht leicht, sein Freund zu sein.

Der persönlichste Angriff steckt in diesem Satz: "Lügner, denn die Einstellung von dir und Jacqueline Bisset neulich abends bei Francis [Chez Francis ist ein Luxusrestaurant gegenüber dem Eiffelturm in Paris] fehlt natürlich in deinem Film, und man fragt sich, warum der Regisseur der einzige ist, der in La nuit américaine nicht bumst.". Mit anderen Worten: Jeder weiß, dass du immer mit der Hauptdarstellerin schläfst, und dann drehst du einen Film, in dem der Regisseur ohne Jacqueline Bisset im Bett liegt. Diese Auslassung ist eine von deinen Lügen, du mieser Kerl.

Bei Truffaut gibt es dazu eine interessante Szene. Ferrand und sein Kameramann Walter stehen im Korridor des Hotel Atlantic und schauen sich Starphotos von Julie Baker an. "Die kenne ich", sagt Walter. "Ich habe sie in einem Film mit einer Autoverfolgungsjagd gesehen" (Bullitt mit Bisset als Partnerin von Steve McQueen). Einen traurigen Blick habe die Schöne, meint Ferrand, aber sexy sei das auch. Die zwei Männer sind Profis und könnten doch auch Filmfans sein, die Photos von ihrem Leinwandidol sammeln.

Truffaut war beides: Der Regisseur und Autor mit eigener Produktionsfirma und der ewige Fan, der als Junge Aushangphotos aus den Pariser Kinos geklaut hatte wie der junge Ferrand in Die amerikanische Nacht. Als Regisseur kriegte er Schauspielerinnen ins Bett, die er als Fan nur anhimmeln konnte, aus der Distanz. Das war auch eine Möglichkeit, das Gitter zu überwinden, das den Jungen in den Traumsequenzen von den Bildern trennt, die er schließlich mit nach Hause nimmt. In seiner privaten Korrespondenz beschreibt Truffaut das Filmemachen als ganzheitliches erotisches Erlebnis, den Sex mit der Hauptdarstellerin als Mittel zur Steigerung seiner Kreativität als Künstler.

Verachtung auf halber Treppe

Heute kann man das nicht mehr bringen. Die #MeToo-Debattierenden würden Truffaut solche Erklärungen um die Ohren hauen. Aber warum war Godard der Bisset-Vorwurf so wichtig, dass er auch noch mit dazu musste, eingebettet in einen kryptischen Hinweis auf verschwiegene NS-Verbrechen und die erste Erwähnung seines eigenen Filmprojekts? Als 1988 ein dickes Buch mit Briefen von Truffaut erschien, in dem der von Godard mit abgedruckt war, ging die Suche nach den Gründen los. Warum hatte Godard diesen gehässigen Brief geschrieben? Nur wegen künstlerischer Differenzen, oder war da mehr?

Einige Interpreten führte ihr Spürsinn zu Godards Charlotte et son jules (Charlotte und ihr Typ), einem Kurzfilm von 1958. Charlotte (Anne Colette, Godards damalige Freundin) hat einen erfolglosen, von Jean-Paul Belmondo gespielten Romanschriftsteller für einen Filmregisseur mit Cabrio verlassen, kommt zurück und muss einen langen Monolog über Dummheit, Unmoral und großmütiges Verzeihen über sich ergehen lassen, ehe sie sagen kann, dass sie nur ihre Zahnbürste holen wollte. Das ist das erste (und nicht das letzte) Mal bei Godard, dass man eine Tirade über das Filmgeschäft als eine Form von Prostitution und Zuhälterei hört.

Verachtung auf halber Treppe (18 Bilder)

Charlotte et son jules

Beim Film, ereifert sich Belmondo, schläft jeder mit jedem. Es gibt keine Moral. Beziehungen haben nicht viel zu bedeuten. Rollen werden im Bett vergeben. Frauen wie Charlotte machen es sogar umsonst, weil sie weder das Gewerbe noch den Unterschied zwischen Liebe und einer Illusion davon verstanden haben. Das ganze Medium Film ist eine einzige große Lüge. Die Tirade hat etwas Selbstironisches, etabliert aber auch ein Thema, das Godard weiter beschäftigen sollte: in À bout de souffle, in Vivre sa vie, in Le mépris und so weiter. Die besondere Note erhält der Monolog dadurch, dass er von Godard gesprochen wird und nicht von Belmondo, der bei der Nachsynchronisation zum Militärdienst in Algerien war.

In La nuit américaine übernimmt Madame Lajoie die Belmondo/Godard-Rolle. Nachdem Julie mit Alphonse geschlafen und sich eingeschlossen hat gibt es eine kleine Versammlung vor ihrer Garderobentür. Madame Lajoie (Zénaïde Rossi), die bisher nur geschwiegen und grimmig zugeschaut hat, ergreift das Wort: "So geht das also zu beim Film! Was ist denn das für ein Beruf? Jeder schläft mit dem Nächstbesten, jeder küsst den anderen ab, alle duzen sich, alle lügen! Was soll das alles sein? Finden Sie das normal? Ich finde euer … ich finde euer Kino unausstehlich! Ich verachte euch und euer Kino! Ich verachte es! Ich verachte es!"

In der deutschen Synchronfassung hat man das Verb mépriser leider mit "hassen" übersetzt: "Ich hasse euch und euer Kino!" Es sollte aber schon die Verachtung und nicht der Hass sein, da La nuit américaine Truffauts Antwort auf Godards Le mépris ist. Vielleicht ist es Zufall oder einfach dem Drehort geschuldet, dass Madame Lajoie ihre Verachtung auf halber Treppe bekundet. Einen besseren Platz hätte Truffaut trotzdem nicht finden können. Auch bei Godard ist es ein Treppenhaus, in dem Camille ihrem Mann zum ersten Mal sagt, dass sie ihn verachtet, nachdem er sie mit dem Produzenten verkuppeln wollte.

Truffaut hat Madame Lajoies Tirade nicht wortwörtlich von Charlotte et son jules übernommen, wie in einigen Deutungen des Zerwürfnisses zu lesen, sinngemäß aber sehr wohl. Sah sich Godard also zuerst als kleiner Mann mit Hut karikiert und dann auch noch als geifernde Spießerin, die so eifersüchtig über ihren Gatten wacht wie er einst über Karina, von der er verlangt hatte, ihre Filmkarriere aufzugeben, damit sie nicht mit anderen Regisseuren drehen (schlafen) konnte? Verwunderlich wäre das nicht. Mit der Besetzung von Ernest Menzer ließ ihm Truffaut fast keine andere Wahl. War der Bisset-Vorwurf die Retourkutsche?

Godard jedenfalls war Jacqueline Bisset so wichtig, dass er auch in seiner Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos (1980) nicht auf sie verzichten wollte. "Ich habe mich vollständig und endgültig mit Truffaut überworfen", erzählt er da. "Wir reden nicht mehr miteinander." Das liege zum einen an einer "Geldgeschichte" und zum anderen daran, dass er Truffaut auf die fehlende Einstellung mit Bisset und dem Regisseur angesprochen habe. Dann legt er nach und behauptet, dass Truffaut den Film überhaupt nur gemacht habe, um mit Jacqueline Bisset ins Restaurant gehen (mit ihr schlafen) zu können.

Ein Arschloch auf seinem Sockel

Truffaut, behauptet Godard in der Wahren Geschichte des Kinos, habe ihm nie geantwortet. Das stimmt nicht ganz. Truffaut war so verletzt, dass er Godard seinerseits einen zwanzig Seiten langen Brief schrieb, in dem er auflistete, was sich in ihm angestaut hatte. In dem Brief wirft er Godard ein taktisches Verhältnis zum politischen Engagement vor und Feigheit, weil er sich nicht an konkreten Aktionen wie dem von Sartre initiierten Verkauf von La cause du peuple beteiligt hatte. Godard, so Truffaut, gefalle sich in der Rolle des unangepassten und unkorrumpierbaren Kämpfers gegen das System und sei doch nur ein "elitärer Scheißer", der "wie ein Arschloch auf seinem Sockel" stehe.

"Die Kunst, dich als Opfer bemitleiden zu lassen, hast du schon immer beherrscht", schreibt Truffaut. Dabei sei es Godard, der andere Leute beleidige und terrorisiere ("diese Art umgekehrte Speichelleckerei"). "Ich hatte schon immer den Eindruck, die wahren Militanten sind wie Putzfrauen, sie verrichten täglich eine undankbare, aber notwendige Arbeit. Du bist eher wie Ursula Andress, du zeigst dich vier Minuten lang der Öffentlichkeit, damit die Kameras blitzen können, gibst zwei, drei recht verblüffende Statements, und das war’s, zurück in die vorteilhafte Versenkung." Statt mit einer Xanthippe wie Madame Lajoie verglich er Godard jetzt also mit dem Sexsymbol aus einem James-Bond-Film.

Dazu führt er Schauspielerinnen auf, die Godard als Nutten denunziert habe, weil sie mit ihm drehen wollten; die er unter (sexuellen) Druck gesetzt habe; oder auf die er sich gestürzt habe "wie Charlie Chaplin auf seine Sekretärin in The Great Dictator." "Ich zähle das alles auf", so Truffaut weiter, "um dich daran zu erinnern, in deinem Wahrheitsfilm über Kino und Sex ja nichts zu vergessen". Selbstverständlich durfte auch Jean-Pierre Léaud nicht fehlen, das "Kind der Nouvelle Vague". Godard hatte einen Brief an Léaud beigelegt, in dem er offenbar auch ihn um Geld für sein scheiterndes Projekt "Un film simple" anging.

Darüber ärgerte sich Truffaut ganz besonders. Statt den Brief weiterzugeben beschuldigte er Godard, Léauds Bewunderung für ihn auszunützen, ihn durch zu niedrige Gagen auszubeuten und beim Drehen mit dem sensiblen Darsteller keinerlei Empathie zu zeigen. Das war das Ende der Beziehung von François Truffaut und Jean-Luc Godard, die dem französischen Film so viel gegeben hatte wie kaum eine andere. Soweit bekannt redeten die beiden nie mehr ein Wort miteinander. Godard schlug wohl vor, sich auszusprechen, aber Truffaut hatte daran kein Interesse mehr.

So traurig soll es nicht enden. Am besten, man schaut sich gleich einen ihrer Filme an. Alles von Godard mit Anna Karina kann ich sehr empfehlen. Oder die erstaunlich unterhaltsamen Filme aus seiner Dziga-Vertov-Phase. Truffauts Jules et Jim, Tirez sur le pianiste, La sirène und Les deux anglaises. La peau douce nicht zu vergessen. Dieses Melo, mit dem Truffaut angeblich die Nouvelle Vague verriet, ist viel besser als sein Ruf. Eine Sezierübung an der Scheinmoral der Bourgeoisie, vorgenommen mit den Instrumenten von Alfred Hitchcock. Als Godard noch für die Cahiers du cinéma schrieb nahm er Die süße Haut in seine Liste mit den zehn besten Filmen des Jahres auf. Man lernt nie aus.

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