Journalismus im Pfingsturlaub

Seite 2: Keine Relevanz - aber eine gute Schlagzeile lässt man nicht aus

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Die Demonstration vor dem Wohnhaus eines Polizisten wird fast durchgängig "verurteilt". Auch dem Wendland-Protest Wohlgesonnene und Kritiker der Polizeiarbeit äußern sich mit dem Tenor und oft auch Wortlaut: "geht gar nicht". Ein solcher Protest, zumal von zum Teil schwarz gekleideten, vermummten Personen vor der Wohnung eines Beamten sei keine Meinungsäußerung mehr, sondern eine Drohung. In den Worten des Parteivorsitzenden der Grünen, Robert Habeck:

Keine politische Auseinandersetzung darf die Grenze zum Privaten überschreiten.

Robert Habeck

Diese große Ablehnung der Hitzacker-Aktion scheint nachträglich die bundesweite Berichterstattung zu begründen: Wir finden alle nicht gut, was da passiert ist, so etwas hat es bislang nicht gegeben und das darf es auch künftig nicht geben.

Doch das ist falsch.

Es ist falsch, weil bis heute niemand aufgrund der Medienberichte weiß, was am 19. Mai in Hitzacker passiert ist - und warum. Beides zu klären wäre die Aufgabe des Journalismus gewesen, und zwar vor der ersten Meldung. Einen von der Polizei vermeldeten Autounfall kann die Lokalzeitung in vielen Fällen ohne Warum-Recherche weiterverbreiten, der Unfall an sich ist die Nachricht. (Es gibt aber auch Fälle, in denen der Verzicht auf eigene Recherche an dieser Stelle zu einer Fehlinformation führt, etwa wenn die Polizei wie so oft behauptet, ein Fahrzeug sei "aus bisher ungeklärter Ursache in einer leichten Linkskurve von der Fahrbahn abgekommen", in Wahrheit aber der Suizid eindeutig ist.)

Bei Hitzacker hingegen genügt die Feststellung, dass es irgendeine Demonstration gegeben habe, gerade nicht für eine Nachricht. Wen sollte das interessieren, was sollte der Informationswert sein? Relevanz bekam das Ganze nur durch eine Bewertung der Polizei, die schon als erstes Schlagwort über der Meldung steht: "neue Qualität der Gewalt". Als Form der Gewalt findet sich in der offiziellen Darstellung jedoch nur folgender Satz:

Durch lautstarke Stimmungsmache, Anbringen von Bannern und ihre Vermummung versuchten die Personen die allein anwesende Familie des Polizeibeamten einzuschüchtern.

Mitteilung der Polizei

So ungenau kann das in einer journalistischen Nachricht nicht stehenbleiben, die Interpretation muss nachvollziehbar und einer Person zugeordnet sein (korrekt also dem Polizeisprecher). Die Fragen liegen doch auf der Hand: Für oder gegen was wurde denn hier demonstriert, gesungen oder in Sprechchören gerufen? Was für eine Stimmung wurde wie gemacht? Was war der Anlass dafür? Solange das nicht geklärt ist, lässt sich nicht verantwortlich berichten - und schon gar nicht eine bundesweite Relevanz konstatieren. Wer dann auch noch die Behauptung einer aggressiven Belagerung durch 60 Vermummte in den Mittelpunkt stellt, wie es die Medien von BILD bis taz getan haben, verbreitet Desinformation, Fakenews, Propaganda - und wusste, dass damit ein Thema für die nächsten Tage gesetzt ist.

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