Keine Brandmauer für die Ukraine: Der Prüfstein für guten und schlechten Populismus

Megafon

Lautes Geschrei hat Hochkonjunktur. Gegenseitige Populismusvorwürfe auch. Symbolbild: Thor_Deichmann / Pixabay Licence

Liberalismus? Minderheitenrechte? Das ist der Wertewesten flexibel. Europaweit gilt vor allem ein Kriterium, wer "die Guten" sind. Ein Kommentar.

"Kampf um Europa – Siegen die Populisten?" – so lautete dieser Tage die Fragestellung einer vieldiskutierten Sendung der Reihe "Hart aber fair". Stellenweise konnte man als Zuschauer nichts verstehen, weil sich die Rednerinnen und Redner mehrmals gegenseitig ins Wort gefallen sind und überschrien haben. Nicht nur Joscha Frahm kam dann in der taz zu dem Fazit:

Die Auftritte von Fabio De Masi (BSW) und Leif-Erik Holm (AfD) bei Klamroth erinnern an Trash-Talk à la "Britt": Geschrei ohne gutes Fact-Checking.

Joscha Frahm, taz

Dieses Urteil wirkt jedoch überraschend, wenn man sich die Sendung von Anfang bis zum Ende angeschaut hat. Denn gerade die Vertreter von BSW und AfD fielen in der Sendung dadurch auf, dass sie eher ruhig argumentierten und wenig herumschrien.

Das überließen sie tatsächlich den Vertretern der etablierten Populisten, die in Gestalt in Anton Hofreiter (Grüne), Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Katarina Barley (SPD) und Julia Klöckner (CDU), die das gesamte etablierte Parteienspektrum abdeckten.

Talkshow-Einladungspolitik: Linke unter fünf Prozent drücken?

Unterstützt wurden sie noch von einem Journalisten, der seine kapitalfreundliche Position dadurch besonders ausdrückte, dass er sich strikt gegen Steuererhöhungen auch für Konzerne wie Amazon im EU-Raum wandte. Dabei fiel ihm nur der Standortfaktor ein.

Nun gäbe es viel zu kritisieren an der Auswahl der Studiogäste. Warum musste man gleich sieben Personen einladen – und warum fehlte dann zugunsten des kapitalfreundlichen Journalisten ausgerechnet eine Vertreterin der Partei Die Linke, obwohl nicht nur sie, sondern auch die FDP laut Umfragen Gefahr läuft, im nächsten Bundestag nicht mehr vertreten zu sein?

Hier wird schon deutlich, wer medial unter die Fünf-Prozent-Hürde gedrückt werden soll. Wer nun wirklich die Populisten waren, blieb zumindest bis zum Ende der Sendung offen. Fabio De Masi zumindest wirkte am wenigsten populistisch, vor allem, als er sein Steuerkonzept erklärte.

Empörungs-Tremolo bestenfalls unwirksam gegen die AfD

Hier ist er ja in seinem Element. De Masi hat mit seiner in der Form ruhigen und in der Sache klar antifaschistischen Position gegen jede SS-Relativierung hat in der Sendung vielleicht den überzeugendsten Beitrag dazu geleistet, der AfD ein paar Stimmen abzunehmen. Alle anderen haben die AfD eher aufgewertet – vielleicht schon durch die Unfähigkeit, mehr als zwei Sätze ohne Empörungs-Tremolo in der Stimme zu formulieren.

Besonders lustig wurde es dann, als sich die SPD-Spitzenkandidatin Barley und Klöckner von der CDU angifteten. Es ging natürlich wieder einmal um die Brandmauer gegen Rechts im künftigen Europaparlament. Da hat die EU-Kommissionspräsidentin mit CDU-Parteibuch, Ursula von der Leyen, schon die Postfaschistin Giorgia Meloni aus Italien als Partnerin ausgemacht, was natürlich nicht nur eine SPD-Vertreterin ganz schlimm finden kann.

EU-Sound: Gegenseitige Populismusvorwürfe zum Machterhalt

Wann aber zuletzt in Melonis Partei Hitlergrüße gezeigt wurden, wäre sicher auch eine Frage, die in den bei der Sendung omnipräsenten Faktenchecks geklärt werden könnte. Nur da hat der Moderator – anders als bei De Masi und Holm – nicht interveniert und Fakten verlangt.

So war die Sendung gerade in ihrem Scheitern ein gutes Abbild des EU-Europas und seiner Institutionen: Da werfen sich die jeweiligen politischen Kontrahenten gegenseitig Populismus und Verrat an europäischen Werten vor. Dabei geht es eigentlich nur um Machterhalt.

Was man den Kontrahenten vorwirft, wird anderen Politikern gerne verziehen, wenn er nur das erste Gebot der aktuellen EU-Agenda beachtet: Du sollst die gegenwärtige Regierung der Ukraine mit aller Macht unterstützen – und auch nicht zu gründlich nachfragen, wenn Oppositionelle gefoltert werden. Das gilt auch für linksliberale Medien.

Rechtskonservativ und queerfeindlich, aber proukrainisch

So würdigt in der taz die Osteuropakorrespondentin Barbara Oertel die Wiederwahl des rechtskonservativen Präsidenten in Litauen:

Der litauische Präsident Gitanas Nausėda gewinnt die Stichwahl. Er ist eifriger Ukraine-Unterstützer – und Schachfan.

Barbara Oertel, taz

Damit hat Oertel gleich in der Unterüberschrift benannt, worauf es heute ankommt, wenn von europäischen Werten gesprochen wird. Ganz am Ende der Würdigung geht Oertel auf Positionen des hochgelobten Kandidaten ein, die taz-Leserinnen und Leser eigentlich verstören mussten.

Nausėda spricht sich gegen Maßnahmen zur Beendigung der Diskriminierung der LGBTQ-Minderheit und die Ratifizierung der Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen aus. Auch die Entkriminalisierung von Cannabis lehnt er ab.

Was bei den Rechtskonservativen in Ungarn mit Recht kritisiert wird, wird im Fall von Nauseda achselzuckend hingenommenen. Denn Oertel hat ja schon in der Überschrift benannt, was wirklich wichtig ist: Der Kandidat ist ein Ukraine-Unterstützer.

Präsidentschaftswahl in der Ukraine: Kann warten

Auch dieses Füllwort wird zur Phrase, wenn nicht geklärt wird, was gemeint wird, wenn das EU-Establishment von Ukraine-Unterstützung redet. Sie meinen die vor 1945 prodeutsche Fraktion, die es im Kalten Krieg geschafft hat, sich prowestlich zu kostümieren.

Dass es in der Ukraine immer auch noch andere Fraktionen gab, ist bekannt. Es gab gerade in der Ostukraine Menschen, die sich selber prorussisch nannten und dann gab es in der gesamten Ukraine nicht wenige, die daraus die gar nicht so dumme Konsequenz zogen: Ein Staat mit einer so diversen Bevölkerung sollte in der geopolitischen Positionierung zwischen Nato und russischer Welt neutral bleiben.

Für diese Positionen gab es in der Ukraine auch Mehrheiten, bis 2014. In diesem Jahr ergriff im Maidan-Aufstand die prowestliche Fraktion die Macht, stürzte eine bürgerlich-demokratisch gewählte Regierung und verbot auch gleich zahlreiche Parteien und Organisationen aller anderen Fraktionen, damit auch gar nicht die Gefahr bestand, die prowestliche Fraktion könnte die Wahlen wieder verlieren.

Was Oppositionellen in der Ukraine blüht

Welche Folgen diese Repression hatte, zeigt ein Bericht in der linksliberalen Jungle World, die die aktuelle Regierung in der Ukraine im Krieg gegen Russland unterstützt, am Beispiel des ukrainischen Sozialdemokraten Viktor Medwedschuk. In dem Text wird deutlich, wie die prowestliche Fraktion ihre Macht durch die Unterdrückung der Opposition ausbauen und stabilisieren will und wie sie im Westen dabei unterstützt wird.

In der Sprache des prowestlichen Autors liest sich das so:

Der Sieg der nächsten "Maidan-Revolution" im Jahr 2014 durchkreuzte auch Medwedtschuks Versuch, mit der 2012 gegründeten Organisation Ukrainische Wahl eine prorussische Bewegung aufzubauen. Nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ostukraine und der russischen Annexion der Krim verhängten die USA Sanktionen gegen ihn.(…)

Bis zum Beginn der russischen Invasion in der Ukraine stand Medwedtschuk unter Hausarrest. (…) Als die russischen Truppen im Fe­bruar Kiew umzingelten, floh Medwed­tschuk, wurde allerdings vom ukrainischen Sicherheitsdienst gefasst. Ein von den Behörden veröffentlichtes Foto zeigte ihn in einem erbärmlichen Zustand in Handschellen. Dies war die größte Demütigung für einen Politiker, der 20 Jahre zuvor noch als "graue Eminenz" der Ukraine gegolten hatte

Serhij Hus, Jungle World

Es ist schon interessant zu erfahren, dass scheinbar nicht antidemokratisch ist, Politiker zu verfolgen, die Parteien aufbauen wollten, die nach 2014 die prorussischen Teile der ukrainischen Bevölkerung vertreten und dass die USA nicht eine Regierung, die für diese Repression verantwortlich ist, sondern die Opfer der Repression sanktionieren.

Selbst ein bisschen Folter ist also auch für den linksliberalen Reporter kein Grund für Protest, wenn es um vermeintliche Landesverräter geht. Für die gegenwärtigen Machthaber in der Ukraine zählen dazu alle, die noch immer für Neutralität oder gar für eine Kooperation mit Russland eintreten.

Tenor: Kritik an Vertagung der Wahl spielt Russland in die Hände

Doch es gibt noch immer Anhänger von Viktor Medwedschuk, die sich daran erinnern, dass er für eine Politik stand, die aus geopolitischen Gründen das Land nicht zum Schlachtfeld machten. Doch Medwedschuk, der nun im russischen Exil ist, würde sofort verhaftet, wenn er wieder in die Ukraine käme und dort vielleicht sogar kandidieren wollte.

Doch die aktuellen Machthaber fürchten trotz Ausschaltung der Opposition noch immer den Machtverlust. Daher bleibt der gegenwärtige Präsident Wolodymyr Selenskyj einfach an der Macht, auch nachdem seine reguläre Amtszeit abgelaufen ist.

Da es in der Ukraine auch im prowestlichen Lager durchaus Kritik daran gibt, dass der Präsident einfach ohne Wahlen an der Macht bleibt und dabei sogar noch formale Fehler gemacht hat, wird jetzt die Parole ausgegeben: Alle, die daran zweifeln, dass Selenskyj weiterhin der legitime Präsident der Ukraine sei, spielen Russland in die Hände.

Das aber ist die sicherste Methode, jeden Kritiker zum Schweigen zu bringen Schließlich ist das Schicksal von Medwedschuk ja auch eine Warnung. Das gilt durchaus auch für die prowestliche Fraktion. Schließlich ist bekannt, dass es mit der Asow-Brigade und anderen Faschisten Männer für das Grobe gibt, mit denen es sich niemand gefahrlos verscherzen kann.

Trotz Asow und alledem: Ukraine bewegt sich in Richtung EU

Für die prowestlichen Unterstützer ist aber weder die ausgefallene Wahl noch der ultrarechte Anhang ein Grund, von der bedingungslosen Unterstützung der Ukraine abzurücken oder zumindest Bedingungen zu stellen. Im Gegenteil: Gerade heute hat die Bundesregierung verlauten lassen, dass die Ukraine der EU ein kleines Stück näher gekommen sei. Sie sprach sich für baldige Aufnahmegespräche aus.

Die Grünen-Politikerin Anne Lührmann betonte in diesem Zusammenhang, die Ukraine habe bei der Korruptionsbekämpfung und beim Schutz von Minderheiten Fortschritte gemacht. Repression gegen Oppositionelle spielt da ebenso wenig eine Rolle wie eine verschobene Präsidentenwahl.

Besser könnte sich EU jenseits aller Phraseologie nicht kenntlich machen. Gerade versuchen EU-nahe Gruppen in Georgien, ein ukrainisches Szenario zu inszenieren, auch hier wieder unter Applaus von Linksliberalen aller Couleur.

Solche Fragen wird man weder bei "Hart aber fair" und anderen Medienformaten finden. Denn dort gilt: Populisten sind immer die anderen – und die Brandmauer gegen Rechts hat gegen Asow und Co. nie gegolten.

Der Autor hat gemeinsam mit Clemens Heni und Gerald Grüneklee das Buch "Nie wieder Krieg ohne uns – Deutschland und die Ukraine" herausgegeben.