Kinder vor Eltern schützen

Die Aufnahme von Kinderschutzrechten ins Grundgesetz nutzt nur dann etwas, wenn durch Platzierung und Formulierung klar geregelt ist, welche anderen Grundrechte sie zukünftig überwiegen sollen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Am Mittwoch veranstaltet Kanzlerin Merkel zusammen mit den Ministerpräsidenten der Länder einen "Kindergipfel". Auch wenn dort die Aufnahme einer Kinderschutzvorschrift in das Grundgesetz nach Auskunft von Regierungssprecher Ulrich Wilhelm nicht thematisiert werden soll, geht die durch das gehäufte Auftreten von Fällen getöteter, misshandelter und "verwahrloster" Kinder angefachte Diskussion darüber doch fröhlich weiter.

SPD, FDP, Grüne und Linke sprechen sich mittlerweile fast einhellig für solch eine Aufnahme aus. Die Unionsparteien scheinen dagegen gespalten. Während der CDU-Rechtspolitiker Gehb die Forderung in der FAZ "absurd", "gefährlich" und "kontraproduktiv" nannte, bekundeten Familienministerin von der Leyen und Verbraucherminister Seehofer ihre grundsätzliche Unterstützung für eine explizite Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung. Der dazu von Justizministerin Zypries ins Spiel gebrachte Vorschlag will dem Artikel 6 des Grundgesetzes einen neuen Absatz hinzufügen, in dem für Kinder ein Recht auf "Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit" sowie auf "Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung" festgeschrieben werden soll.

Gehb zufolge wird durch die Debatte um solch eine Ergänzung der Eindruck vermittelt, dass das Grundgesetz Kindern bisher keinen Schutz gewähren würde. Tatsächlich sind Kinderrechte bereits im Grundgesetz enthalten: Unter anderem durch den Schutz der Menschenwürde, den der körperlichen Unversehrtheit, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und das Sozialstaatsprinzip.

Allerdings kommt es durch konkurrierende Grundrechte dazu, dass bei manchen Abwägungen die Kinderrechte zurückstehen mussten und müssen: Etwa wenn der Schutz der Ehe die Verhinderung von Zwangsverheiratungen einschränkt, wenn der Schutz der Familie Kinder dazu zwingt, bei ihren Eltern aufwachsen zu müssen, obwohl diese ganz offensichtlich nicht in der Lage sind, die sozialen, kulturellen und materiellen Voraussetzungen dafür zu gewährleisten, dass der Nachwuchs eine Perspektive jenseits von Gangsterrap und Hartz IV hat - oder wenn die Religionsfreiheit dazu führt, dass Kinder systematisch durchgeführten Verblödungsoffensiven und Gehirnwäschen ausgesetzt werden dürfen. Soll also die Aufnahme eines Kinderschutzparagraphen nicht nur dem Wahlkampf dienlich sein, sondern auch positive Effekte für Kinder haben, dann müsste durch Platzierung und Formulierung zumindest angedeutet werden, welche Rechte in Zukunft zurückstehen sollen.

Die von Justizministerin Zypries vorgeschlagene Formulierung, die einfach an den Artikel 6 angehängt werden soll, würde deshalb nur wenig bewirken. Nachdem Kanzlerin Merkel anklingen ließ, dass die Aufnahme einer Kinderschutzvorschrift in das Grundgesetz dazu genutzt werden könnte, in deren PR-Windschatten auch Kultur und Sport mit aufzunehmen, sind sogar gegenteilige Effekte zu befürchten: Eine relativ wirkungslos platzierte und formulierte Ergänzung könnte dann dafür sorgen, dass nach der Verfassungsänderung die Kinderkrippe erheblich teurer wird, weil die Kommunen mehr Geld für die dann ebenfalls grundgesetzlich geschützten Opernhäuser und Riesenstadien brauchen.

Die Rechte, welche naturgemäß am meisten mit denen von Kindern kollidieren, finden sich in den Artikeln 4 und 6: Dem Religionsschutz, sowie dem von Ehe und Familie. Bei der Suche nach einer Formulierung, die den Schutz von Kindern gegen den von Religion, Ehe und Familie überwiegen lassen soll, muss deshalb sorgfältig darauf geachtet werden, dass diese Grundrechte zwar einer neuen Gewichtung ausgesetzt, aber nicht in ihrem Grundgehalt beschnitten werden. Dass so etwas durchaus möglich ist, zeigt etwa die Einschränkung der Pressefreiheit zugunsten des Jugendschutzes. Sinnvoll wäre dabei allerdings eine strenge Trennung von Kinder- und Jugendschutz, damit die Beschneidung von Freiheitsrechten in Grenzen gehalten werden kann – denn was nützt ein Strafrecht, das Jugendliche wie Marco Weiss ins Gefängnis bringt, wo sie mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit mehr sexuellem Missbrauch ausgesetzt sind, als ihnen vorgeworfen wird.

Die mit dem Kinderschutz potentiell am häufigsten kollidierenden Grundrechte zeigen auch, warum die Aufnahme einer effektiv platzierten und formulierten Kinderschutzvorschrift trotz Seehofers und von der Leyens Rhetorik vor allem in der CDU/CSU und deren Beharren auf einen an der Lebenswirklichkeit der 1940er Jahre ausgerichteten Matrimoniatsschutz auf Widerstand stoßen würde. Dabei müsste auch der Partei der Ehebrecher Wulff und Oettinger eigentlich klar sein, dass dieses Institut zu Anfang des 21. Jahrhunderts etwas völlig anderes ist, als zur Entstehungszeit des Grundgesetzes. Und dass es durchaus fragwürdig ist, noch im gleichem Ausmaß daran festzuhalten, wenn die Ehe unter anderem durch Pille, sexuelle Revolution, sequentielle Monogamie und vollständig veränderte Arbeits- und Erziehungsverhältnisse mittlerweile eher ein spezieller Bestandteil des Einwanderungsrechts als die Keimzelle des Staates ist - und Kinder häufig gefährdet, anstatt sie zu schützen. Doch das scheint für die Christdemokraten sakrosankt – und so bleibt es wahrscheinlich auch auf absehbare Zeit bei der politischen Ironie, dass es ausgerechnet der von der sonst gern mit Sicherheitsrhetorik operierenden Partei gehätschelte Eheschutz ist, welcher potentiellen "Gefährdern" und Kriminellen die einfachste und effektivste Gewähr für einen Verbleib in Deutschland bietet.

Nicht wesentlich anders sieht es mit der Religion aus: Die Darry-Mutter, die ihre Söhne tötete, hatte bizarre religiöse Vorstellungen, welche in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den Tötungen standen. Der französische Psychologe Nicholas Humphrey fordert aufgrund des Gefährdungspotentials religiöser Vorstellungen und Strukturen ein Menschenrecht für Kinder, das deren Psyche ebenso wie ihren Körper vor der "Verkrüppelung" durch religiöse Ideen schützen soll. Doch auch hier verhindern die Christdemokraten eine Änderung, die nicht nur dem Kinderschutz mehr Raum lassen, sondern auch die von ihnen sonst als Totschlagsargument ins Feld geführte "Sicherheit" erhöhen könnte: Ein Beispiel, wie stark Artikel 4 auch in diesen Bereich eingreifen kann, zeigt etwa die Verfassungsinterpretation der Hamburger Staatsanwältin Dr. Kühne, die eine "sich aus Artikel 4 Abs. 1 GG ergebende Pflicht" konstatiert, nach der das Strafrecht und die Staatsorgane "zurückweichen" müssen, wenn ein "Glaubensgebot den Täter in eine seelische Bedrängnis bringt".