Ukraine-Krieg: Scheinargumente gegen Waffenstillstände

Gefesselte Hände reichen einander zu Waffenstillstand

Vorbehalte gegen Verhandlungen mit Russland um Waffenstillstand. Argumente oft nicht stichhaltig. Das gilt vor allem für zwei Punkte.

Zwei Argumente tauchen in der deutschen Presse und Fachpublikationen immer wieder auf, wenn Autoren den militärischen Kampf zur Rückeroberung des gesamten ukrainischen Staatsgebiets befürworten und Verhandlungen für einen Waffenstillstand zuvor ablehnen:

Zum einen heißt es dann, ein Waffenstillstand würde von Russland genutzt werden, um sich militärisch neu aufzustellen und wieder loszuschlagen. Zum anderen wird argumentiert, man könne die unterdrückten Ukrainer im russisch besetzten Gebiet nicht ihrem Schicksal überlassen.

Beide Argumente sind jedoch nicht überzeugend.

Generalargumente verhindern eine wichtige Chance

Die Gefahr der Nutzung einer Waffenruhe durch die Gegenseite ist dabei ein Generalargument, das sich gegen jeden Waffenstillstand in jedem Konflikt einsetzen lässt – wenn man diesen aus anderen Gründen fortsetzen möchte.

Russlands Präsident Wladimir Putin selbst hatte es im April dieses Jahres genutzt, als man ihn darauf ansprach, ob nicht auch ein Waffenstillstand ohne seine für die Ukraine kaum annehmbaren Vorbedingungen möglich sei. Natürlich war es hier die Ukraine, die einen solchen Waffenstillstand nach seiner Meinung nutzen würde.

So kann kein Krieg beendet werden

Würde man diesem Argument stets folgen, würde kein Krieg der Welt mit einem Waffenstillstand vor einem totalen militärischen Sieg beendet werden. Die Gefahr einer Neugruppierung des Gegners besteht ja immer und in jedem Fall.

Tatsächlich wurden dennoch sehr blutige und langwierige Auseinandersetzungen wie der Korea-Krieg über einen Waffenstillstand zu einem dauerhaften Ende gebracht. Das massenhafte Sterben hörte auf, obwohl sich beide Kriegsgegner an der Kontaktlinie neu gruppierten.

Militärische Neugruppierung normal

Es ist sogar der Regelfall, dass bei Waffenstillständen ohne vorherige bindende Vereinbarung beide Seiten die Situation zur Neugruppierung und auch zur Stärkung der eigenen Defensivmaßnahmen an der Kontaktlinie nutzen.

Kein Waffenstillstand beseitigt das Misstrauen bisheriger Kriegsgegner. Die gegenseitige Überwachung mit Drohnen und Satelliten ermöglicht aber, die eigene Verteidigungsstellung auf Beobachtungen der Gegenseite anzupassen, bevor es zu erneuten Waffengängen kommt.

Notwendige Voraussetzungen einer dauerhaften Waffenruhe

Um zu verhindern, dass ein Waffenstillstand gebrochen wird, hält der Historiker und Sohn des ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt, Peter Brandt, gegenüber dem Wochenmagazin Der Freitag vorherige Verhandlungen und bindende Vereinbarungen für unabdingbar.

So müssen Verhandlungen stets eine zentrale Forderung derjenigen sein, die den Ukrainekrieg so rasch wie möglich und nicht erst nach weiteren Jahren mit Kämpfen und neuen Leichenbergen beenden wollen.

Sie ist eine logische Konsequenz, anders übrigens als der immer wieder von Kräften wie der AfD oder dem BSW geforderte Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine. Ein solcher Stopp wäre im Hinblick auf eine angestrebte Waffenruhe eher kontraproduktiv.

Es würde sich dann die Frage stellen, warum Russland mit einer schwächer werdenden, vom eigenen Nachschub abgeschnittenen Ukraine überhaupt verhandeln sollte, wenn der militärische Sieg sicher in Aussicht steht.

Waffenstillstand 2014 von beiden Seiten gebrochen

Wer dem Wunsch nach Waffenstillstand in der Ukraine entgegen möchte, auch der Waffenstillstand von 2014 mit der Vereinbarung von Minsk sei durch die Invasion des Landes 2022 gebrochen worden, sei zum Ersten daran erinnert, dass dieser Waffenstillstand von beiden Seiten ständig gebrochen wurde.

Zum zweiten krankte die Vereinbarung von Minsk daran, dass sie von beiden Seiten nie umgesetzt und von den dahinter stehenden Mächten in keiner Weise sanktioniert wurde.

Jede Seite fühlt sich überlegen

Zum Dritten ist es aber die Ursache der meisten Brüche von Waffenruhen durch einen neuen offenen Krieg, dass eine Seite denkt, die andere sei mittlerweile so schwach, dass sich ein erneuter Überfall lohne.

Das war auch Anfang 2022 der Fall, als Putin aufgrund falscher Informationen damit rechnete, die Ukraine in einem wenige Tage oder Wochen dauernden Krieg unterwerfen zu können.

Der Waffenstillstand in Korea verhinderte einen offenen Krieg dagegen trotz Spannungen für ein halbes Jahrhundert, da beiden Seiten bis heute klar ist, dass in einem offenen Krieg nicht mit einem schnellen Sieg zu rechnen ist.

Waffenstillstand in Ost-Ukraine humanitär geboten

So sehr ein Waffenstillstand in der Ost-Ukraine aus humanitären Gründen dringend nötig ist, so wenig darf man ihn mit der Erwartung verbinden, dass dadurch die Notwendigkeit einer finanziellen und auch waffentechnischen Unterstützung der Ukrainer entfällt.

Wer eine Waffenruhe primär mit dem Ziel fordert, das Geld für die Ukraine-Unterstützung einzusparen, muss sich darüber im Klaren sein, dass er den Untergang der Ukrainer als Volk riskiert. Diesem spricht Putin höchstpersönlich das Existenzrecht ab.

Allerdings würde die Stabilisierung eines Waffenstillstandes günstiger kommen als die Finanzierung eines aktiven Krieges.

Die Eroberung des Donbass als "Befreiung"

Auch die Notwendigkeit der Befreiung der von Russland besetzten und annektierten ukrainischen Gebiete und ihrer Bewohner ist kein so stichhaltiges Argument, wie es scheint. Tatsächlich sind die Lebensbedingungen dort für diejenigen, die der russischen Besetzung feindselig gegenüberstehen, furchtbar.

Verhaftungen und Menschenrechtsverstöße sind in einem harten Besatzungsregime an der Tagesordnung. Viele derer, die fest zu Kiew stehen, sind von dort deswegen schon lange geflüchtet und haben jetzt, zweieinhalb Jahre nach Kriegsbeginn, weit von zu Hause entfernt eine neue Existenz aufgebaut.

Die Zurückgebliebenen haben sich in ihrer Not mehrheitlich angepasst, um ihr Überleben als unfreiwilliger Teil von Putins "Russischer Welt" zu sichern.

Zum Stand Herbst 2023 haben – wenn auch oft mehr wegen der damit verbundenen Vorteile denn aus Überzeugung – drei Millionen der dortigen Einheimischen aus eigenem Willen einen russischen Pass bekommen. Eine Pflicht zur Annahme der russischen Staatsbürgerschaft besteht nicht.

Die Bewohner versuchen, in ihrer vom Krieg zerstörten Heimat zu überleben, die nur langsam mit Hilfe aus Russland wieder aufgebaut wird, während die Front einige Dutzend oder Hundert Kilometer entfernt verläuft. So arbeiten viele notgedrungen mit den russischen Eroberern zusammen. Eine Reihe von ihnen kämpft – oft unfreiwillig – in den Truppen der früheren Volksrepubliken auf russischer Seite.

Die Lage im Osten der Ukraine

Niemand weiß, wie viele von ihnen eine Rückkehr der Front in ihre Heimat als Befreiung begrüßen oder ob die Angst vor der Ahndung als Kollaborateure durch Kiew und vor einer neuen Welle der Zerstörung in ihrer Heimat überwiegen würde. Eine Rückkehr der Front wäre für eine ukrainische Rückeroberung zwangsläufig.

In den direkten Kampfgebieten bleibt kaum ein Stein auf dem anderen und die Opfer unter zurückgebliebenen Zivilisten sind groß. Eine zweite Welle der Zerstörung würde Städte wie Mariupol überziehen.

Wie viele Einheimische diesen Preis zahlen wollten, kann nicht ermittelt werden, da unabhängige soziologische Studien im russisch besetzten Gebiet mit kritischen Fragen kaum möglich sind.

Noch einmal anders ist die Stimmung in den langjährigen Rebellengebieten des Donbass oder auf der Krim. Also in Gegenden, die seit 2014 faktisch russisch kontrolliert sind. Diese wurden jahrelang von ukrainischen Truppen beschossen (sie wie die Randbereiche der ukrainischen von den prorussischen Rebellen), nachvollziehbare Feindseligkeit gegenüber Kiew ist dort die Folge.

Anhänger des Euromaidan sind aus diesen Gegenden schon vor acht Jahren geflüchtet. Zumindest auf der Krim ist die Mehrheit der Bevölkerung tatsächlich russisch gesinnt. Hier würde nur eine Minderheit der Menschen eine Rückkehr der Ukrainer im Wege des Kampfes überhaupt als Befreiung empfinden.

Zusätzlich sollte man bei der Argumentation, die besetzte Gebiete der Ukraine müssten befreit werden, bedenken, dass bei einer Fortsetzung des Krieges ein solcher militärischer Erfolg nicht garantiert ist.

Echte Diskussion statt Scheinargumente

Ob man einen Invasoren in einem jahrelangen, blutigen Krieg bekämpft oder das dadurch entstehende Leid unverhältnismäßig groß wird, ist eine sehr grundsätzliche Frage. Man kann hier unterschiedlicher Meinung sein. Für beide Vorgehensweisen gibt es genug echte Argumente.

Etwa die Ermutigung von Diktatoren zu kriegerischen Handlungen bei einem Erfolg Putins auf der einen Seite oder die Gefahr einer Eskalation zu einem direkten Krieg der Nato gegen Russland auf der anderen. Mit Prognosen zu argumentieren, deren Eintreffen verhindert werden könnte oder mit Meinungen von Opfern, die man real gar nicht kennt, ist jedoch unredlich und falsch.