Vom Werden und Vergehen des Neandertalers

Seite 3: Das rätselhafte Verschwinden

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Wie lange die Neandertalerin und der Neandertaler Europa durchstreiften, wird wohl ab jetzt noch intensiver diskutiert werden. Wann und vor allem weshalb sie aus der Weltgeschichte abtraten, wird seit langem heiß diskutiert.

Sicher ist, dass Homo neanderthalensis dem anatomisch modernen Menschen begegnete, mit dessen Zuwanderung in sein Siedlungsgebiet zunächst im Nahen Osten und später vor mindestens 50.000 Jahren in Sibirien und vor mehr als 40.000 Jahren in Europa.

Es brach bei dieser Begegnung kein großer Krieg aus, zu Gewalt kam es wohl nur vereinzelt. Der Homo sapiens hat seinen Vetter nicht ausgerottet. Die beiden Menschen-Formen haben wahrscheinlich miteinander kommuniziert, es wird zudem viel über einen Kulturaustausch spekuliert, aber ganz sicher hatten sie Sex und gemeinsame Nachkommen.

Europas Südwesten, die Höhlen von Gibraltar gelten bislang als der letzte Rückzugsort der Neandertaler. Die Gorham-Höhle bewohnten Neandertaler-Sippen über viele Generationen, dort finden sich ihre letzten Spuren - parallel zu den Spuren anatomisch moderner Menschen, aber insgesamt war über einen langen Zeitraum die Bevölkerungsdichte in der Region sehr gering (vgl. Letzte Zuflucht Gibraltar).

Vor circa 24.000 sollen die letzten ihrer Art dort gestorben sein. Das wurde jedoch von vielen Paläoanthropologen bezweifelt und neuere Untersuchungen bestätigen diese Datierung nicht, sondern gehen nach Überprüfung von 40 Fundorten später Neandertaler in ganz Europa mithilfe verschiedener Datierungsmethoden davon aus, dass spätestens vor 39.000 Jahren keiner von ihnen mehr lebte.

Allerdings stehen die Ergebnisse von der Krim noch aus, wo deutsche Archäologen sich in den letzten Jahren auf die Suche nach den letzten Neandertaler gemacht haben.

Weder dumm noch sprachlos

Viele Experten gehen davon aus, dass der Neandertaler erst durch den Kontakt mit den modernen Menschen etwas wie Kultur entwickelte und symbolisches Denken kennen lernte. Und dass diese Unterlegenheit seinen Untergang bedeutete. Das könnte aber ein Irrtum sein.

Es mehren sich die Zeichen, dass er schon vorher dazu fähig war. Neandertalerinnen und Neandertaler bemalten ihre Körper, trugen Schmuck (Großes Gehirn und intelligenter als gedacht). Sie stellten feines Werkzeug her, klebten mit gekochtem Birkenpech und fertigten sich Kleidung aus Leder und Pelzen (vgl. Einzigartiges Erbe aus der Zeit der Neandertaler). Sie sprachen miteinander - und wohl auch mit Denisova und anatomisch modernen Menschen (vgl. Stimme der Neandertaler simuliert).

Die Produktion von Kunstwerken wird ihnen gar nicht zugetraut. Das ist der Grund, warum alle Fels- und Höhlenzeichnungen genau wie Kleinskulpturen automatisch dem anatomisch modernen Menschen zugeschrieben werden. Aber Felsgravierungen in einer Höhle in Gibraltar brachten im vergangenen Jahr diese Annahme ins Wanken.

430.000 Jahre alte Hominiden von Sima de los Huesos. Illustration

Es tauchten dort Muster in Stein auf, die nicht zufällig z.B. bei Schneiden von Fleisch oder Fell entstanden sein können. Mit großem Aufwand schlug der Urzeitkünstler die sich kreuzenden Linien vor mehr als 39.000 Jahren gezielt in den Fels. Es gibt längst viele Hinweise auf abstraktes Denken und symbolische Aktivitäten des Homo neanderthalensis.

Als Jäger waren die Ur-Europäer extrem erfolgreich, mit ihren Speeren erlegten sie auch Großwild. Die Vorstellung von einseitiger Ernährung hat sich längst erledigt, am Meer fischten sie, aßen Fisch, Muscheln und anderes im Wasser lebendes Getier. Und insgesamt bestand, wie mehrere Studien gerade bewies, ein Fünftel ihrer Nahrung aus Pflanzen.

Sie kochten und brieten ihr Essen über Feuer. Hervé Bocherens vom Senckenberg Center for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen stellt fest:

Es verdichten sich die Belege, dass die Ernährung kein entscheidender Grund war, warum die Neandertaler Platz für die modernen Menschen machen mussten.

Sie waren weder dumm noch sprachlos, sondern stellten eine evolutionäre Erfolgsgeschichte dar, die mehrere Hunderttausend Jahre in einer eher unwirtlichen Region der damaligen Welt selbst mehrere heftige Klimaveränderungen erfolgreich überstanden hat.

Sie waren anders, aber nicht unterlegen. Was eine Studie belegte, die sich mit den Unterlegenheitsszenarien auseinandersetzte und feststellte, dieses Modell beruhe vor allem auf Vorurteilen und veraltetem Denken.

Wenige Individuen und ein Vulkanausbruch

Was hat Homo neanderthalensis das Leben gekostet? Das Klima veränderte sich zwar langsam, es wurde kälter, aber das war in der Geschichte seiner Art vorher auch vorgekommen, mit Kälte kam er bestens zurecht.

Allerdings lebte er in kleinen Gruppen und weit verteilt in einem riesigen Gebiet. Es hat wohl nach Hochrechnungen der Experten nie mehr als Hunderttausend Neandertalerinnen und Neandertaler gegeben - und das bei einem Siedlungsraum von Gibraltar über den Nahen Osten bis Sibirien. Eine enge Verwandtschaft mit der damit einhergehenden genetischen Verarmung (Wenige Neandertaler).

Dazu der Wettbewerb mit den Neuankömmlingen, die sich schnell und in großer Zahl in ganz Europa verbreiteten, in größeren Gruppen lebten und viel mehr Kinder zeugten. Und die Vermischung mit den anatomisch modernen Menschen - ein Teil der Wissenschaftler vertritt die Theorie, diese Hybridisierung hätte ausgereicht, um nach einigen Tausend Jahren die zahlenmäßig viel kleinere Gruppe der europäischen Ureinwohner in der größeren Gruppe einfach aufgehen zu lassen.

Beschleunigt wurde dieser Prozess womöglich durch einen Ausbruch des Vulkans unter den Phlegräischen Feldern bei Neapel vor 39.000 Jahren. Diese Theorie wurde bereits durch entsprechende Aerosol-Verteilungsmodelle gestützt.

Eine Anfang des Jahres im ZDF gesendete, sehenswerte Dokumentation lieferte weitere Belege wie die Vermessung von Ascheschichten mit einer Dicke von gut einem Meter, die sich bis zu einer Distanz von 1.200 Kilometern vom Ausbruchsort im Boden abgelagert haben.

Vier Millionen Quadratkilometer Land von Libyen bis Russland waren mit Asche bedeckt, es folgte ein vulkanischer Winter, verseuchtes Wasser, ein großes Sterben von Tieren und Pflanzen. Ein Teil der Neandertaler starb sicher in direkter Folge des Vulkanausbruchs, die Überlebenden waren nun noch weiter voneinander entfernt als zuvor.

Die letzten ihrer Art überlebten vielleicht parallel noch viele Generationen überdauernd an den entlegenen Außenposten mit mildem Klima auf Gibraltar und der Krim-Halbinsel, bevor sie endgültig entschwanden, und nur noch einige Gene in jedem von uns hinterließen.