"Warnung an die Politik"
Wie die katalanische Unabhängigkeitsbewegung fordert die Präsidentin des Katalanischen Nationalkongresses (ANC) die Rückkehr zur Einheit und zum einseitigen Vorgehen zur Durchsetzung der Republik gegenüber Spanien
Erneut sind auch an diesem 11. September in Katalonien wieder hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen, um für die Unabhängigkeit von Spanien und gegen die andauernde Repression zu protestieren. "Ziel Unabhängigkeit" lautete das klare Motto in diesem Jahr. Zum Proteste hatte federführend der große zivilgesellschaftliche "Katalanische Nationalkongress" (ANC) mit der Kulturorganisation Òmnium Cultural und der Vereinigung der Gemeinden für die Unabhängigkeit (AMI) aufgerufen.
Unterstützung kam zum Teil auch aus dem Ausland. So waren auch der türkische Exil-Journalist Can Dündar angereist oder der Anwalt von Carola Rackete. Der Sea-Watch-Kapitänin wurde im katalanischen Parlament die Ehrenmedaille des katalanischen Parlaments verliehen. Ausgezeichnet wurde auch der Gründer der spanischen Hilfsorganisation Proactiva Open Arms, Oscar Camps, da sich beide nicht von drakonischen Strafen in Spanien oder Italien von der Seenotrettung abbringen lassen.
Racketes Anwalt kritisierte im Telepolis-Gespräch auch mit Blick auf Dündar das Vorgehen von Spanien stark. Angesichts der Tatsache, dass Spanien Politiker mit Vorwürfen inhaftiert, die "offensichtlich haltlos" sind, wie auch das Oberlandesgericht in Schleswig schon festgestellt hatte, spricht er von der "Türkei Europas". Auch Alessandro Gamberini meint, dass ein "politisches Problem auch politisch gelöst werden muss". Dass Spanien sogar gewählten Parlamentariern die Immunität verweigert und sie nicht freilässt, wie die UNO-Arbeitsgruppe für willkürliche Verhaftungen fordert, hält er wie 52 französische Mitglieder der Nationalversammlung für "eine Verletzung der Grundfreiheiten und der Ausübung der Demokratie.
Gesetze von Staaten könnten nicht über dem Internationalen Recht und demokratischen Prinzipien stehen, verteidigte Gamberini auch das Selbstbestimmungsrecht der Katalanen auf einer Podiumsdiskussion mit Dündar, auf der die französische Anwältin Dominique Noguères den Schauprozess gegen die Katalanen kritisierte. "Es ist alles andere als seriös", was dort stattgefunden habe, erklärte auch diese Beobachterin. Dass die Justiz zur Kriminalisierung gegen politische Meinungen eingesetzt werde, sei "sehr gefährlich", kritisierte sie auch scharf, dass angebliche "Vorhaben" zu Delikten gemacht würden.
Neben internationalen Unterstützern sind dem Ruf zur Demonstration am Nationalfeiertag gestern sogar nach Angaben der Polizei mehr als 600.000 Menschen in die katalanische Metropole gefolgt, was wie üblich deutlich untertrieben ist. Im letzten Jahr hatte die Polizei untertrieben von einer Million Menschen gesprochen. Tatsächlich waren, nachdem sich mehr als 450.000 Menschen schon im Vorfeld registrieren und einen Abschnitt zuweisen ließen, diese allesamt voll. Tatsache ist aber auch, dass man sich - wenn auch mit viel Mühe - in diesem Jahr zwischen den Abschnitten bewegen konnte und die Menschen nicht eng aneinander gedrückt auf vielen Kilometern standen, um auf der "Gran Via" und den Straßen um den "Plaça España" (Spanischer Platz) einen Stern zu bilden und die Unabhängigkeit zu fordern.
Uneinigkeit unter den Unabhängigkeitsbefürwortern
Für die etwas schwächere Beteiligung sind zwei zentrale Faktoren verantwortlich. Strömender Regen am Vortag, der bis zum Vormittag anhielt, hat etliche von der Teilnahme genauso abgehalten wie die Tatsache, dass die drei großen Formationen, die für die Unabhängigkeit eintreten, sich über die Vorgehensweise reichlich zerstritten zeigen. Sehr deutlich wurde das bei der gescheiterten Amtseinführung des Sozialdemokraten Pedro Sánchez. Während die Republikanische Linke (ERC) ihn ohne Verhandlungen und Gegenleistungen im Juli zum Präsidenten machen wollte, um eine mögliche Rechtsregierung bei Neuwahlen zu verhindern, stellt Junts per Catalunya (Gemeinsam für Katalonien/JxCat) die Forderung nach Verhandlungen über ein verbindliches Unabhängigkeitsreferendum zur Bedingung auf.
Die linksradikale CUP, die zu spanischen Wahlen nicht einmal antritt, lehnt ohnehin jegliches Taktieren ab. Sie will die Unabhängigkeit und die im Oktober 2017 ausgerufene Republik über zivilen Ungehorsam umsetzen. Zwischen ERC, dessen Parteichef Oriol Junqueras inhaftiert ist und dem mit 25 Jahren die Höchststrafe droht, und der vom Exilpräsident Carles Puigdemont geführten JxCat wird um die Vorherrschaft gekämpft, die nicht ausgemacht ist, wie die letzten Wahlen gezeigt haben.
Die Hahnenkämpfe und die fehlende klare Strategie, wie die Unabhängigkeit erreicht und durchgesetzt werden soll, schwächt die Bewegung, die dringend zur Einheit zurückfinden muss, um ihre Ziele durchsetzen zu können. Darin ist sich die Basis einig, die auch angesichts der Vorgänge in Hongkong auf durchschlagendere Aktionen setzt. Telepolis konnte aus gut informierten Kreisen in Erfahrung bringen, dass über dauerhafte Aktionen wie ein Generalstreik nachgedacht wird, um das Land ernsthaft und nicht nur für einen Tag wie bei früheren Ausständen lahm zu legen.
Über die Lage in Katalonien sprach Telepolis kurz vor der Demonstration am Dienstag mit Elisenda Paluzie, der Präsidentin des Katalanischen Nationalkongresses (ANC). Ihr Vorgänger Jordi Sànchez wurde mit dem Präsident von Òmnium Cultural, Jordi Cuixart, schon vor der Verkündung der Unabhängigkeit und der Aussetzung der Unabhängigkeit inhaftiert.
"Die Repression wird uns nicht von unseren politischen Zielen abbringen"
Welche Demonstration zum Nationalfeiertag Diada und welche Beteiligung erwarten Sie angesichts der Gespaltenheit, die die Parteien zeigen, die für die Unabhängigkeit Kataloniens?
Elisenda Paluzie: Wenn wir raus auf die Straßen Barcelonas blicken, dann sehen wir, dass wir es trotz der Widrigkeiten und dem sehr schlechten Wetter, mit starkem Regen, wieder geschafft haben, zahllose Menschen zu mobilisieren. Es werden, obwohl wir erstmals mit schweren Regenfällen zu kämpfen hatten, hunderttausende Menschen für das klare Ziel Unabhängigkeit eintreten. 450.000 Menschen hatten sich schon im Vorfeld registriert, um sich einen Abschnitt zuweisen zu lassen.
Ist es eine spezielle Diada angesichts der Urteile gegen 12 Anführer der Bewegung, die im Oktober fallen werden?
Elisenda Paluzie: Das Verfahren am Obersten Gerichtshof in Madrid ist nicht das einzige, auch wenn dieser Prozess die stärkste Aufmerksamkeit erhält. Es laufen etliche Verfahren. Erst kürzlich wurden zwei Aktivisten zu einer Haftstrafe von 18 Monaten verurteilt, die an einer Demonstration nach der Verhaftung von Puigdemont in Deutschland teilgenommen hatten. Das Urteil am Obersten Gerichtshof in Madrid wird aber die Repression in aller Klarheit zeigen. Sie zielt darauf ab, eine Bewegung zu zerschlagen, damit sie ihre politischen Forderungen aufgibt. Die soll zwar rhetorisch weiter über die Unabhängigkeit reden können, sich aber niemals demokratisch und friedlich auf den Weg der Umsetzung machen. Wir senden deshalb eine klare Botschaft aus: Die Repression wird uns nicht von unseren politischen Zielen abbringen.
Sehen Sie eine Möglichkeit für Freisprüche, wie es hier weit über die Unabhängigkeitsbewegung hinaus gefordert wird? Beweise für die harten Vorwürfe wegen Rebellion, Aufruhr und Veruntreuung waren im Prozess mehr als dürftig.
Elisenda Paluzie: Wenn wir es mit einem intelligenten Vorgehen zu tun hätten, wäre das vermutlich das Ergebnis. Wir haben es aber mit einem eingefleischten politischen System zu tun, das auf die Zerschlagung des Gegners und die Rache setzt.
Also?
Elisenda Paluzie: Also erwarte ich keine Freisprüche.
Was ist auf der Straße nach Verurteilungen als Reaktion zu erwarten?
Elisenda Paluzie: Wir werden schauen, welche emotionale Wirkung die konkreten Verurteilungen haben werden. Aber für uns ist jede Bestrafung für die Durchführung eines Referendums oder von Demonstrationen illegitim. Wir können garantieren, dass die Bewegung eine einheitliche Antwort geben wird. Was genau derzeit besprochen wird, können wir noch nicht öffentlich machen. Dazu gibt es gerade viele Gespräche. Es wird aber auch Aktivitäten geben, die weit über die Unabhängigkeitsbewegung hinausgehen, denn in Umfragen sprechen sich 70 bis 80% der Katalanen gegen diese Repression aus.
"Die Lage ist komplex und eine Lösung schwierig"
Von Einheit kann derzeit kaum gesprochen werden, wenn aus einem Sektor wie der ERC erklärt wird, zunächst müsse die Basis verbreitert werden und ein anderer Teil sich sogar sofort an die konkrete Umsetzung der Unabhängigkeit machen will. Wie soll die Einheit wieder aufgebaut werden?
Elisenda Paluzie: Unterschiede darüber, wie vorgegangen werden soll, gab es periodisch immer wieder. Früher war es sogar so, dass einige der heutigen Unabhängigkeitsparteien keine waren und erst dazu wurden. So gab es Diskrepanzen über die Abstimmung 2014, danach zum Beispiel darüber, ob man gemeinsam auf einer Liste für die Unabhängigkeit bei Wahlen antritt …
So wie es stets Diskrepanzen gab, gab es stets auch immer ein Übereinkommen über das gemeinsame Vorgehen. Angesichts von Repression, Prozessen und politischen Gefangenen reagieren viele vielleicht sensibler als früher. Am Ende wird es eine Synthese geben, denn alle sind wir uns einig, dass wir nicht im spanischen Staat bleiben können.
Derzeit wird darüber debattiert, was der richtige Weg heraus ist. Nun wissen wir, zu was der spanische Staat fähig ist, um unsere Unabhängigkeit zu verhindern. Wir wissen nun auch, welche Grenzen es in der EU für uns gibt und welche Toleranz es dort für spanische Rechtsverletzungen gibt. Somit ist klar, dass die Lage komplex und eine Lösung schwierig ist. Klar ist, dass die beste Lösung eine ausgehandelte wäre, dass der spanische Staat ein Referendum über die Unabhängigkeit vereinbaren würde, wie wir es zwischen Großbritannien und Schottland gesehen haben. Stellt man das als taktische Forderung auf, besteht die Gefahr, dass man selbst daran zu glauben beginnt und man letztlich nicht vorwärts kommt. Deshalb setzen wir auf den einseitigen Weg, weshalb es Diskrepanzen im Vorgehen gibt.
Auf der anderen Seite haben wir das umgekehrt beim Referendum gesehen. Der Staat glaubte, es werde es nicht geben. Es werde keine Wahlurnen, Stimmzettel … geben. Die Köpfe wurden festgenommen, Stimmzettel beschlagnahmt, 8000 Polizisten geschickt und man verprügelte auch Wähler. Aber es war eine große Schlappe, denn nur wenige Wahllokale konnten geschlossen werden.
Die magische Symbiose aus katalanischer Regierung, Parteien, Institutionen und der mobilisierten Bevölkerung besiegte den Staat und führte das Referendum durch. Die Repression sorgte nicht dafür, dass die Menschen verschreckt zu Hause blieben, sondern die Angst wurde überwunden. Daraus haben wir viel Kraft geschöpft, die wir vorher nicht kannten und die Bewegung gewann an Stärke. Es gibt nun Gespräche auf verschiedenen Ebenen, um aufzuarbeiten, was danach alles vorgefallen ist. Das hätte früher geschehen müssen.
Ist es eine Warnung an die Unabhängigkeitsparteien, dass in diesem Jahr keine Politiker den Protest mit angeführt haben, sondern vor allem die, die von der Repression betroffen sind?
Elisenda Paluzie: Zu einem Teil ist das eine Warnung an die Politik. Ja. Das haben die lokalen ANC-Gruppen gefordert, die verärgert über den Parteienstreit sind und darüber, dass die Parteien auf lokaler Ebene in Stadt- und Provinzparlamenten mit den spanischen Sozialdemokraten Bündnisse eingegangen sind.
"Die Macht eines Staates geht weit über die Regierung hinaus"
Ich würde gerne die Lage etwas mit Hongkong vergleichen. Wir haben in den zwei zurückliegenden Jahren gesehen, wie sich Spanien aber auch die EU und die Mitgliedsstaaten angesichts einer katalanischen Unabhängigkeitsbewegung verhält, die sie niemanden größer stört und auch vor Grundrechtsverletzungen die Augen verschlossen werden. Ist ein durchschlagenderes Vorgehen wie in Hongkong nötig, um die Ziele zu erreichen?
Elisenda Paluzie: Es ist offensichtlich, dass der katalanische Konflikt in den vergangenen zwei Jahren praktisch aus der internationalen Presse verschwunden ist. Nach dem brutalen Vorgehen zur Verhinderung des Referendums wissen die meisten Menschen in Europa oft nicht einmal, dass neun Politiker und Aktivisten seit fast zwei Jahren inhaftiert sind. Wenn nach dem Prozess nun die Urteile kommen, ist das eine Chance. Klar, wenn wir nur ein oder zwei Tage aktiv sind, verschwindet das dann auch schnell wieder. Eine dauerhafte Mobilisierung, die wirklich stört, macht den Konflikt deutlich.
Wo sehen Sie Parallelen und Unterschiede zur Demokratiebewegung in Hongkong?
Elisenda Paluzie: In Hongkong richtet sich die Bewegung gegen die eigene Regierung, die mit China verstrickt ist. In Katalonien hat Spanien uns noch nicht verboten, die katalanischen Parteien zu wählen, die für die Unabhängigkeit eintreten. Sie lassen sie zwar nicht ihre Programme umsetzen, aber sie wurden noch nicht verboten. Und wir haben deshalb hier im Parlament eine Mehrheit für die Unabhängigkeit und eine Regierung, die dafür eintritt. Das ist der größte Unterschied. Wir brauchen deshalb auch eine gemeinsame Antwort von den Parteien und aus den Institutionen, die demokratisch über Wahlen legitimiert sind und die Mobilisierungen auf der Straße begleiten. .
Glauben Sie, dass die Straße wieder Druck machen, die politische Klasse vor sich hertreiben muss, auch um die Streitigkeiten zu beenden?
Elisenda Paluzie: Schon in anderen Situationen hat die breite Mobilisierung die Politik und die Institutionen erst in Bewegung gebracht. Es ist möglich, dass genau das wieder passieren muss.
Was muss nach Ansicht des ANC nun passieren? Es wird derzeit viel über die Repression, über politische Gefangene gesprochen, doch das eigentliche Ziel, die Unabhängigkeit und die Umsetzung der Republik, scheint in den Hintergrund zu treten.
Elisenda Paluzie: Das ist nicht so. Die Mobilisierungen des ANC zielen stets auf die Unabhängigkeit ab. Natürlich gibt es dazu auch konstante Proteste in Bezug auf die politischen Gefangenen, eine Unterstützung für sie und ihre Angehörigen. Wir zielen mit unseren Kampagnen auf die Wurzeln des Konflikts. Es sind schon offensivere Kampagnen gestartet worden. Sie entspringen der Analyse der Schwäche, die wir im Oktober 2017 nach dem Referendum gezeigt haben.
Die Macht eines Staates geht weit über die Regierung hinaus. Sie befindet sich unter anderem auch in den Institutionen oder den großen Oligopol-Unternehmen, die im Fall des spanischen Staates klar in diesem "Amigo-Kapitalismus" verstrickt sind. Und diese Kräfte haben synchron mit der Regierung agiert. Deshalb zielen die Kampagnen des ANC, im Rahmen des gewaltfreien Widerstands, auch auf sie ab. Wir müssen diese Machtpfeiler schwächen. Es gab auch Unternehmen hier, die eine Kampagne gegen die Unabhängigkeit mitgetragen und Angst geschürt haben. Da wurden Verlegungen von Firmensitzen vorgenommen und behauptet, die Wirtschaft Kataloniens werde abstürzen. Das war natürlich gelogen und die katalanische Wirtschaft ist weiter gewachsen, da keine Maschine, kein Arbeiter und keine Fabrik verlagert wurden.
Und es sind diese Oligopole, die zudem hier die Konkurrenz beseitigen. Deshalb stärken wir die Konkurrenz. Wir zeigen auf, welche Alternativen es zum Beispiel im Bereich der so bedeutsamen Energieversorgung, bei Banken usw. gibt. Damit werden die Oligopole und der Einflussmöglichkeiten geschwächt. Das ist nötig, wenn wir die nächste Herausforderung im Oktober auf die Tagesordnung setzen. Wir haben zum Beispiel eine alternative Kandidatur für die Handelskammer aufgestellt und die Wahlen dort klar gewonnen. Wir stärken auch die katalanischen Gewerkschaften, die bisher schwach waren, weshalb die Ausganglage schon jetzt besser ist als 2017.