Der Parlamentarismus als Anachronismus

Nicht überall, wo Demokratie drauf steht, ist Demokratie drin

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der Begriff "Demokratie" hat heute eine beinahe religiöse Bedeutung, weil er weltliche Erlösung verspricht. Und damit lassen sich sogar politische Kreuzzüge rechtfertigen. Über das Wesen, den Sinn, die Notwendigkeit und Vorrangigkeit der Demokratie gibt es unter den Geistes- und Humanwissenschaftlern, Parteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Politikern und aktiven Bürgern keine einheitliche Meinung, was vor allem daran liegt, dass ein gründliches Nachdenken für alle recht peinlich enden dürfte.

In den Schulen lehrt man, dass Demokratie die Selbstherrschaft des Volkes sein soll, dass also kein Machthaber, der nicht vom Volk legitimiert wurde, über den Staat und das Staatsvolk herrschen soll. Man verwendet hilfsweise die Formel des (1865 ermordeten) US-Präsidenten Abraham Lincoln, wonach Demokratie die Herrschaft des Volkes durch das Volk und für das Volk sein soll. Unter vernünftig denkenden Menschen ist Demokratie eine brauchbare Staatstechnik zum gutem Leben für alle, nicht mehr. Demokratie ist kein Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck. Wenn es etwas Besseres zum friedlichen,selbstbestimmten und erfolgreichen Leben als Demokratie gibt, nehmen wir es.

Demokratie gibt es in zahlreichen Erscheinungsformen bzw. Entwicklungsstadien, von der Nominaldemokratie bis zur Idealdemokratie. Die heute vorherrschende parlamentarische Demokratie ist ein schlechter Kompromiss, aus den Zufälligkeiten sozialer Katastrophen entstanden. Das Ideal der Identität von Herrschern und Beherrschten läst sich in der parlamentarischen Demokratie nicht verwirklichen, schon gar nicht, wenn die Volksvertreter die Wahl- und Vertretungsregeln ohne Zustimmung Volkes aufstellen und nach der Wahl von den Bürgern nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden können. Ohne direkte Kontrolle durch das Volk muss jederzeit befürchtet werden, dass die staatlichen Organe bzw. die Träger statlicher Funktionen ihre geliehene Macht missbrauchen und gegen das Volk verwenden.

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein abschreckendes Beispiel für eine Bevormundungsdemokratie, also eine Variante der Scheindemokratie, wo das Wählervotum von den Gewählten in eine gar nicht gewollte Generalvollmacht umgewandelt wird. Da nur die politische Klasse, aber nicht die Wahlbürger über die politischen Spielregeln entscheiden, handelt es sich beim Wählen unter solchen Bedingungen um eine Selbstentmündigung der Bürger.

In einer freiheitlich-demokratischen Republik brauchen die Bürger eigentlich nur ein vom Volk beherrschtes Verfahren zur staatlichen Willensbildung, aber keine Vertretung, die sich durch Anmaßung von Befugnissen zum Vormund des Volkes aufschwingt. Eine Ermächtigung durch das Volk, die nach der Wahl über viele administrative Instanzen weitergereicht wird, verwässert die demokratische Legitimation. Dies ist in unserer Vertretungsdemokratie regelmäßig der Fall, wo politische oder leitende Beamte, ordentliche Richter, Verfassungsrichter und Repräsentanten für die Europäische Union in obskuren Parteizirkeln nach Gesichtspunkten des Machterhalts und der Pfründesicherung ausgeklüngelt werden. Man beruft sich dabei, wie auch bei der Regierungsbildung, auf das sogenannte "Wählervotum". (Das hat man auch in der DDR gemacht, und die westliche Presse sprach dann von "Schwindelwahlen".) Was die Wähler wirklich wollen, wissen die Gewählten durch Umfragen ziemlich genau, aber darum brauchen sie sich nicht zu scheren, denn die Wähler können sie nicht wirkam zur Verantwortung ziehen.

Organschaftliche Gewaltenteilung ist immer dann nötig, wenn die an Volksvertreter delegierte Staatsgewalt anders nicht kontrolliert werden kann. Rechtsstaatlichkeit allein garantiert noch keine freiheitliche Demokratie, denn die bloße Rechtsförmigkeit von administrativen oder judikativen Entscheidungen bietet dafür keine inhaltliche Gewähr. Auch eine Diktatur kann formal rechtsstaatlich funktionieren. Gesetze (einschließlich der Verfassung) können sogar Unrecht festschreiben, deshalb ist es falsch, den bedingungslosen Vorrang des Gesetzes gegenüber Gesichtspunkten der Moral oder Gerechtigkeit zu fordern. Legal ist nicht automatisch legitim, und Recht enthält immer auch ein Quantum Willkür. Wenn aber eine starke Mehrheit des Volkes hinter der Willkür steht, kann und muss sie hingenommen werden. Echte Demokratie ist unvermeidlich die Diktatur der Mehrheit. Bei der parlamentarischen Demokratie handelt es sich aber um die Diktatur einer elitären Minderheit.

Die parlamentarische Demokratie stellt eine primitive Form der Demokratie des Flächenstaates dar, der in vorindustrieller Zeit für die Bürger zweifellos besser als Fürstenwillkür war. Noch primitiver ist die Versammlungsdemokratie, wie sie im antiken Rom und Athen einige Jahrhunderte lang verhältnismäßig erfolgreich praktiziert wurde. Eine Versammlungsdemokratie ist grundsätzlich durch Demagogen manipulierbar, und die Teilnehmer, die ihre Stimme offen abgeben, sind erpressbar. Eine Demokratie, in der die Wahlentscheidung der Bürger, aber auch die legislative Entscheidung von gewählten Mandatsträgern offen abgegeben werden muss, also keine geheime Stimmabgabe möglich ist, kann nicht den Anspruch auf freiheitliche Demokratie erheben. Man kann die offene Stimmabgabe, sei es an der Wahlurne ("falten gehen") oder im Parlament (Fraktionszwang), als typisches Merkmal eines Obrigkeitsstaates bzw. verdeckten Polizeistaates betrachten. Die Unzulänglichkeiten früher Formen der Demokratie lassen sich heutzutage aber technisch leicht vermeiden.

Das Recht zu wählen, garantiert noch lange nicht Demokratie, dafür gab und gibt es genügend Beispiele. Es genügt nicht, die Regierung unblutig loszuwerden, denn heute erwarten die Bürger, an den Entscheidungen des Staates in allen Gliederungen, Ebenen und Organen beteiligt zu werden. Dazu sind Parlamente eine Notlösung, die in der Anfangszeitzeit der Bundesrepublik ihre Berechtigung hatte. Heute ist die parlamentarische Form der Demokratie technisch überholt, politisch gefährlich und sie behindert den Fortschritt der Zivilisation.