75 Jahre Nordatlantikpakt: Zur Nato und ihrem gefährlichen Drang nach Überlegenheit

75 Jahre Nato: Das Jubiläum bietet eine Chance zur Stärkung von Rüstungskontrolle und Abrüstung. Wie das gelingen kann.

In seinen negativen Auswirkungen gilt Macht in der internationalen Politik als Krisenfaktor ersten Ranges. Sie ist seit Jahrhunderten eine der gefährlichsten Herausforderungen der menschlichen Existenz.

Am Ende geht es um das militärische Potenzial

Die eigentlichen Antreiber im politischen Schachspiel um Positionen im Weltgefüge sind machtpolitischen Ursprungs. Trotz der Vielfältigkeit unterschiedlicher Machtmittel ist und bleibt das militärische Gewaltpotenzial das sichtbarste und gefährlichste Instrument internationaler Macht. Aber auch der Wirtschaftsmacht kommt entscheidende Bedeutung zu.

Machtpolitische Ziele und ökonomische Interessen stehen international in enger Wechselwirkung. Obwohl Wirtschaftsmacht im Vergleich zur Militärmacht weniger offensichtlich ist, ist sie deswegen nicht weniger erfolgreich.

Die bis heute asymmetrischen Handelsstrukturen zwischen Ländern des Südens und den westlichen Industrieländern – auch als ein Resultat aus den Kolonialstrukturen – sind ein Beleg dafür.

Es bleibt festzuhalten, dass das schrankenlose Machtstreben eine wesentliche Bestimmungsgröße für die Konfliktträchtigkeit unserer heutigen Welt ist.

Rolf Bader ist ehemaliger Geschäftsführer der IPPNW und Offizier a.D. der Bundeswehr.

Die Existenz der Atomwaffen hat zu einer grundsätzlichen Veränderung im Umgang der Machtblöcke zueinander geführt. Im Bewusstsein der zerstörerischen Wirkung dieser Waffen ist es bisher noch zu keiner direkten militärischen Auseinandersetzung gekommen.

Unter dem Druck und der Belastung gegenseitiger Zerstörung ist der machtpolitische Interessenkampf so gewichtet, dass ein unmittelbares Aufeinandertreffen bisher vermieden werden konnte.

Atomkrieg ist kein vernünftiges Mittel der Politik

Durch zielgenaue Trägermittel, die jeden Punkt der Erde mit gewaltiger Zerstörung treffen können, dürfte ein Krieg zwischen den Atommächten kein vernünftiges Mittel der Politik sein.

Heute steht einer möglichen Gewinnerwartung eines Angriffskrieges ein gewaltiges Schadensrisiko gegenüber.

Noch zu Moltkes Zeiten galt, dass der Krieg ein Element der von Gott eingesetzten Weltordnung sei. Krieg war unbedingtes Mittel der Politik und nach dem weltlichen Verständnis der Theorie vom gerechten Krieg nur noch politischen Zwecken des jeweiligen Herrschers unterworfen.

Die Existenz globaler Vernichtungskraft hat dem Menschen Grenzen aufgezeigt und signalisiert dringlich die Notwendigkeit, sich in der Anwendung militärischer Macht zu mäßigen.

Um der möglichen Unbegrenztheit der Macht begegnen zu können, wurden Atomwaffen in ein sicherheitspolitisches Konzept eingebunden. Ein Angriffskrieg wird mit einem so hohen Risiko belegt, dass der zu erwartende Schaden erheblich größer sein wird als der mögliche Gewinn.

Dieses Sicherheitsverständnis entspricht dem einfachen Modell, Macht durch Gegenmacht auszugleichen.

Innerhalb dieser Logik ist Kriegsverhütung nur über die Fähigkeit zur Kriegführung glaubwürdig. Kriegführungsfähigkeit beschränkt sich nicht auf eine spezielle Waffenart, sondern umfasst das gesamte Spektrum konventioneller und auch atomarer Waffen.

Das entscheidende Fundament der Sicherheitspolitik: Abschreckung

Abschreckung will einen möglichen Gegner bereits vor dem Griff zur Waffe davon überzeugen, dass sich ein Angriff nicht lohnt. Sie ist nur als rationales Denkmodell funktionsfähig.

Abschreckung kann nur dann wirksam sein, wenn der Kontrahent sie als glaubhaft einschätzt. Das setzt voraus, dass neben der Fähigkeit zur Verteidigung auch die Entschlossenheit dokumentiert werden muss, die eigenen Zerstörungsinstrumente im Ernstfall einzusetzen.

Das Prinzip des Gleichgewichts

Eng gekoppelt mit der Abschreckung ist das Prinzip des Gleichgewichts. Es besagt, dass sich die Gewichte aller politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kräfte in ihrer Gesamtheit die Waage halten müssen, um den Frieden und die Sicherheit des betroffenen Staates zu erhalten.

Nun ist es bis heute nicht gelungen, das angestrebte Gleichgewicht dauerhaft zu stabilisieren. Indem man Gleichgewicht forderte, suchte man stets die eigene Überlegenheit, den eigenen Vorteil.

Die Chancen für eine geopolitische Balance sind gering, zumal sich innerhalb des gültigen Paradigmas Gegner ständig misstrauen und sich erst dann sicher

fühlen, wenn sie stärken sind als der andere. Die sich ständig aufschaukelnden Bedrohungsängste führen in der Folge zu einem unbegrenzten Rüstungswettlauf.

Falls die Abschreckung versagt, muss verteidigt werden. Verteidigung ist nur dann sinnvoll, wenn das, was verteidigt wird, nicht zerstört wird. Die militärische Verteidigung im westlichen Bündnis ist eng mit dem Begriff der Vorneverteidigung verbunden.

Für die Bundesrepublik bildet die grenznahe und gemeinsame Verteidigung die eigentliche "Geschäftsgrundlage" im Nato-Bündnis. Es gilt, den Schaden für die eigene Bevölkerung so gering wie möglich zu halten.

Damit sind rasche Konfliktbeendigung und Schadensbegrenzung im Rahmen der Vorneverteidigung die Bestimmungsgrößen einer glaubwürdigen Verteidigungsoption.

In Anbetracht der gesteigerten Zerstörungswirkung konventioneller Waffen ist die lebenswichtige Infrastruktur der Bundesrepublik Deutschland bereits durch einen länger dauernden konventionellen Krieg gefährdet. Mit hohen Verlusten der Zivilbevölkerung wäre zu rechnen.

Wie soll ein Verteidigungskrieg, der sich nicht auf die Kampfzone einschränken lässt, räumlich und zeitlich begrenzt werden? Einziges Mittel zur raschen Konfliktbeendigung wäre für die Nato der begrenzte Einsatz von Atomwaffen.

Den Krieg damit zu beenden, scheint eher ein von Hoffnung getragenes Wunschdenken zu sein.

Die heutige Sicherheitspolitik fußt auf einem gegnerschaftsorientierten Sicherheitsverständnis, um möglicher machtpolitischer Expansion begegnen zu können. Ein Sicherheitsverständnis, das im eigenen Vorteil den gewünschten Nachteil des Gegners erwartet, ist von seiner Grundstruktur her nicht friedensfördernd.

Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine setzt die Nato auf Stärkung ihrer strategischen und operativen Einsatzfähigkeit. Die Mitgliedsstaaten haben umfangreiche Rüstungsmaßnahmen beschlossen, um ihre Armeen zu "ertüchtigen".

Die Verteidigungsausgaben der Bundesrepublik sollen in den kommenden Jahren auf mindestens 2 Prozent des BSP gesteigert werden: Das bedeutet konkret einen Anstieg von ca. 50 auf über 80 Milliarden Euro jährlich. Die "Verteidigungspolitischen Richtlinien 2023" benennen Russland als die größte Bedrohung für den Frieden in Europa und weltweit.

Die Bundeswehr und die Gesellschaft müssen wieder kriegstauglich werden

"Wir wollen diese Auseinandersetzung nicht nur gewinnen, sondern wir müssen", so die "Verteidigungspolitischen Richtlinien 2023". Des Weiteren wird ausdrücklich betont, dass je nach Lageentwicklung die Bundeswehr auch international einsatzfähig sein müsse.

Die Nato ist mit inzwischen 32 Mitgliedsstaaten das größte Militärbündnis, das Russland konventionell überlegen und atomar ebenbürtig ist. Die jährlichen Rüstungsausgaben der Nato mit über einer Billion US-Dollar liegen weit über denen Russlands.

Diese Entwicklung zeigt sehr deutlich, dass immer wieder die gleichen Muster der Krisenbewältigung zur Anwendung kommen. Aus einer vermeintlichen Bedrohung entwickelt sich ein Rüstungswettlauf.

Der durch Abschreckung erkaufte Sicherheitszustand ist bereits nicht mehr stabil. Die Atomwaffenstaaten fürchten stets durch die wachsende Treffgenauigkeit der gegnerischen Trägersysteme um den Verlust ihrer Zweitschlagfähigkeit.

Des Weiteren beinhaltet die "Nukleare Teilhabe" europäischer Nato-Staaten konkrete atomare Kriegführungsoptionen mit weitreichenden Konsequenzen:

  • Nuklearwaffen könnten "chirurgisch" gezielt und begrenzt eingesetzt werden.
  • Rüstungstechnisch führt diese Entwicklung zur Miniaturisierung der Atomwaffen mit hoher Zielgenauigkeit sowie sicherheitspolitisch zu einer Herabstufung der "Nuklearen Schwelle".

Hier zeigt sich, dass Abschreckung weder politisch noch technisch stabil ist. Mit ihr verbinden sich kontinuierlich neue Rüstungsschübe, um die Wirksamkeit und Glaubwürdigkeit aufrechterhalten zu können.

Auf der politischen Handlungsebene ist der Preis dieser Sicherheit eine ständige gefährliche Grenzsituation, deren Überschreiten katastrophale Folgen für die Menschheit hätte.

Der Ukraine-Krieg zeigt sehr deutlich, wie ein Kriegsgeschehen unkontrolliert eskalieren könnte. Im schlimmsten Fall sogar zu einer direkten Konfrontation zwischen Russland und der Nato führen könnte. Ein Einsatz von Atomwaffen wäre mit dem Risiko eines globalen Atomkriegs verbunden.

Dieses Szenario ist real und eine existenzielle Gefahr für die Menschheit. 75 Jahre Nato wäre ein Anlass, sich wieder verstärkt um Rüstungskontrolle und Abrüstung zu bemühen.

Sie ist nicht nur dringend geboten. Sie wäre in der aktuell festgefahrenen Situation auch ein möglicher Türöffner für Verhandlungen mit Russland. Ein Angebot der Nato, auf den Ersteinsatz von Atomwaffen zu verzichten, könnte als Verhandlungseinstieg dienen.

Das Nato-Jubiläum ermöglichte, Verhandlungsbereitschaft zu zeigen, Russland zu Gesprächen einzuladen und über Rüstungskontrolle zu verhandeln. Das wäre vielleicht ein erster Schritt, die verhärteten Fronten zu lockern und sich an einem neutralen Verhandlungsort – wie schon oft in Genf praktiziert – zu treffen.

Vielleicht gelingt es über diesen Weg, auch den Ukraine-Krieg in einem weiteren Gesprächsverlauf zum Verhandlungsthema zu machen.

Diese einmalige Chance sollte die Nato nutzen. Das wäre ein würdiges Jubiläum, das vielleicht Geschichte schreiben könnte.

Rolf Bader, geb. 1950 ist ehem. Offizier der Bundeswehr. Studium der Pädagogik an der Universität der Bundeswehr, München. Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Vorstandsmitglied am Institut für Psychologie und Friedensforschung e.V. (IPF), München (inzwischen aufgelöst).

Er ist ehem. Geschäftsführer der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte:innen für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte:innen in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW).