Moskaus Außenpolitik: Atomwaffen werden Russland nicht voranbringen

Strategisches Raketensystem "Yars" in Moskau, April 2022. Bild: Oleg Elkov, Shutterstock.com

Die UdSSR war die zweitgrößte Wirtschaftsmacht, Russland ist auf Platz 11. Das wirft Fragen zum Weg nach der aktuellen Krise auf. Eine Analyse mit Ausblick. (Teil 1)

Die Krise in der Ukraine wird, wie alle früheren Konflikte, eines Tages enden, und Russland wird seinen historischen Weg fortsetzen. Das erlaubt uns, schon jetzt zu versuchen, die wahrscheinlichen Konturen seiner Außenpolitik nach der Krise zu verstehen.

Während des Konflikts, der in vielerlei Hinsicht die Existenz und das Bewusstsein nicht nur der russischen Eliten, sondern auch der breiten Öffentlichkeit beeinflusst hat, hat sich eine zunächst außergewöhnliche, wenn auch für solche historischen Momente typische Situation herausgebildet.

Aus den dunklen Tiefen des Massenbewusstseins tauchten die radikalsten Ideologen auf, die zuvor als Außenseiter gegolten hatten. Aber nach der Überwindung der gegenwärtigen Krise wird Russland, wie schon so oft, zu seinem natürlichen Zustand zurückkehren, der durch seine jahrhundertealte Kultur und Stellung sowie durch den modernen Entwicklungsstand seiner Wirtschaft und seines Gesamtpotenzials bestimmt wird – zum Zustand also eines geographisch eurasischen Landes, das sowohl mit Europa als auch mit Asien aktiv interagiert.

Radikale ohne dauerhaften Einfluss

Die zuvor Marginalisierten werden wieder an den Rand gedrängt, während der Mainstream seinen Einfluss beibehält und verstärkt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass innerhalb des allgemeinen historischen Rahmens des Mainstreams keine sehr unterschiedlichen Optionen für operative Entscheidungen und taktische Nuancen möglich sind.

Um zu verstehen, welche der möglichen Optionen für Russland am realistischsten und optimalsten wäre, muss man zunächst versuchen, die allgemeinen Ziele der russischen Außenpolitik zu definieren.

Der russische Staat wird in der Verfassung als Sozialstaat definiert. Sein Ziel besteht darin, eine höhere Lebensqualität für seine Bürger zu erreichen. Die Gewährleistung der Sicherheit des Landes als eines der Ziele der Außenpolitik sollte ebenfalls auf diesem Ziel basieren.

Verhältnis zwischen Sicherheit und Wohlstand

Sicherheit ist nicht um ihrer selbst willen notwendig, nicht um das utopische Ideal der Reinheit der deutschen, angelsächsischen, chinesischen oder irgendeiner anderen Zivilisation zu verteidigen, nicht um die Privilegien der herrschenden Klasse zu festigen usw., sondern um das Leben der einfachen Menschen zu verbessern.

Es geht nicht um den Menschen um der Sicherheit willen, sondern um die Sicherheit des Menschen, des lebendigen Menschen, nicht des idealen Menschen. Es geht also um die Rettung der jetzt lebenden Generation und der Generation, die unmittelbar nach uns kommt. Das ist es, wozu uns Alexander Solschenizyn aufgerufen hat.

Möglichkeiten und Ziele

Um die notwendige Variante der Außenpolitik für die greifbare Zukunft zu bestimmen, ist es zunächst unabdigbar, das Potential und die Situation, in der sich unser Land in der Zeit nach der Krise befinden wird, objektiv zu bewerten.

Schon heute ist klar, dass Russland ein großes und einflussreiches Land in der Welt ist (und bleiben wird), aber in Bezug auf sein reales Potenzial ist es meist weit von der Spitze entfernt, und seine Position im Vergleich zu den führenden Staaten der Welt wird seit einigen Jahrzehnten immer schwieriger. Zahlreiche objektive Indikatoren bestätigen diese These.

Nach Schätzungen der UNO war die UdSSR 1990 die zweitgrößte Volkswirtschaft. Im Jahr 1991 betrug das BIP Russlands nach Angaben der Weltbank 518 Milliarden US-Dollar (Platz 8 in der Welt). Für das Jahr 2024 prognostiziert der IWF einen Wert von 2.056 Milliarden USA-Dollar und damit Platz 11.

Das durchschnittliche jährliche Wachstum der Weltwirtschaft von 1990 bis 2021 betrug 2,9 Prozent pro Jahr, in Russland lag es bei 0,8 Prozent. Heute beträgt der Anteil Russlands am Welt-BIP weniger als zwei Prozent (USA: rund 25 Prozent; China: rund 18 Prozent; Japan: rund sechs Prozent; Deutschland: rund fünf Prozent).

Keine aufholende Entwicklung

Mit anderen Worten, ein beschleunigtes, aufholendes Wachstum wurde noch nicht erreicht, der Abstand zu den führenden Volkswirtschaften der Welt wurde nicht verringert; er hat sich vergrößert. Einige andere Länder haben ihre Entwicklung beschleunigt. So überholte Russland 1991 China beim BIP um rund 20 Prozent und Indien um das Doppelte, liegt aber heute mehr als zehnmal so weit hinter China und doppelt so weit hinter Indien zurück.

Die allgemeine Wirtschaftslage wirkt sich auch auf alle anderen Indikatoren aus: Pro-Kopf-BIP, Staatshaushalt, demografische Indikatoren und Militärausgaben. So übertrifft der Militärhaushalt der USA heute den Russlands um das Zehnfache, den Chinas um das 3,5- bis Vierfache und den Indiens fast um den gleichen Betrag.

Nach der Volkszählung von 1989 betrug die Bevölkerung der Russischen Sozialistischen Föderative Sowjetrepublik etwas mehr als 147 Millionen Menschen; am 1. Januar 2023 lebten nach Schätzungen von Rosstat 146,5 Millionen Menschen in Russland, was bedeutet, dass die Bevölkerung trotz der getroffenen Maßnahmen nicht gewachsen ist.

Im gleichen Zeitraum wuchs die Bevölkerung der USA von 250 Millionen auf 340 Millionen, die Chinas von 1153 Millionen auf 1413 Millionen und die Indiens von 864 Millionen auf 1399 Millionen. Heute liegt Russland bei diesem Indikator weltweit auf Platz 9, während es 1991 noch auf Platz 6 lag.

Wirtschaft Russlands: Keine positiven Trends auszumachen

Man kann diesen langfristigen Trend unterschiedlich interpretieren, aber in jedem Fall ist er für Russland, das auf seinem riesigen Territorium mit einem erheblichen Arbeitskräftemangel zu kämpfen hat, nicht positiv zu bewerten.

Natürlich hat Russland einige Merkmale einer Supermacht aus der Zeit der UdSSR bewahrt: Nuklearpotenzial, Raumfahrtprogramm, starke Energie etc. Aber all diese Attribute dienten zu Sowjetzeiten als Überbau über einer völlig anderen Wirtschaft, die unter den neuen Bedingungen immer schwieriger aufrechtzuerhalten ist, und ihr Nutzen ist heute nicht mehr so groß.

Das Vorhandensein von Kernwaffen erhöht die Sicherheit des Landes in dem Sinne, dass kaum jemand, der bei klarem Verstand ist, einen direkten bewaffneten Großangriff gegen Russland starten würde.

Aber wie die militärische Praxis der letzten Jahre gezeigt hat, erfordern moderne lokale Konflikte etwas ganz anderes – die neuesten Arten von High-Tech-Waffen und eine starke wirtschaftliche Basis, die dazu beitragen kann, einen längeren Konflikt bis zur Erschöpfung der Ressourcen durchzustehen.

Und hier hat Russland im Vergleich zu seinen Nachbarn wie China, der Türkei oder dem Iran, ganz zu schweigen von den westlichen Ländern, bei einer Reihe von Indikatoren Probleme.

Einflussreich, aber nicht führend

Dabei geht es um die objektive Situation, die globale Dynamik und die Aktivitäten aller Russen in der vergangenen, ziemlich langen Zeit. Diese Ergebnisse ermöglichen es Russland, als ein großer und einflussreicher Staat zu existieren. Aber sie garantieren keine solide Grundlage für seine Rolle als eine der zwei oder drei führenden Mächte der Welt oder als autonomes Machtzentrum, das von niemandem und von nichts abhängt.

Es geht nicht um historische Voraussetzungen, sondern um moderne Kriterien der Konkurrenzfähigkeit in der Welt und um die Fähigkeit, den Großmachtstatus heute und morgen zu erhalten.

Interessant ist hier das Beispiel der beiden Koreas. Das politische Konstrukt ist in beiden koreanischen Staaten relativ stabil, die DVRK verfügt sogar über Atomwaffen. Das macht sie aber nicht mächtig und einflussreich in der Welt, auch wenn sie ihre Souveränität bewahren kann.

Lehrreicher Blick nach Südkorea

Es ist Südkorea, das dank der Stärke seiner wachsenden Wirtschaft, seiner Rolle im Welthandel und seines allgemeinen Niveaus der menschlichen Entwicklung zu einer mächtigen Kraft in der Welt wird.

Dies ist ein gutes Beispiel dafür, dass rein militärische Macht als Einflussfaktor zwar immer noch sehr wichtig ist, aber in der modernen Welt gegenüber anderen Faktoren in den Hintergrund tritt.

Die Anerkennung der Komplexität der Situation muss nichts zwangsweise in Pessimismus münden. Russland hat sich immer wieder aus den schwierigsten Situationen befreit, die vielen hoffnungslos erschienen.

Deshalb haben uns unsere klügsten Köpfe ermahnt, uns zu konzentrieren und Strategie nicht mit nostalgischen Träumen zu verwechseln.

Deshalb wird Russland unter den Bedingungen nach der Krise, mit der wir konfrontiert sind, eine neue Politik brauchen, die sich auf die objektive Realität stützt und sich darauf beschränkt, in der Praxis die Bedingungen für eine beschleunigte Entwicklung zu gewährleisten.

Dies gilt auch, wenn sie Kompromisse mit den bestehenden ideologischen Utopien, Mythen und Komplexen eingeht, die zur Wiederherstellung entweder der UdSSR oder des Russischen Reiches oder des Eurasischen Reiches von Khubilai mit Peking als Hauptstadt aufrufen.

Welcher Kurs für Russland optimal wäre

Und ein solcher neuer politischer Kurs, den wir für das Land für optimal halten, muss durch eine erneuerte Außenpolitik unterstützt werden.

Die moderne Welt verändert sich. Aber diese Veränderungen bestehen vor allem im wachsenden Einfluss jener nichtwestlichen Macht- und Entwicklungszentren, die nicht versuchen, eine Alternative zur bestehenden Weltordnung zu bilden, sondern diese schrittweise zu verändern, um in ihr eine größere Rolle spielen zu können.

Dieses ganz praktische Ziel zu verfolgen, ist auch für Russland realistisch.

Alexander Wladimirowitsch Lukin - Doktor der historischen Wissenschaften, Professor; Wladimir Petrowitsch Lukin - Doktor der historischen Wissenschaften, Professor.

Nach der Bestandsaufnahme im ersten Teil widmen sich die Autoren im zweiten Teil den Rückschlüssen und den Perspektiven Russlands in der aktuellen Weltlage.

Der Artikel erschien zuerst auf Russisch in der Nesawissimaja gaseta, die deutsche Publikation erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autoren.

Übersetzung und Bearbeitung: Harald Neuber