Russland-Sanktionen gescheitert: Wie der Westen Putin unterschätzte und sich im Ukraine-Krieg irrte

Ukrainische und russische Flagge mit Peace-Zeichen

Druck auf Russland ohne erhoffte Wirkung. Ukraine-Krieg zieht sich. Und mit Trumps Amtsantritt könnte sich viel ändern, meint der Historiker Ewgeniy Kasakow.

Der Krieg in der Ukraine dauert mittlerweile fast drei Jahre. Doch es gibt Anzeichen dafür, dass die Diplomatie künftig eine größere Rolle spielen könnte. Der ukrainische Präsident Selenskyj räumt die Möglichkeit zeitweiliger Gebietsverluste an Russland ein.

Moskau besteht zwar nach wie vor auf seinen Maximalzielen – wie den Verzicht der Ukraine auf Nato-Beitritt und einen Regimewechsel in Kiew. Doch zwischen den Zeilen gibt es auch dort Anhaltspunkte für eine mögliche Bereitschaft zu Verhandlungen. Und mit dem Amtsantritt von US-Präsident Trump verändern sich außerdem die weltpolitischen Rahmenbedingungen.

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Dietmar Ringel hat darüber mit dem aus Russland stammenden Historiker Ewgeniy Kasakow gesprochen, der seit Längerem in Deutschland lebt und über die russische und ukrainische Zivilgesellschaft schreibt. 2022 ist sein Buch "Spezialoperation und Frieden – die russische Linke gegen den Krieg" erschienen.

▶ Wird der Krieg in der Ukraine in diesem Jahr enden?

Ewgeniy Kasakow: Das kann ich natürlich nicht beantworten, weil ich weder Militärexperte noch Futurologe bin. Der wiedergewählte US-Präsident, der versprochen hat, den Krieg schnell zu beenden, hat schon in seiner ersten Amtszeit einige Versprechen abgegeben – etwa den Bau einer Mauer an der Grenze zu Mexiko, was er aus dem mexikanischen Staatsbudget bezahlen wollte.

Dem Ansehen bei seinen Wählern hat es anscheinend nicht geschadet, dass keineswegs alle seine Wahlversprechen in Erfüllung gegangen sind. Das muss man bedenken. Zumal er auch nicht erneut wiedergewählt werden kann. Diesen Optimismus, der auf einem Wahlversprechen beruht, kann ich deshalb nicht teilen.

▶ Aber es gibt noch einige andere Faktoren, die ich schon genannt habe. Die Signale aus Kiew zum Beispiel, die bis in jüngster Vergangenheit ganz anders klangen. Auch aus Moskau heißt es zwischen den Zeilen, man müsse prüfen, was an Ideen kommt. Und die Russen schauen natürlich auch nach Washington. Deshalb noch mal die Frage: Sehen Sie Anzeichen dafür, dass es in diesem Jahr zu deutlichen Veränderungen kommen wird?

Ewgeniy Kasakow: Man kann die Signale so deuten, dass in diesem Jahr verhandelt wird. Das basiert auf der Lage der Ukraine, die einen Sieg oder was immer man darunter versteht, eher unwahrscheinlich erscheinen lässt. Aber da sich Russland gerade in einer zwar langsamen, aber anhaltenden Offensive befindet, sieht man sich dort nicht gerade veranlasst, möglichst schnell zu verhandeln.

Man geht davon aus, dass es jeden Tag vielleicht noch ein paar Kilometer weiter vorangeht. Ich habe gesagt, ich kann die Zukunft des Krieges schlecht vorhersagen. Ich wage aber schon Prognosen. Zum Beispiel, dass beide Seiten, sobald der Krieg vorbei ist, sagen werden, sie hätten einen hervorragenden Sieg errungen. Die ukrainische Seite, weil der russische Plan, die Ukraine zu überrennen und in ein paar Tagen Kiew einzunehmen, gescheitert ist. Die russische Seite, weil die Ukraine ihr proklamiertes Ziel, die Grenzen von 1991 wiederherzustellen, verfehlt und weitere Gebiete verloren hat.

Aber auch, dass sich die Nato nicht ohne weitere Konsequenzen erweitert hat, denn sie muss für die Zerstörungen in der Ukraine aufkommen. Das zeichnet sich schon sehr deutlich ab. Vermutlich wird auch die russische Seite sagen, es sei schon deswegen ein Sieg, weil man unter den westlichen Sanktionen nicht zusammengebrochen ist. Also im Grunde werden die Regierungen beider Seiten der jeweiligen Bevölkerung sagen, allein dass wir nicht zusammengebrochen sind, macht uns zum Sieger.

Die Ukraine, weil sie dem militärischen Druck standgehalten hat, die russische dem ökonomischen. Wenn es um ihre Souveränität geht, können den Staaten eigentlich keine Kosten zu hoch sein. Die Frage ist nur, wer zuerst an die Grenzen seiner Möglichkeiten kommt.

▶ Gerade in letzter Zeit gab es wiederholt Meldungen darüber, dass Soldaten in großer Zahl aus der ukrainischen Armee desertiert sind. Es gibt Razzien in ukrainischen Städten, wo Wehrpflichtige zwangsweise an die Front geschickt werden. Was sagt das aus über die Bereitschaft der Menschen in der Ukraine, weiterhin ihre Heimat zu verteidigen?

Porträt Ewgeniy Kasakow
Ewgeniy Kasakow. Bild: Unrast Verlag

Ewgeniy Kasakow: Ich muss dazu sagen, dass ich kein Experte für die Ukraine bin, sondern für Russland. Und ich bin auch eher in der russischen Zivilgesellschaft vernetzt als in der ukrainischen – wie Sie das zu Beginn unseres Gesprächs formuliert hatten.

Trotzdem: Es sagt aus, dass man es in keinem Krieg, vor allem nicht in einem nicht besonders erfolgreichen, vermeiden kann, dass eines Tages die Motivation nachlässt. Es zeigt auch, dass sich die ukrainische Gesellschaft verändert hat, weil wahrscheinlich diejenigen, die unbedingt in diesen Krieg ziehen wollten und hoch motiviert waren, schon in den Krieg gezogen sind.

Und jetzt sage ich etwas, das vermutlich bei den Lesern von Telepolis nicht so gut ankommt: Man kann von Selenskyj halten, was man will. Aber dieser Staatschef hat lange Zeit der mächtigsten Weltmacht, nämlich den USA, in der Frage getrotzt, ob die Ukraine jüngere Menschen an die Front schicken soll. Tatsächlich hat man es im Grunde vermieden, Leute an die Front zu schicken, sobald sie wehrpflichtig sind. Das war Gegenstand eines Streits.

Die Ukraine hat gesagt, uns fehlen Waffen und Ausrüstung. Und die wichtigsten Verbündeten, die USA, haben gesagt. Nein, was Euch fehlt, sind jüngere Leute an der Front. Am Ende kann die ukrainische Seite sagen – egal, wie der Krieg ausgeht – dass es nicht erfolgreich genug war, lag daran, dass wir nicht genügend Waffen bekommen haben. Von außen wird man dagegen sagen, es lag daran, dass nicht ausreichend junge Leute mobilisiert wurden. Im Krieg müssen die Staaten mit ihrer Bevölkerung anders "haushalten" als in Friedenszeiten.

▶ Da sind wir beim nächsten Punkt. Es scheint klar zu sein, dass der Ukraine nicht mehr genügend Soldaten zur Verfügung stehen. Die Ukraine ist ein kleineres Land als Russland, hat weniger Einwohner. Das heißt, wenn man wirklich noch lange Zeit kämpfen würde, würde sich dieser Faktor gegen die Ukraine richten. Was sind anhaltende westliche Waffenlieferungen wert, wenn die Kämpfer ausgehen?

Ewgeniy Kasakow: Die Befürworter von mehr Waffenlieferungen an die Ukraine haben immer wieder gesagt: Hätte der Westen von Anfang an mehr und schwerere Waffen geliefert, solche mit größerer Reichweite, dann hätte man Russland mehr Verluste zugefügt. Wäre das passiert, hätte Russland anfangen müssen, Menschen zu mobilisieren und sie zu diesem Zweck aus der Produktion abzuziehen.

Dann wäre die russische Wirtschaft nicht mehr so robust gegen Sanktionen gewesen. Es war tatsächlich von Anfang an klar, dass Russland anders als die Ukraine die totale Mobilisierung vermeiden will. Sie tun lieber das, was man immer so gern belächelt. Sie schicken Gefängnisinsassen und Untersuchungshäftlinge an die Front, Arbeitsmigranten, Leute aus den ärmsten Regionen oder Söldner aus anderen Staaten, wie jetzt anscheinend auch Truppen aus Nordkorea.

Damit vermeidet man erstens unbeliebte Maßnahmen wie eine Mobilisierung, die in Russland noch viel weniger beliebt wäre als in der Ukraine und erhält zweitens ein Bild, wonach sich der Alltag, die Normalität von der "Spezialoperation" unangetastet zeigen. Denn die Russen, das kann man schon so sagen, sind einfach nicht so motiviert wie die Ukrainer. Und die russische Bevölkerung kann sich auch gegenüber dem Krieg indifferent verhalten, für die ukrainische trifft das viel weniger zu.

Hinzu kommt eine andere Praxis. In Russland bekommen Leute in den ärmeren Regionen, wo es wenig Industrie gibt, viel Geld, wenn sie einen Vertrag unterschreiben und zur Armee gehen. In Regionen, in denen sich die Rüstungsindustrie befindet, schafft man dagegen nicht so viele Anreize. Deshalb läuft die Produktion, die man für den Krieg benötigt, weiterhin. Die Diskussion darüber, was passiert wäre, hätte der Westen von Anfang an mehr Waffen geliefert und Russland stärkere Verluste zugefügt, wird vermutlich noch lange anhalten. Und solch eine absurde Spekulation ist das aus meiner Sicht nicht.

Die Ukraine war von Anfang an zahlenmäßig unterlegen, hatte also keine Chance im Falle einer Totalmobilmachung auf beiden Seiten. Der Westen hat auf den Zusammenbruch der russischen Wirtschaft spekuliert, glaubte, im Gegensatz zur Ukraine bekäme Russland keine massive Hilfe von außen und käme so ökonomisch an seine Grenzen. Aber das ist nicht passiert.

▶ Sie haben vorhin erwähnt, dass sich der ukrainische Präsident Selenskyj lange geweigert hat, junge Wehrpflichtige an die Front zu schicken, was ihm sicherlich Pluspunkte bei der eigenen Bevölkerung eingebracht hat. Jetzt sinken allerdings seine Beliebtheitswerte deutlich, und er hat auch eine Reihe politischer Kontrahenten. Bislang haben sie sich weitgehend zurückgehalten. Aber was passiert, wenn der Krieg vorbei ist? Beginnt dann das Scharmützel um die politische Macht?

Ewgeniy Kasakow: Ich kann nur sagen, was mir dazu "vom russischen Ufer aus" auffällt. Mir scheint, dass Selenskyj irgendwann in eine ähnliche Position wie Putin am Anfang seiner Amtszeit gekommen ist. Putin hatte es damals mit einem Parlament zu tun, in dem die Korruption um sich griff. Im Namen der Bekämpfung der Korruption hat er dann begonnen, die Vollmachten des Präsidenten auszubauen. Und soweit ich das beobachten konnte, fanden in der Ukraine ähnliche Prozesse statt. Ich will keineswegs Selenskyj und Putin gleichsetzen, es gibt sehr viele Unterschiede zwischen denen.

Aber eine Tendenz ist doch ähnlich: Man bekämpfte die Korruption in der Legislative, indem man die Exekutive bzw. das Amt des Staatschefs stärkte – und so weiter und so fort. Und sowohl Putin als auch Selenskyj wurden am Anfang von zumindest einem mächtigen Oligarchen unterstützt, von dem sie sich später nicht nur scheinbar gelöst, sondern dem sie auch den Kampf erklärt haben.

Im Fall von Putin war das Boris Beresowski, bei Selenskyj war es Igor Kolomoisky. Am Ende gab es in Russland aber nicht weniger Korruption, sondern es entstand nur ein anderes Modell davon.

▶ Dann schauen wir jetzt nach Russland. Dort gilt das Lewada-Institut als eines der wenigen, wenn nicht einziges Institut, das soziologische Erhebungen macht, auf die man sich stützen kann. Nach jüngsten Umfragen dieses Instituts unterstützt die Mehrheit der russischen Bevölkerung weiterhin grundsätzlich den Kurs von Präsident Putin. Gleichzeitig wächst aber die Zahl derer, die sich ein Ende des Krieges wünschen. Wie passt das zusammen?

Ewgeniy Kasakow: Das passt wunderbar zusammen. Dafür muss man sich nur vorstellen, dass die Leute im Grunde so befragt werden: Seid ihr mit Präsident Putin zufrieden? Ja. Wärt ihr zufrieden, wenn er jetzt verhandeln würde? Ja. Verstehen Sie diesen Mechanismus? Es gibt Leute, die aus Überzeugung für den Krieg bis zum Sieg sind, also bis zur Einnahme Kiews. Allen Umfragen zufolge ist das aber eine Minderheit. Die wären im Prinzip auch potenziell gegen Putin, wenn er zu nachgiebig wäre.

Diese Leute werden von der Staatsmacht mal für die Unterstützung des Krieges eingespannt, ein anderes Mal werden sie misstrauisch beäugt, mitunter auch unterdrückt. Dann gibt es eine, wie manche Russlandforscher sagen, loyalistische Einstellung. Die besagt, was Putin macht, wird schon richtig sein. Wenn er jetzt beschließt zu verhandeln, wird es auch richtig sein. Sie sind weder grundsätzlich gegen Verhandlungen noch grundsätzlich für den Krieg.

Sie sagen, der Präsident wird schon wissen, was er macht. Das ist keine Unterstützung von Putin in dem Sinne, dass er den Krieg unbedingt weiterführen oder gewinnen soll. Diese Leute akzeptieren ihn als jemanden, der befugt ist, den Krieg zu führen oder ihn einzustellen.

Bei ihnen kann es auch eine sehr verwaschene Vorstellung davon geben, was das Ziel dieses Krieges ist. Wenn morgen gesagt wird, wir haben das Kriegsziel erreicht, weil die Ukraine den Donbas nicht zurückerobert hat, dann werden sie wahrscheinlich sagen, ja, das war doch auch das Kriegsziel.

▶ Ich höre daraus, im Grunde interpretieren sich die Menschen in der Mehrheit das irgendwie zurecht, aber im Wesentlichen lautet die Devise: Putin, wir folgen dir …

Ewgeniy Kasakow: Sie sind loyal zu Putin, aber nicht unbedingt, weil sie ihn für den Besten halten. Sondern häufig deshalb, weil sie sagen – na ja, es gibt einfach keine Alternative zu ihm. Das ist wichtig, weil man es in der russischen Propaganda sowohl nach innen als auch nach außen immer wieder hört.

Die Leute haben Putin nicht aufgefordert, er solle doch Truppen in die Ukraine schicken. Sondern sie haben, als er es getan hat, gesagt: Ja, er wird schon wissen, was er tut. Es ist natürlich eine Form von Loyalität, aber keine aktive Kriegsbegeisterung, sagen wir es mal so.

▶ Im Westen gab es die Vorstellung, wenn harte Sanktionen ergriffen werden, wird das die russische Bevölkerung zu spüren bekommen. Es gibt dann keine westlichen Produkte mehr zu kaufen, auch Reisen in den Westen sind nicht mehr ohne weiteres möglich, was die Eliten ärgern dürfte. Manche Russen wurden außerdem auf schwarze Listen gesetzt und so weiter. Nun wissen wir, dass die Wirkungen der westlichen Sanktionen nicht so waren, wie man sich das vorgestellt hatte. Wie ist die Situation jetzt, zum Ende des dritten Kriegsjahres?

Ewgeniy Kasakow: Zu Beginn des Krieges haben Leute zum Beispiel in der Stadt Perm angefangen, Lebensmittel zu horten, weil sie nicht wussten, was kommen wird. In vielen Städten Russlands gab es Schlangen vor Geschäften, wo Elektrotechnik aus dem Ausland verkauft wurde.

Aber mit der Zeit gab es ein Aufatmen, weil der Kollaps der Wirtschaft nicht stattgefunden hat. Es gab z. B. sogenannte Parallelimporte. Gemessen an den negativen Erwartungen kam es dann doch nicht so schlimm. Man kann weiterhin ins Ausland reisen, nur halt nicht in die Europäische Union. Und das war auch vorher nicht das Hauptreiseziel der Mehrheit der Bevölkerung. Das konnten sich viele gar nicht leisten.

Was hatte man im Westen erwartet? Dass die Bevölkerung durch die Verschlechterung ihres Lebens dem Machthaber die Loyalität kündigt? Entschuldigen Sie meine Direktheit, aber hat das jemals in Deutschland geklappt? Ich glaube, diese Option hat selten irgendwann tatsächlich diesen Effekt gehabt. Und nun zu dem Versuch, die Eliten um Putin herum dazu zu bringen, sich ein Ende des Krieges zu wünschen: Es gibt natürlich unter diesen Eliten Leute, die massiv vom Krieg profitieren.

Es gibt aber auch Leute, die sich diesen Krieg von Anfang an nicht gewünscht haben, alles andere als kriegsbegeistert sind, Verhandlungen vorschlagen und versuchen, sich als Vermittler zu betätigen. Aber die Erwartung, die würden jetzt ihren Status riskieren und Putin stützen, geht auch irgendwie nicht so richtig in Erfüllung. Im liberalen Lager gibt es einen Streit.

Die Nawalny-Leute. also Anhänger der Organisation, die Alexej Nawalny gegründet hat, sagen, die Profiteure von Putins Regime müssen enteignet werden. Und es gibt andere Fraktionen der Liberalen, die sagen, man müsse denen einen Deal vorschlagen. Ihr helft uns, Putin zu stürzen, und wir helfen Euch, dass die Sanktionen aufgehoben werden. Wenn Ihr eine Entschädigung oder Steuer gezahlt habt, dürft ihr einen Großteil eures Eigentums behalten.

Aber was wir jetzt besprechen, ist die Aufteilung des Fells eines bislang nicht erlegten Bären. Gleichzeitig muss ich aber auch sagen, dass die Sanktionen der russischen Wirtschaft schaden, nur nicht in dem Maße, dass sie jetzt während des Krieges aktiv zusammenbrechen würde, wie es anscheinend der Plan war. Aber das wird auch Jahre später noch Folgen haben. Zum Beispiel, wenn man Ersatzteile jeglicher Art braucht, die auf dem freien Markt für Russland nicht zu bekommen sind.

▶ Sie haben uns jetzt einen kleinen Einblick in die russische Zivilgesellschaft gegeben, haben die Anhänger Nawalnys erwähnt. Man fragt sich aber: Gibt es überhaupt noch eine russische Zivilgesellschaft? Oppositionelle Gruppierungen und auch Medien sind weitgehend verboten …

Ewgeniy Kasakow: Die in oppositionellen Kreisen sehr beliebte Politologin Jekaterina Schulmann vertritt die These, man könne nicht mehr von Opposition sprechen, weil es keine Konkurrenz um die politische Macht mehr gebe. Das heißt, Sie können zwar eine politische Gruppe gründen, aber es ist nicht vorgesehen bzw. es gibt reell keine Möglichkeit, um irgendwelche politischen Ämter zu konkurrieren, sei es per Wahl oder irgendwie anders.

Wahlen sind keine politischen Kampfveranstaltungen mehr, das haben die letzten Jahre gezeigt. Schulman sagt, es gibt immer noch Communitys – eine Antikriegs-Community, liberale, kommunistische, russische oder nicht-russische nationalistische Communitys usw., die miteinander kooperieren oder auch nicht.

Aber sobald sie sich eine organisatorische Form geben und sagen, wir möchten uns als Partei registrieren lassen, gibt es Repressionen. Vermutlich oft auch schon früher, sobald man sich irgendwie vernetzt hat. Deshalb sind viele Oppositionelle ausgewandert. Es gibt aber natürlich nach wie vor auch viele Leute in Russland, die aus sehr unterschiedlichen Motiven sowohl mit dem politischen System als auch mit dem Krieg nicht einverstanden sind.

Es gibt etwa Lohnkämpfe, Streiks, wenn auch in geringem Maße, nicht so, dass eine ganze Branche streikt, aber an einzelnen Orten passiert das. Es gibt auch Beschwerden von Verwandten von Mobilisierten und Soldaten. Es gibt Telegram-Gruppen für Frauen und Partnerinnen, Angehörige der Mobilisierten, die sich darüber austauschen, wie man besser Beschwerden schreiben kann.

Dann gibt es auch Leute, die zu militanten Kampfformen aufrufen, zum Beispiel zu Anschlägen auf Kreiswehrämter oder Stromkästen bei der Eisenbahn. Die werden relativ häufig geschnappt, aber es kommen immer wieder neue hinzu. Das ist natürlich keine Massenbewegung.

Wieder andere sind aus Überzeugung für die Ukraine und versuchen, erst aus Russland auszureisen und sich dann den ukrainischen Streitkräften anzuschließen.

Auf der anderen Seite gibt es aber auch eine Hardliner-Opposition, die findet, die Regierung sei viel zu lasch und tue zu wenig.

Was es allerdings nicht gibt, ist eine legale Plattform, wo sich alle diese Menschen begegnen und streiten könnten. Das heißt, irgendwo sitzen Sozialisten zusammen und reden darüber, warum ihnen Putin nicht gefällt. Ein Haus weiter sitzen Nationalisten oder Liberale zusammen und tun dasselbe. Um miteinander ins Gespräch zu kommen, gibt es nur noch das Internet. Zum Beispiel Podiumsdiskussionen oder ähnliches, wo man seine Argumente austauschen könnte, sind nicht möglich.

▶ Macht man sich in intellektuellen Kreisen oder Gruppen Gedanken darüber, was nach Putin kommen könnte?

Ewgeniy Kasakow: Das ist die Frage, die inzwischen alle Unzufriedenen umtreibt. Die meisten haben die Hoffnung aufgegeben, dass Putin in nächster Zeit gestürzt werden oder es eine Auflehnung gegen ihn geben könnte. Gleichzeitig sind alle davon überzeugt, dass es nach Putin anders sein wird als jetzt, weil das System so stark auf ihn zugeschnitten ist – anders als z.B. in China oder im Iran. Denn es gibt in Russland im Grunde genommen kein wirkliches Machtzentrum, also eine Partei oder eine Institution, die einen Nachfolger wählen könnte, der dann auch akzeptiert wäre.

Deswegen treibt die meisten tatsächlich der Gedanke um, was nach Putin kommt und was passiert, wenn es dann vielleicht in der einen oder anderen Richtung noch schlimmer wird. Also wenn z.B. die Kriegsrückkehrer zu einer politischen Macht werden oder wenn sich erst dann die Wirkung der Sanktionen richtig entfaltet. Soweit ich weiß gibt es Leute, die im Exil an einer neuen Verfassung für Russland arbeiten.

Denn inzwischen sind sogar die meisten Liberalen zu dem Schluss gekommen, dass die Jelzin-Verfassung aus den 1990er Jahren nichts taugt und auch mitschuldig daran ist, wie Putin regieren kann. Denn die Macht des Präsidenten ist laut dieser Verfassung einfach sehr groß, auf Kosten des Parlaments.

Oder es gibt Autoren und Gruppen, die sich Gedanken machen, ob man den Föderalismus neu ordnet. Sie betrachten den heutigen als Scheinföderalismus. Zum Beispiel werden die Gouverneure der meisten Regionen nicht gewählt sondern ernannt.

Es wird auch überlegt, wie ein Wahlgesetz aussehen könnte, was mit den autonomen Gebieten passieren soll. Das sind aber natürlich nur Überlegungen, und man weiß nicht, wann diese Stunde X kommt. Das ist übrigens nicht zu verwechseln mit einer Niederlage im Krieg oder etwas ähnlichem. Es geht einfach um den Moment, in dem Putin aus welchen Gründen auch immer nicht mehr in der Lage ist, Russland zu regieren wie heute.

▶ Die große Mehrheit der Deutschen übt scharfe Kritik daran, dass Russland Krieg gegen die Ukraine führt, aber anders als die Bundesregierung lehnen viele Menschen, nämlich etwa rund die Hälfte der deutschen Bevölkerung, weitere Waffenlieferungen an die Ukraine ab. Und es gibt auch an der eigenen, westlichen Politik Kritik. Kommt so was bei den Menschen in Russland an?

Ewgeniy Kasakow: Das ist schwierig, weil die staatliche Propaganda immer nur eine Seite zeigt, nämlich, dass die Menschen gegen Waffenlieferungen sind. Und die oppositionellen Kanäle zeigen entweder die Solidarität mit der Ukraine und dass Leute gegen den russischen Angriff sind, oder sie argumentieren so, dass all diejenigen, die Waffenlieferungen ablehnen, Putin unterschätzen oder völlig naiv sind.

Das ist also keine besonders präzise Wiedergabe von politischen Debatten, in denen Menschen auch sagen, sie seien voll und ganz gegen Putin und gegen das, was er in der Ukraine macht und die gleichzeitig aber auch Waffenlieferungen an die Ukraine ablehnen.

In Deutschland kommt dann immer die Frage, ach ja, und wie sollte man ihn dann dazu bewegen, seinen Krieg zu stoppen? Und dann kommt man immer mehr zu den realpolitischen Fragen. Ich würde sagen, russische Staatsmedien sammeln alle Äußerungen in Richtung, dass jemand gegen Waffenlieferungen ist oder etwas Kritisches zur Ukraine gesagt hat, schneiden dann aber den Rest der Aussage weg. Jede Form von Unzufriedenheit in westlichen Staaten mit der eigenen Regierung wird sehr genüsslich ausgeschlachtet.

Dabei zeigen die russischen Medien ein sehr widersprüchliches Bild vom Westen. Zum Beispiel zeigt man Proteste und sagt: Da seht ihr, im Westen werden auch Menschenrechte gebrochen, dort gehen die Leute gegen Rassismus auf die Straße. Und gleichzeitig heißt es, der Westen geht unter, weil sich der Staat nicht mehr durchsetzen kann.

Ich versuche, die russische Berichterstattung über den Westen zu verfolgen und bin immer wieder erstaunt, was da für Perlen kommen. Um 2015 herum ging es in einem Fernsehbericht um die Flüchtlingspolitik in Deutschland. Darin war auch ein Plakat der Hitler-Komödie "Er ist wieder da" zu sehen.

Und dazu hieß es, es sei kein Wunder, dass in Deutschland jetzt wieder positiver Bezug auf alte Zeiten genommen werde. Natürlich weiß ich, was das für ein Film ist und kann dieses Filmplakat einordnen. Aber jemand, der das nicht kann, der nichts über dieses Buch und den Film weiß, aber das Plakat mit Hitler und die Schlange vor dem Kino sieht, kann alles Mögliche darüber denken.

▶ Wir haben am Anfang nach Washington geschaut, auf den Amtseintritt von Donald Trump und sind der Frage nachgegangen, ob es vielleicht in diesem Jahr Frieden geben kann zwischen der Ukraine und Russland. Wie schaut man denn überhaupt von Russland aus nach Washington auf die Veränderungen dort?

Ewgeniy Kasakow: Trump ist vor allem eines, nämlich Projektionsfläche. Das gilt für diejenigen, die staatliche Medien konsumieren, in denen immer wieder seine Schimpforgien gegen Bidens Außenpolitik gezeigt werden. Er ist aber auch Projektionsfläche für Menschen in der Opposition.

Ein paar grundsätzliche Sachen fallen dabei allerdings unter den Tisch. Erstens, dass Trump Versprechungen macht. An viele davon erinnern sich seine Wähler heute gar nicht mehr. Ich weiß nicht mehr, welcher Populismusforscher es mal gesagt hat, es schadet solchen Politikern überhaupt nicht, wenn sie ihre Versprechen nicht einhalten. Denn die Wähler glauben dann, feindliche Mächte hätten sie daran gehindert.

Weiter: Wenn die russischen Medien die amerikanische Großmachtpolitik unerträglich nennen und es als Hybris bezeichnen, dass sich Amerika als Weltmacht Nummer eins inszeniert und es auch tatsächlich immer noch ist, dann ist Trumps Programm, diesen Weltmachtstatus zu erhalten, alles andere als ein Freundschaftsangebot an Russland.

Und es ist auch kein absoluter Bruch mit dem, was seine Vorgänger gemacht haben. Es gibt nur Streit darüber, mit welchen Methoden man das macht.

Drittens spricht Trump denjenigen aus dem Herzen, die glauben, Menschenrechte und höhere Ideale seien ohnehin Lug, Trug und belangloses Blablabla und verschleierten die wahren politischen Motive. Dazu hört man dann, so wird eben Politik gemacht, so läuft der Hase. Wir wissen, dass sich hinter proklamierten Idealen Machtpolitik versteckt.

Also wer einfach nur Machtpolitik machen will, der ist am ehrlichsten. Und diese Leute verspüren fast schon Schadenfreude, dass ein Politiker kommt, der die Einmischung nicht mit dem Schutz von Menschenrechten begründet, sondern der die Androhung von Waffengewalt mit den Interessen seines Landes begründet.

Und zuletzt der Punkt, den alle Medien im liberalen und proukrainischen Spektrum betonen: Trump ist vielleicht in vielen Punkten nicht der Politiker, den wir uns an der Spitze der USA wünschen, aber gerade sein Großmacht-Erhaltungsgehabe wird uns jetzt helfen, weil er ganz bestimmt gegenüber Putin nicht nachgeben wird.

Und wenn man ihn brüskiert, dann legt er erst recht mit Drohungen los. Darauf verweisen sie. Und es gibt noch einen Moment bei russischen Liberalen. Einige von denen halten Antidiskriminierungspolitik oder das, was man heute als Wokeness bezeichnet, für eine willkommene Erweiterung des Liberalismus. Sie finden im Grunde genommen an linken Kräften im Westen alles sympathisch, vielleicht bis auf zu weitgehende Einmischung des Staates in die Wirtschaft.

Es gibt aber auch diejenigen, die schon so diese Rhetorik haben, dass der Untergang des freien marktwirtschaftlichen Westens droht. Die sind nicht unbedingt Trump-Sympathisanten, aber in manchen Punkten dann doch – vor allem beim Kulturkampf gegen Wokeness und der Antimigrationsrhetorik.

Und überraschenderweise sind sie genau dort einig mit Putins offiziellem Narrativ. Denn in den staatsloyalen Medien Russlands geht es immerzu darum, dass der Westen zwar böse ist, aber gleichzeitig auch im Begriff ist unterzugehen wegen all der Sachen, die ihm die "linksliberalen Eliten" einpflanzen. In diesem Punkt gibt es also vielleicht sogar Berührungspunkte zwischen Putins Propaganda und dem rechten Flügel des russischen Liberalismus.

Dietmar Ringel sprach mit dem deutsch-russischen Historiker Ewgeniy Kasakow (geb. 1982 in Moskau, Studium Kulturgeschichte Osteuropas, Philosophie und Geschichte an der Universität Bremen, dort auch 2017 Promotion). Sein Buch "Spezialoperation und Frieden – die russische Linke gegen den Krieg" ist 2022 im Unrast-Verlag erschienen.