Trotz Nawalnys Tod sollten die USA weiter Gespräche mit Putin suchen

Empörung reicht nicht. Es braucht auch Verhandlungen mit dem russischen Staatschef. Wie Biden der Spagat gelingen kann. Ein Gastbeitrag.

US-Präsident Joe Biden hatte mit dem ersten Teil seines Urteils über den Tod von Alexej Nawalny völlig recht: "Putin ist verantwortlich, ob er es nun angeordnet hat oder ob er für die Umstände verantwortlich ist, in die er diesen Mann gebracht hat."

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros.

Auch wenn Nawalny letztendlich eines "natürlichen Todes" gestorben ist, müssen seine vorherige Vergiftung und die Umstände seiner Inhaftierung offensichtlich als entscheidende Faktoren für seinen Tod angesehen werden.

Für seinen ungeheuren Mut, nach seiner medizinischen Behandlung im Westen nach Russland zurückzukehren – wohl wissend, welchen Gefahren er sich aussetzte – sollte das Andenken an Nawalny in Ehren gehalten werden. Er reiht sich ein in die lange Liste von Russen, die für ihre Überzeugungen durch die Hand des Staates gestorben sind.

Tod von Alexej Nawalny: Was kann Biden noch tun?

Öffentliche Äußerungen von Wut und Abscheu über die Art und Weise seines Todes sind gerechtfertigt und richtig.

Problematisch ist der andere Teil von Bidens Erklärung: "(Nawalnys Tod) ist ein Spiegelbild dessen, was [Putin] ist. Und das kann einfach nicht toleriert werden". Wenn er "gebilligt", "gerechtfertigt" oder "verteidigt" gesagt hätte, wäre das absolut richtig gewesen. Aber "toleriert"? Was kann Biden als Antwort darauf tun, was er nicht schon getan hat?

US-Sanktionen und Kontrolle der Weltwirtschaft

Der US-Präsident hat umfangreiche neue Sanktionen versprochen, um Russland "von der Weltwirtschaft abzuschneiden" – aber dazu muss Washington die Weltwirtschaft kontrollieren.

Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland als Reaktion auf den Einmarsch in der Ukraine sind gescheitert und haben die russische Wirtschaft und den Einfluss des Staates auf sie sogar noch gestärkt. Sie können nicht wesentlich ausgeweitet werden, denn das würde Länder schädigen und verärgern, die von russischen Energieexporten abhängig sind, darunter Indien, ein wichtiger Partner der USA.

Wirtschaftssanktionen gescheitert

Was die Sanktionen gegen russische Einzelpersonen angeht, die Teil des russischen Regimes sind oder mit ihm in Verbindung stehen, so gibt es bereits Tausende von ihnen, und sie haben keinerlei Wirkung gezeigt.

Erklärungen wie die von Biden sind sowohl sinnlos als auch gefährlich. Denn sie implizieren, ob ausgesprochen oder unausgesprochen, dass es unmöglich ist, mit Putin umzugehen. Aber ob es einem nun gefällt oder nicht, Putin ist der Präsident von Russland. Allem Anschein nach wird er das auch noch eine ganze Weile bleiben und sein Amt an einen von ihm selbst gewählten Nachfolger übergeben.

Die Regierung Biden hat erklärt, sie wolle einen ukrainischen Sieg (was auch immer das jetzt heißen mag), aber sie hat auch gesagt, sie glaube, dass der Krieg durch Verhandlungen beendet werden könne, und nach dem Scheitern der ukrainischen Offensive im letzten Jahr scheint sie sich nun in diese Richtung bewegen.

Mit wem will Biden gegebenenfalls verhandeln?

Mit wem glaubt Biden verhandeln zu können, wenn nicht mit Putin? Gespräche über die Beendigung des Ukraine-Krieges zu suchen, bedeutet nicht, Putins Verbrechen oder seine Invasion in der Ukraine zu billigen. Die Verhandlungen der Eisenhower-Regierung über die Beendigung des Koreakrieges haben ja auch keine Billigung des nordkoreanischen Regimes und seiner Invasion in Südkorea bedeutet.

Nach eigenen Angaben hat die Biden-Administration die Förderung der Demokratie in der ganzen Welt zu einem zentralen Bestandteil ihrer Diplomatie gemacht. Das würde bedeuten, dass nur demokratische Regierungen, die die Menschenrechte achten, wirklich legitim wären.

Die tatsächliche US-Diplomatie funktioniert nicht so und hat nie so funktioniert; nicht wegen US-amerikanischer imperialistischer oder kapitalistischer Bosheit, sondern weil die Welt so nicht funktioniert.

Niemand sollte verpflichtet sein, die Regierungen von Abdel Fatah Al-Sisi, Mohammed bin Salman oder Narendra Modi zu mögen oder zu bewundern (auch wenn wir uns wünschen würden, dass US-Vertreter in ihrem Lob weniger überschwänglich wären).

Mehr Unterstützung für die russische Opposition

Wie Putin sind sie jedoch die Regierungschefs ihrer Länder und werden es wahrscheinlich auch bleiben. Wenn man mit Saudi-Arabien und Indien zu tun hat - und mit Saudi-Arabien und Indien muss man zu tun haben - dann hat man es mit MBS und Modi zu tun.

Der andere Punkt, vor dem man sich bei der Empörung über den Tod von Nawalny in Acht nehmen sollte, ist, dass sie bereits dazu benutzt wird, eine Strategie mit einer wesentlich nachdrücklichere offizielle Unterstützung des Westens für die russische Opposition zu entwickeln.

Viele (nicht alle) Personen und Gruppen in der russischen liberalen Opposition sind persönlich und politisch bewundernswert. Einige, wie Nawalny, haben enormen Mut bewiesen. Dies zu sagen ist etwas ganz anderes, als zu glauben, dass sie jemals die Regierung Russlands bilden werden und die USA ihre Politik gegenüber Russland auf die Hoffnung stützen sollten, dass dies der Fall sein wird.

Russische Opposition auf westliche Unterstützung angewiesen

Die traurige Wahrheit ist, dass der Ukraine-Krieg die russische liberale Opposition in eine politisch unmögliche Lage gebracht hat. Da sie von Putin weitgehend ins Exil gejagt wurde, ist sie auf westliche Unterstützung angewiesen. Das bedeutet jedoch, dass ihre prinzipielle Opposition gegen die russische Invasion von der russischen Regierung als Verrat in Kriegszeiten dargestellt werden kann - und von vielen einfachen Russen als solcher angesehen wird.

Wie bei der iranischen, chinesischen und anderen Oppositionsbewegungen erlaubt die offizielle Unterstützung aus Washington den herrschenden Regimen, die Bezeichnung "Verräter" noch stärker herauszustreichen.

Eine (individuell unterschiedliche) Kombination aus Idealismus, Abhängigkeit vom Westen und Hass auf Putin führt dazu, dass sich viele russische Oppositionelle - gewollt oder ungewollt - mit ukrainischen und westlichen Positionen identifiziert haben, die ausdrücklich eine vollständige russische Niederlage fordern, anstatt für einen Kompromissfrieden in der Ukraine einzutreten.

Nicht viele Russen wollen Russland besiegt sehen

Und obwohl nicht viele Russen den Krieg wollten, wollen auch nicht viele Russen Russland besiegt sehen. Wie ich bereits erwähnt habe, waren selbst viele US-Amerikaner, die den Krieg in Vietnam entschieden ablehnten, empört, als Jane Fonda nach Hanoi ging. Wenn sie vor dieser Reise eine Chance hatte, in ein Amt in den USA gewählt zu werden, so hatte sie diese danach sicher nicht mehr.

Jede Hoffnung auf einen Wiederaufbau des Liberalismus in Russland (und in der Tat auch in der Ukraine, wenn auch in viel geringerem Maße) setzt daher ein Ende des Krieges voraus. Denn ein gewisses Maß an Autoritarismus ist eine natürliche Begleiterscheinung jedes Krieges, und Regime auf der ganzen Welt haben dies ausgenutzt, um ihre eigene Macht zu vergrößern.

Ebenso wichtig: Die Massenunterstützung für Putin hängt entscheidend von der weitverbreiteten Überzeugung ab, dass der Westen Russland nicht nur besiegen, sondern auch als Staat zerstören will. Um das zu verhindern, ist es demnach unerlässlich, die Regierung zu unterstützen.

Zumindest im Moment hat dies den zuvor weitverbreiteten Unmut über die Korruption des Regimes - den Nawalny kanalisierte - in den Hintergrund gedrängt. Keine noch so große westliche oder russische Oppositionspropaganda kann dieses russische Bild ändern. Der Frieden könnte es ändern, wenn man ihm eine Chance gibt.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: Uwe Kerkow.

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