Westlich von Spießern, Besitzstandswahrern und besorgten Bürgern

Seite 4: "That’s why I keep my hat on"

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Prudence also schaut bei Wiggs’ Wutausbruch erschrocken nach hinten, zu den Hilfssheriffs und den Damen aus dem Ort, als ginge von diesen Hausfrauen und Polizisten eine Gefahr aus. Es ist nicht Gottes Zorn, den sie fürchtet. Ford ist ein Meister der fein austarierten Reaktionen. Diese hier - Prudence senkt jetzt den Blick, als ob sie am liebsten im Boden versinken würde - geht über das übliche "Was werden bloß die Leute denken!" hinaus. Zu sehen ist das ängstliche Erschrecken einer jungen Frau, deren sorgsam etablierter Blickkontakt mit Sandy dadurch abbricht, was die von Ford gewünschte Wirkung steigert. Doch woher kommt die Angst? Wiggs spricht nun von einem Tal am Fluss, das der Herr für ihn und seine Gruppe reserviert hat, damit sie dort ihr Saatgut ausbringen und den Boden fruchtbar machen. Das ist einer dieser Dialoge, die man zum Verständnis der Geschichte braucht. Siedler wollen den beschwerlichen Weg zum San Juan River antreten und suchen einen Treckführer, der die Gegend kennt und sie dort hinbringt. Dem Publikum muss man das mitteilen. Bei Ford wird aus der Pflichtübung das Vehikel, mit dem er den Grundkonflikt des Films etabliert: Wie geht die Gesellschaft mit ihren Außenseitern um?

Wagon Master

"Ihr seid Mormonen!", platzt es aus Sandy heraus. Genau, antwortet Wiggs: "Darum lasse ich immer meinen Hut auf. Damit man meine Hörner nicht sieht. Ich habe mehr Frauen als Salomon. Oder wenigstens sagen das die Leute hier. Und wenn sie es nicht sagen, dann denken sie es." Gemeint sind Leute wie die, die man zu Beginn der Szene im Hintergrund sieht, wodurch Ford das Umfeld etabliert: Die Bewohner dieser Stadt, in der man keine Fremden will und deren Marshall am Ortsrand eine Transitzone eingerichtet hat, oder einen Hot Spot, oder wie immer es gerade heißen wird, wenn dieser Text erscheint. Die jeweilige Sprachregelung ist ein Thema für Linguisten, wie Horst Seehofer auf dem letzten CDU-Parteitag meinte. Wichtig für die besorgten Bürger (die Wähler des Marshalls) ist, dass die Fremden draußen vor der Stadt bleiben und so bald wie möglich wieder verschwinden.

Und überhaupt: Wo haben diese Mormonen das Geld für die Pferde her? Die Frage bleibt so offen wie die des Bundesinnenministers, wie sich die Muslime das Taxi leisten können, mit dem sie seinen Informationen nach kreuz und quer durch unser schönes Land fahren. Früher, vor der Flüchtlingskrise, empörte man sich am Stammtisch über die Hartz-IV-Empfänger, die im Taxi zum Arzt gebracht wurden, während der hart arbeitende Teil der Bevölkerung zu Fuß gehen musste. Gleichzeitig klagen die Taxifahrer über ausbleibende Kunden und Existenzängste. Aber das ist mehr ein Thema für den Verkehrs- oder den Wirtschaftsminister. Leider gibt es kein Ministerium für krause Phantasien, das uns mehr über Herrn de Maizières Phantomtaxis sagen könnte.

Wiggs und seine Glaubensgenossen jedenfalls sind in Crystal City nicht erwünscht. Aus Wagon Master macht das noch keine Auseinandersetzung mit dem Mormonentum. Die Mormonen sind als solche zu erkennen und nicht viel mehr. Sie stehen stellvertretend für gesellschaftlich marginalisierte Gruppen, die mit den Vorurteilen der Mehrheit zu kämpfen haben. Die Bürgerwehr der Stadt erinnert mehr an einen Lynchmob als an eine Ordnungstruppe. An der Willkommenskultur muss man noch arbeiten in Crystal City. Das steht im krassen Gegensatz zum Verhalten der Mormonen. Jeder, der ihnen begegnet, ohne Ansehen der Person, kann sich darauf verlassen, dass sie ihre Vorräte mit ihm teilen, wenn er nichts zu essen hat. Sogar der Marshall, der sie aus der Stadt wirft, wird später Wasser und eine Speckseite von ihnen kriegen, weil er vergessen hat, Proviant einzupacken, bevor er auf Verbrecherjagd ging. Man könnte auf die Idee kommen, dass die besorgten Bürger die Mormonen auch deshalb schnell loswerden wollen, weil sie durch sie daran erinnert werden, wie weit sie sich von den Werten des Christentums entfernt haben. Die Hausfrauen im Hintergrund stehen da, um zu gaffen und nicht, weil sie etwas von dem abgeben wollen, das sie in ihrem Einkaufskorb haben.

Mehrfach kommt die Sprache auf den Wagen mit dem Saatgut. Dieses Saatgut ist der Schatz der Mormonen. Vorerst sind es nur wenige von ihnen, sagt Wiggs, die sich aufgemacht haben, um einen Platz zu finden, wo sie in Frieden leben können. Aber im nächsten Jahr sollen hundert Familien folgen, die alle verhungern werden, wenn sie bis dahin kein Getreide angebaut haben, das die Neuankömmlinge ernähren kann. Hier wird man vielleicht an als "Flut" oder als "Lawine" auftretende Flüchtlinge denken, oder an die testosterongesteuerten jungen Männer, deretwegen der Familiennachzug abgeschafft werden muss, weil die Migranten sonst nicht nur in Scharen deutsche Blondinen vergewaltigen, sondern demnächst auch noch ihren Harem in der Nachbarwohnung installieren. Oder man nimmt zur Kenntnis, was Ford uns mit dem Wagen voller Saatgut sagen will: Seine Mormonen sind der Zukunft zugewandt und wollen etwas aufbauen, statt Besitzstandssicherung zu betreiben. Das Saatgut ist ihre Form der Willkommenskultur, die sie immer mit dabei haben. Die Bürger von Crystal City könnten manches von ihnen lernen.

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