Westlich von Spießern, Besitzstandswahrern und besorgten Bürgern

Seite 5: Ambivalenz

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"Geboren bin ich in Bonn, doch zu Hause war, bedingt durch häufige Ortswechsel im Laufe meines politischen Werdegangs, immer dort, wo meine Familie war." Home is where the family is. So könnten es auch Fords Mormonen formuliert haben. Wer sagt das von sich? Bundesinnenminister Thomas de Maizière auf seiner Homepage. Ich bin verwirrt. Kann das derselbe Politiker sein, der den Familiennachzug begrenzen und damit, wenn man seinen Worten folgt, verhindern will, dass sich die Flüchtlinge hier zuhause fühlen und also integrieren? Oder ist der Mann ein Doppelgänger? Liegt eine Persönlichkeitsspaltung vor? Der nächste Satz: "Das ist auch heute noch so, inzwischen haben wir in Sachsen und Dresden die Heimat unseres Herzens gefunden." Wäre das keine Gebrauchsprosa, sondern ein literarischer Text, müsste man von Ironie sprechen. Ein Autor könnte eine von ihm erfundene Figur so reden und sich dadurch selbst entlarven lassen.

Screenshot: Hans Schmid

Wir hätten es dann mit einem Politiker zu tun, der sich in seiner Selbstdarstellung zu den von seiner Partei propagierten Werten bekennt (Beschluss des CDU-Parteitags vom 14.12.2015: "Wir wollen eine familienfreundliche Gesellschaft und Freiräume für Familien schaffen"), diese in seiner Politik aber zumindest stark relativiert, wenn es um Flüchtlinge geht, weil sonst die Pegidisten und andere besorgte Wähler in seiner sächsischen Lebensabschnittsheimat Frauke Petry ihre Stimme geben könnten und nicht ihm. Unser imaginärer Autor würde einen multimedialen Ansatz pflegen, denn der Text ergänzt ein Bild, in welchem der vom Autor erfundene Politiker beim Telefonieren zu sehen ist (ob ihm der Verfassungsschutz gerade die neuesten Zahlen zu den Flüchtlingstaxis durchgibt?). Die Einstellung suggeriert Dynamik. Offenbar sind die Dinge so in Schieflage geraten, dass sich der Politiker am eigenen Revers festhalten muss, um nicht abzurutschen, aber dieser Mann, dürfen wir uns sehr gern denken, wird es schon richten. Man beachte in diesem Zusammenhang auch das Kreuz, das rechts außen an der Wand lehnt (aus Sicht des Mannes am Telefon) und auf mich so wirkt, als hätte es der Requisiteur vor dem Phototermin noch schnell da hingestellt, weil die Verteidigung des christlichen Abendlandes in der sächsischen Heimat besonders virulent betrieben wird.

Der Mann ist so zupackend (zieht er vielleicht seine Jacke zu, weil in seinem Büro ein kalter Wind weht?), fast könnte man dabei vergessen, dass er der politisch Verantwortliche für eines der größten Probleme im Flüchtlingsdrama ist, für ein institutionelles Versagen, das sowohl die Integration der Asylberechtigten wie die angestrebte Abschiebung der Menschen ohne Asylanspruch zur Farce macht und alle in eine schier endlose Warteschleife schickt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das derzeit 700.000 unerledigte Asylfälle vor sich herschiebt, ist dem Innenministerium unterstellt. Vielleicht hätte der Mann am Telefon mal bei den Vereinten Nationen anrufen sollen. Da gab es schon 2011, als in Syrien der Bürgerkrieg ausbrach, inzwischen sehr prophetisch wirkende Studien zur Flüchtlingsproblematik, damit Politiker eine Grundlage für vorausschauendes Handeln haben, statt hinterher täglich eine neue Forderung hinausposaunen und dem Wahlvolk sagen zu müssen, dass sie beim besten Willen nicht wissen konnten, was kommen würde.

Das Kreuz an der Wand des Innenministers bringt mich auf eine Idee. Neue, von der Bundesregierung paketweise auf den Weg gebrachte Gesetze zur Verschärfung des Asylrechts haben wir jetzt schon eine ganze Menge. Wie wäre es, wenn wir Moses (auch so ein Migrant, der zur Verbesserung seiner Lebensumstände in das Land der Verheißung aufbrach) noch einmal auf den Berg Sinai schicken würden, damit er uns ein elftes Gebot holt, das der Minister dann als guter Christ befolgen müsste: Du sollst nicht die Lebenszeit der Flüchtlinge stehlen. Und warum nicht von John Ford lernen und das Whittling einführen, als Pflichtprogramm für Mitglieder der Bundesregierung. Das könnte den als Problemlösung getarnten Aktionismus eindämmen und wäre gut für alle.

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