Westlich von Spießern, Besitzstandswahrern und besorgten Bürgern

Seite 9: Schlampen und Muschis

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Wiggs ist ein so sympathischer Charakter, weil er früher, bevor er Mormone wurde, ein Sünder war und nicht vergessen hat, wie das gewesen ist. Dr. Hall, teilt er seinen Brüdern und Schwestern mit, will nach Kalifornien und betreibt das, was er, Wiggs, in seinen Sündertagen eine "Hoochie Coochie Show" genannt hätte. Wie das durch die Zensur kam weiß ich nicht. Hoochie ist ein umgangssprachliches Wort für "Schlampe", coochie für "Muschi". Dr. Hall sitzt zwischen Miss Fleuretty und einem schwarzbestrumpften Bein von Denver (mit Stöckelschuh), schrickt kurz auf, als er das hört und lüftet dann den Zylinder, weil man als Gentleman mit Stil und Würde stets die Form wahrt.

Die Frage ist jetzt, was man mit der Schlampenmuschishow machen soll? Denver nimmt eine provokante Stellung ein, während das verhandelt wird, und Wiggs muss erklären, dass Miss Fleuretty nicht mit Dr. Hall verheiratet und Denver nicht dessen Tochter ist. Jetzt ist alles klar, sagt Bruder Perkins. Solche Leute wollen wir bei uns nicht haben - weil sie nicht nur besoffen sind, ist gemeint, sondern auch noch in Sünde leben. Das denkt ausgerechnet ein Mormone, den die braven Bürger von Crystal City soeben aus ihrer Stadt geworfen haben, weil sie dachten, dass er einen Harem hat. Die Moral ist doch sehr relativ und hängt von der Perspektive ab. Die Mormonen, könnte man sagen, sind auch nur Christen.

Wagon Master

Gott, wendet Wiggs ein, habe sich bestimmt etwas dabei gedacht, als er beschloss, dass die Mormonen diesen Leuten begegnen sollten. Der Herr verschwende seine Energien nicht für Sachen, in denen kein tieferer Sinn verborgen sei (im Hintergrund das große Bett von Dr. Hall). Darum stehe es ihm, Wiggs, nicht zu, den Herrn zu kritisieren und seinen Willen zu missachten. Perkins hat dagegen kein Argument. Damit ist das abgemacht. Das Quartett um Dr. Hall darf bleiben, solange der Weg nach Kalifornien derselbe ist wie der zum San Juan. Sister Ledeyard bläst bekräftigend in ihr Horn und Mr. Peachtree haut auf seine Trommel, weil die Musik (die Kultur, auch wenn sie einem noch so schräg erscheint) ein verbindendes Element ist, und ein Pfeifenspieler mit Armeehose und Holzbein gesellt sich dazu, damit wir wissen, was die Alternative wäre. Politikern der C-Parteien, die glauben, sich beim rechten Rand anbiedern zu müssen, möchte ich diese schöne Szene genauso ans Herz legen wie den Pegidisten, die durch Dresden marschieren, um das christliche Abendland zu retten. Wiggs hat es relativ leicht, die Mormonen zurück auf den rechten Weg zu führen, weil seine Brüder und Schwestern zwar gelegentlich vergessen, was in der Bibel steht, diese aber sehr wohl gelesen haben. Bei manch einem, der jetzt das Christentum verteidigt, indem er die christliche Nächstenliebe für Nicht-Christen abschafft, bin ich mir da nicht so sicher.

Wagon Master

Allen Freunden des Grenzzauns sei neben der Lektüre des Neuen Testaments auch das Studium der Filmminute empfohlen, die Ford dem Marsch durch die Wüste widmet. Frauen, Männer, kleine Kinder gehen zu Fuß in das Land, von dem sie sich das Paradies versprechen, im Off singen die Sons of the Pioneers ihr ebenso monotones wie geduldiges "Rollin’ west, rollin’ west, rollin’ west …" dazu, und jede Einstellung macht deutlich, dass diese Menschen nichts aufhalten wird, weil sie ein festes Ziel vor Augen haben und sie von sozialen und natürlichen Kräften vorangetrieben werden, fast so, als wäre das eine biologische, den Menschen mit den Elementen verschmelzende Funktion. Die Wanderungsbewegung, sagt Massimo Livi Bacci, Autor der Kurzen Geschichte der Migration, sei ein physiologischer Faktor der menschlichen Gesellschaft. Wagon Master macht nachvollziehbar, was darunter zu verstehen ist.

Wagon Master

Natürlich ist es nicht immer einfach, Fremde bei sich aufzunehmen. Manchmal machen sie Dinge, über die man nur den Kopf schütteln kann. Dr. Hall beispielsweise ist sich keiner Schuld bewusst, als er eine Schüssel vom streng rationierten Wasser für seine tägliche Rasur abzweigt (jede Wette, dass er zur Weiterreise nach Kalifornien ein Taxi nehmen würde, wenn eines zur Verfügung stünde). Travis nimmt ihm das Wasser weg, und Ford gelingt es, dem Doktor, diesem Außenseiter unter den Außenseitern, seine Würde zu belassen, weil Travis immer höflich bleibt, statt ihn auszuschelten wie ein kleines Kind und der strenge Bruder Perkins, für den das Wasser nun besudelt ist, den Inhalt der Schüssel wütend auskippt. Wer ist da wohl kindischer? Wagon Master ist auch deshalb ein so wunderbarer Film, weil da niemand infantilisiert wird, indem man ihn auffordert, seine "Hausaufgaben" zu machen und dergleichen. Wer auf dem hohen Ross sitzt fällt alsbald herunter.

Mit Pferden und anderen Tieren geht es zweiten und letzten Teil:
Chuckawalla Swing: Zwischen Schlange und Leguan

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