Analyse: Europäische Ukraine-Politik steckt in strategischer Sackgasse

Friedenstaube auf zerbrochenem Füller vor ukrainischer und russischer Flagge

Europas Ukraine-Strategie steckt fest. Die Ziele – Russland zu isolieren und zu schwächen – sind verfehlt. Doch die Wahrheit will in Brüssel niemand sehen.

Als kürzlich in Washington die Präsidenten Trump und Selenskyj aneinandergerieten, wurde hinterher Hans Christian Andersens Märchen "Des Königs neue Kleider" als Referenz bemüht. Die einen sahen den US-amerikanischen Präsidenten als "nackten König", da er alle Verkleidungen hat fallen lassen. Die anderen schoben die Rolle dem ukrainischen Präsidenten zu. "You have no cards" sagte ihm Trump und machte klar, dass er "nackt" sei.

Mit einem gewissen Abstand könnte man jedoch auch argumentieren, dass der "nackte König" gar nicht einer der beiden so unterschiedlich gekleideten Herren im Oval Office war. Der "nackte König" saß weit entfernt vorm Fernsehschirm im alten Europa.

Was war das Ziel der Europäer?

Als Russland 2022 die Ukraine überfiel, sprangen die Europäer dem drangsalierten Land an die Seite. Sie versprachen mit ihrer Unterstützung drei Dinge zu leisten: Russland diplomatisch zu isolieren, es wirtschaftlich zu schwächen und militärisch auf dem Schlachtfeld zu besiegen.

Drei Jahre später, nach Milliarden von Euro und hunderttausend von Toten und Verwundeten sieht die Bilanz traurig aus. Russland ist diplomatisch nicht isoliert, wirtschaftlich nicht zusammengebrochen und auch auf dem Schlachtfeld hat es sich nicht so entwickelt, wie man sich das in Kiew und Brüssel vorgestellt hatte. Europa steht ziemlich nackt da. Und momentan sieht es auch so aus, dass sich niemand getraut, diese bittere Wahrheit den Königinnen und Königen in Brüssel und Umgebung zu sagen.

Russland ist natürlich der Agressor. Der diplomatische Imageschaden, den Russland durch seine Invasion in die Ukraine erlitten hat, ist gewaltig. Aber den Russen ist es gelungen, dies teilweise zu kompensieren mit einer Neuausrichtung ihrer Außenpolitik. Die ist jetzt weniger auf den Westen zentriert, sondern mehr auf den Global Süden und den Osten. Zum Afrika Gipfel nach St. Petersburg oder den Brics Gipfel nach Kasan reisten Dutzende von Staats- und Regierungschefs.

Auch wenn die große Mehrheit der Länder des "Global Südens" das russische Vorgehen in der Ukraine nicht billigt, heißt das noch lange nicht, dass diese Länder dort, wo es ihren nationalen Interessen entspricht, darauf verzichten, mit Russland auch auf höchster Ebene zu kooperieren.

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Vor allem in Afrika, wo die Russen nicht müde werden, darauf zu verweisen, dass es in den 1960er Jahren die Sowjetunion war, die bei der Befreiung vom französischen und britischen Kolonialismus geholfen hat, stößt die Bitte der EU, Solidarität mit der Ukraine-Politik des Westens zu zeigen, an Grenzen.

Kriege sind für afrikanische Länder traurige Alltagserfahrungen. Wenn sie in der Vergangenheit um Hilfe baten, verhallte dies meistens im tiefen Westen. Schlimmer noch: Der Ukraine-Krieg macht sich bei vielen Entwicklungsländern in einer Kürzung der westlichen Entwicklungshilfen bemerkbar. Da kommen zusätzliche Milliarden der EU für die Ukraine nicht gut an.

Bei der im Februar 2025 von der Ukraine eingebrachten UN-Resolution, die zum Abzug der russischen Streitkräfte aus der Ukraine auffordert, stimmten lediglich 93 Staaten, d.h. nicht einmal die Hälfte aller UN-Mitglieder, mit "Ja". 18 Staaten stimmten dagegen, 65 enthielten sich. Im UN-Sicherheitsrat wurde über eine weitere Ukraine Resolution abgestimmt, die so formuliert war, dass sogar Russland mit "Ja" stimmen konnte, während sich England und Frankreich der Stimme enthielten.

Russland hat ohne Unterbrechung an den G20 Gipfeltreffen teilgenommen (wenngleich Außenminister Lawrow wegen des Haftbefehls gegen Putin seinen Präsidenten vertrat). Und mit der Wiederaufnahme der russisch-amerikanischen Gesprächsfäden ist Russland weit weg davon, diplomatisch isoliert zu sein.

Russland ist auch wirtschaftlich nicht wesentlich geschwächt. Natürlich hatten die westlichen Sanktionen eine Wirkung. In vielen Teilbereichen gibt es Engpässe. Zulieferketten sind gerissen. Zahlreiche Politiker und Oligarchen durften nicht mehr in den Westen reisen und haben keinen Zugang zu ihren auf westlichen Banken liegenden Vermögen.

Dass die Sanktionen auch die Europäer etwas kosteten – von gestiegenen Energiepreisen bis zum Ausbleiben reicher russischer Touristen in den französischen Alpen – wurde mit Verweis auf eine wertegeleitete Außenpolitik als eine notwendige Solidaritätsleistung in Kauf genommen.

Russland dagegen fand für die verlorenen Geschäftsbeziehungen im Westen neue Partner im Osten und im Süden. Billiges russisches Öl und Gas ist in China ebenso willkommen wie in Indien. Und die Russen kaufen jetzt mehr chinesische als deutsche Autos. Natürlich fehlen westliche Hochtechnologieprodukte. Wie sich aber zeigt, hat das die Entwicklung und Produktion neuer russischer Hochtechnologiewaffen – wie die nächste Drohnengeneration – nicht wesentlich beeinträchtigt.

Und manche dieser Hochtechnologieprodukte finden auf Umwegen über die asiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken den Weg in die russischen Forschungszentren. Russland müsse "störfrei" werden, fordert die Staatsführung und verweist darauf, dass das schon einmal, und zwar in den 1960er Jahren, gelungen sei: Damals reagierte die Sowjetunion auf das westliche "Röhren Embargo" mit der Entwicklung eigener Produktionskapazitäten für den Bau von Pipelines.

Ob jedoch die hochtrabenden russischen Pläne gelingen, die lange funktionierende wirtschaftliche Ost-West-Kommunikation auf eine Nord-Süd-Achse umzustellen – wie das gigantische Verkehrsprojekt einer Trasse von St. Petersburg nach Dubai nahelegt – steht auf einem anderen Blatt Papier.

Auch die Pipelines zwischen Sibirien und China kommen nicht so recht vom Fleck. Und die Einladung von Putin an Präsident Trump, die USA könnten "seltene Erden" unter dem Perma-Frost im Fernen Osten abbauen, ist mehr als vage.

Dennoch geht die russische Wirtschaft nicht am Krückstock. Die Wachstumsraten, auch wegen der Ankurbelung der Militärwirtschaft, sind höher als in Westeuropa, wenngleich viele Risiken in die Zukunft verlagert werden.

Von einer nachhaltigen und stabilen russischen Wirtschaftsentwicklung kann keine Rede sein. Einschränkungen aber sind die Russen in ihrem Alltag seit Jahrzehnten gewohnt. Wenn das McDonalds zu macht und es keine Cheesburger mehr gibt, geht man eben zu "Kroschka-Kartoschka" und bedient sich mit Borschtsch, Bliny und Pelmeni.

Auch der anvisierte militärische Sieg auf dem Schlachtfeld ist ausgeblieben. Dabei war das von vornherein ein nebulös definiertes Ziel: Meinte es die militärische Rückeroberung der Krim, einen Regimewechsel in Moskau oder gar Durchmarsch bis Wladiwostok? Bei der Formulierung dieses Ziels waren offensichtlich wenig Realpolitiker involviert, sonst wäre eine differenziertere Strategie entwickelt worden, die sich nicht nur an den nachvollziehbaren Wünschen, sondern auch der machtpolitischen Wirklichkeit orientiert hätte.

Wie dem auch sei, Europas Dilemma ist jetzt, dass es sich moralisch auf der richtigen Seite wähnt und ihr bestes tut, der bedrängten Ukraine zu helfen, der eingeschlagene Weg aber in eine Sackgasse geführt hat, die Woche für Woche Milliarden verschlingt und das Sterben auf beiden Seite nicht beendet.

Völkerrechtsbruch bleibt Völkerrechtsbruch

Das Ernste an der Situation ist ja, dass die bittere Erkenntnis, dass die europäische Strategie nicht funktioniert, die Frage nicht beantwortet, wie mit dem Völkerrechtsbruch der Russen umzugehen ist. Es sind eben russische Truppen, die auf dem Territorium der Ukraine stehen und nicht umgekehrt.

Richtig ist, dass der Krieg nicht erst 2022 begonnen hat, sondern eine längere Vorgeschichte hat. Richtig ist weiterhin, dass auch die Ukraine nicht an einer Umsetzung der Minsker Abkommen interessiert war und es die Europäer verabsäumt haben, Kiew nicht mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass der Schutz von Minderheitenrechten ein hoher europäischer Wert ist. Russophobie ist kein guter Leitfaden für ein friedliches Nebeneinander von Nationen auf der Basis des Völkerrechts.

Fakt ist aber, dass fast alle Normen des Völkerrechts, die in der Charta der Vereinten Nationen verankert sind, mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 gebrochen wurden, auch wenn der russische Außenminister Sergej Lawrow, versucht, das russische Vorgehen völkerrechtlich zu legitimieren.

Lawrow argumentiert, dass der mit Gewalt erzwungene Regimewechsel nach dem 2014er Maidan eine Verletzung des Recht auf Selbstbestimmung des russischen Bevölkerungsteils der Ukraine gewesen sei. Er leitet daraus ein Recht der Bevölkerung der Krim, des Donbass und von Noworussia ab, ihr Schicksal unabhängig von der neuen Kiewer Regierung in eigene Hände zu nehmen, sich von der Ukraine loszusagen und in Wahrnehmung ihres Selbstbestimmungsrechts sich der Russischen Förderation anzuschließen.

Lawrow beruft sich auf Artikel 1 der UN-Charta und die 1970 verabschiedete UN-Deklaration über die Grundsätze des Völkerrechts. Die 1970er Deklaration definiert die sieben Jus Cogens Prinzipien der UN-Charta, also jene Prinzipien, die in der Völkerrechtslehre als "zwingendes Recht" verstanden werden.

Lawrow versucht, in diese sieben Prinzipien eine Hierarchie hineinzubringen und das "Recht auf Selbstbestimmung" gegen die anderen sechs jus cogens Normen – Gewaltverzicht, souveräne Gleichheit der Staaten, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung, internationale Zusammenarbeit und Vertragstreue (Pacta sunt servanda) – auszuspielen. Die Völkerrechtswissenschaft kennt aber keine Hierarchie der sieben Jus Cogens Prinzipien. Sie gelten in ihrer Einheit und ihrer wechselseitigen Bedingtheit.

Lawrow, der Anfang der 70er Jahre am Moskauer Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) studiert hat, sollte sich der Vorlesungen seines damaligen Völkerrechtslehrers Prof. Igor Blischtschenko erinnern, der nicht müde wurde, die Einheit der sieben Grundprinzipien des Völkerrechts zu betonen. Damals wollten die Amerikaner das Recht auf Selbstbestimmung der Völker gegen das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten ausspielen und die Opposition in den Ostblockstaaten stärken.

Die Verabschiedung der 1970er Deklaration galt damals übrigens als ein Erfolg sowjetischer Diplomatie. Auch die UN-Resolution 3314 (XXIX) vom 14. Dezember 1974, mit der der lange umstrittene Begriff einer "Aggression" definiert wird, war eine sowjetische Initiative.

Die UN-Resolution bezieht sich auf Artikel 2, Absatz 4 der UN-Charta – das Gewaltverbot – und untersagt die militärische Besetzung eines fremden Territoriums. Man braucht nicht ein Völkerrechtsexperte zu sein, um zu beurteilen, wo im Ukraine-Konflikt Völkerrecht missachtet und gebrochen wurde.

Arrangements statt Friedensvertrag?

Im US-amerikanischen Fachmagazin Foreign Affairs haben sich kürzlich die beiden Professoren G. John Ikenberry und Harold James von der Princeton Universität Gedanken darüber gemacht, wie man aus dieser verfahrenen Situation herauskommt. Sie dämpfen die Erwartung auf einen baldigen formellen Friedensvertrag. Die wenigsten Kriege der letzten 100 Jahre seien mit einem formellen Friedensschluss beendet worden.

In den Fällen, die nicht mit der Kapitulation einer Seite geendet hätten, sei es zu Arrangements gekommen. Die streitenden Seiten hätten sich auch wegen einer gewissen Erschöpfung auf eine Waffenruhe eingelassen, die weder Krieg noch Frieden war.

Als Paradebeispiel verweisen sie dabei auf den 1953 beendeten Korea-Krieg. Südkorea hat die Grenze am 38. Breitengrad nie anerkannt. Die Gegensätze zwischen den beiden Koreas sind immer größer geworden. Zwischenzeitliche Versuche der Annäherung hatten keine langfristigen Perspektiven. Dennoch sind in den 70 Jahren seither keine neuen Kriegshandlungen ausgebrochen.

Ähnlich sei die Situation auf Zypern. 1974 fand im griechischen Teil der Insel ein Putsch statt, den die türkische Bevölkerung nicht mitmachen wollte. Die Türkei besetzte den Nordteil der Insel. Auch hier wurde trotz vieler UN-Missionen bis heute kein formeller Friedensvertrag unterzeichnet.

Es wurde aber auch ein neuer Waffengang verhütet. Der griechische Teil von Zypern ist der EU beigetreten. Der türkische Teil ist völkerrechtlich nicht anerkannt, aber die Türkei als deren Schutzmacht ist Mitglied der Nato.

Manchmal lösen sich Probleme auch durch Zeitenwenden auf. Ein Bespiel ist das Vierseitige Abkommen vom 3. September 1971 zwischen der Sowjetunion und den drei Westmächten USA, Großbritannien und Frankreich. Das Abkommen löste zwar nicht die sogenannte Berlin-Frage, entschärfte sie aber. Im Westen war es das "Berlin-Abkommen", im Osten die "Vereinbarung über Westberlin".

Die BRD sah Westberlin als ihren Bestandteil, der wegen der alliierten Rechte mit einigen Besonderheiten zu leben hatte. Die DDR berief sich auf die Londoner Protokolle von 1944 demnach die Westsektoren Berlins nie Teil der Westzonen Deutschlands waren und sah daher Westberlin als ein politisches Gebilde, das nicht zur Bundesrepublik gehört.

Sowjets und Amerikaner wollten das Problem, dass sie sowohl 1948 (Ausdehnung der westlichen Währungsreform auf die Berliner Westsektoren mit anschließender Blockade der Sowjets und der amerikanischen Luftbrücke) als auch 1961 (Mauerbau, wo sich sowjetische und russische Panzer am Checkpoint Charly direkt gegenüberstanden) an den Rand eines atomaren Krieges gebracht hatte, abräumen.

Fortgesetzte Streitereien um Berlin hätten die 1969 neu ins Amt gekommende Nixon-Administration daran gehindert, mit den Sowjets über eine Begrenzung der strategischen Atomwaffen (Salt) ins Gespräch zu kommen.

Man war sich einig, dass man sich uneinig ist und unterzeichnete ein Abkommen, das wohl der einzige völkerrechtliche Vertrag ist, dessen Titel nicht sagt, was eigentlich geregelt wurde. Im Text des Abkommens ist von dem "betreffenden Gebiet" die Rede und in der Tat war der Ostsektor Berlins vom Vierseitigen Abkommen nicht betroffen.

Beide deutsche Staaten saßen übrigens nicht mit am Verhandlungstisch. Es gab nicht einmal eine autorisierte deutsche Version des Vertrages. DDR und BRD präsentierten noch am Unterzeichnungstag ihre eigenen Übersetzungen, die sich an wichtigen Stellen erheblich unterschieden. Diese diplomatische Vieldeutigkeit wurde zu einem Beschäftigungsprogramm für versierte Völkerrechtler. Der praktische Effekt war aber, dass ein Prozess eingeleitet wurde, der erst zur Entspannung und 18 Jahre später zum Fall der Mauer führte.

Eine neue Nato-Doppelstrategie

Diese diplomatische Kreativität und Flexibilität wünschte man sich für die Ukraine. Die Nato ist eigentlich seit den 1960er Jahren mit einer Doppelstrategie gut gefahren. Die war im Harmel-Bericht von 1967 angelegt, die lag der Entspannungspolitik der 1970er Jahre zugrunde und auch der Doppelbeschluss der Nato in den 1980er Jahren basierte auf zwei Elementen: Androhung zur Aufrüstung and Angebot zu Verhandlungen.

Mit dieser Doppelstrategie sind die Bundeskanzler Kohl (CDU) und Schröder (SPD) bis weit in die 2000er Jahre gut gefahren. In den nachfolgenden Krisen der 2010er Jahre – Finanzkrise und Corona – wurde dies jedoch aus dem Auge verloren. Und als die Russen in der Ukraine einmarschierten gab es keine Doppelstrategie mehr.

Europäische Diplomaten sollten vielleicht mehr in politische Innovation und diplomatische Kreativität investieren. Und sie sollten sich des Gebets des US-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr erinnern:

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.