Diplomat warnt: Europa droht in Ukraine-Verhandlungen zum großen Verlierer zu werden

Lüdeking: EU in Ukraine-Krise ramponiert. Bild: DNetromphotos/ Shutterstock.com
Trump-Putin-Telefonate sorgen für Aufregung. Diplomatie nimmt Fahrt auf. Ex-Botschafter Lüdeking meint: Die EU könnte zum Verlierer werden. Ein Telepolis-Podcast.
Die Diplomatie zwischen Washington und Moskau bzw. Washington und Kiew hat seit dem erneuten Amtsantritt von US-Präsident Trump enorm Fahrt aufgenommen – und das weitgehend vorbei an Nato, EU und den großen europäischen Mächten wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Gerade hat Trump zum zweiten Mal mit dem russischen Präsidenten Putin telefoniert.
Dabei wurde unter anderem vereinbart, dass Russland und die Ukraine 30 Tage lang darauf verzichten sollen, ihre Energieinfrastruktur anzugreifen. Rüdiger Lüdeking war fast 40 Jahre im diplomatischen Dienst tätig, darunter als ständiger Vertreter Deutschlands beim Büro der Vereinten Nationen in Wien und deutscher Botschafter bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE.
Dietmar Ringel hat für Telepolis mit ihm gesprochen.
▶ Wie bewerten Sie die Ergebnisse des Gesprächs von Trump und Putin?
Rüdiger Lüdeking: Wenn ich mir das anschaue, dann muss ich sagen, es ist sehr enttäuschend, was da herausgekommen ist. Denn das, was da als Waffenruhe bezeichnet wird, bezieht sich nur auf die Energieinfrastruktur. Und da habe ich schon das Gefühl, dass das auch im russischen Interesse ist, denn die Ukrainer werden zwar ihre eigene Energieinfrastruktur, die sie bereits zu 50 Prozent verloren haben, schützen wollen – was bisher auch einigermaßen funktioniert.
Aber sie haben natürlich auch die Energieinfrastruktur der Russen im Hinterland angegriffen, etwa Raffinerien und anderes. Also, wir sind weit entfernt von einer 30-tägigen Waffenruhe, von der Trump vorher geredet hat. Dies gilt zumal für eine überprüfte und abgesicherte Waffenruhe.
▶ Trotzdem stellt sich die Frage: Ist das vielleicht ein kleiner Schritt, aber immerhin in die richtige Richtung?
Rüdiger Lüdeking: Das weiß man nicht. Es gibt eine ganze Reihe von Fragen, die sich an dieses Telefonat stellen. Die beiden haben wohl sehr lange miteinander gesprochen. Und es gibt einen Dissens in der Frage, was genau passieren soll. Russischen Veröffentlichungen zufolge wird eine Art Einigkeit impliziert, die jetzt von Trump infrage gestellt wird. Nämlich, dass als Voraussetzung für eine 30-tägige Waffenruhe die Lieferung von Geheimdienstinformationen wie auch von Waffen seitens des Westens eingestellt werden müsste. Das ist aber genau ein entscheidender Punkt.
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▶ Müsste nicht das eine auf dem anderen aufbauen? Dass man sagt, es ist jetzt ein erster Schritt, zunächst mal keine Kraftwerke, Trafostationen, Erdgasleitungen usw. anzugreifen. Und wenn das 30 Tage lang funktioniert, dann funktionieren auch weitere Schritte …
Rüdiger Lüdeking: Da bin ich mir nicht sicher, ob das so ist. Denn es ist auch weiter ungeklärt, wie die Waffenruhe kontrolliert werden soll. Und das ist doch einer der Hauptpunkte, um die es immer wieder geht. Wenn es jetzt 30 Tage Waffenruhe gäbe und die ukrainische Energieinfrastruktur nicht mehr von Russland angegriffen würde, dann wäre es gut.
Aber es gibt schon erste Meldungen aus der Ukraine, dass es auch weiterhin russische Drohnenangriffe auf die Energieinfrastruktur gibt – auch nach der Vereinbarung dieser Waffenruhe von 30 Tagen.
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▶ Andererseits berichten ukrainische Medien, Präsident Selenskyj habe den zuständigen Stellen bereits den Auftrag erteilt, eine Liste von Objekten anzufertigen, die jetzt nicht mehr angegriffen werden sollen. Das spricht doch dafür, dass sich Selenskyj auf diese Vereinbarung einlassen könnte.
Rüdiger Lüdeking: Was bleibt ihm anderes übrig? Er könnte ein positiver Schritt sein, wenn er dazu führt, dass Vertrauen gebildet wird. Aber ich bin da nicht sicher, ob das wirklich der Fall ist. Und ich glaube, Trump ist darauf aus, möglichst rasch ein Ergebnis zu erzielen. Aber es ist natürlich so, und das hat Selenskyj auch immer gesagt, dass ein Waffenstillstand kontrolliert und abgesichert werden muss.
Und da stellen sich noch die ganz großen Fragen, wie das gehen soll. Und was das Ergebnis eines Waffenstillstands oder einer Friedenslösung sein soll.
▶ Sie haben schon die Forderung der Russen im Fall einer Waffenruhe erwähnt, dass die Amerikaner und überhaupt die westlichen Unterstützer ihre Waffenlieferungen an die Ukraine komplett einstellen und auch auf weitere Geheimdienstinformationen verzichten. Ist es denkbar, dass sich Trump darauf einlässt?
Rüdiger Lüdeking: Man muss Trump zugutehalten, dass er den Verhandlungsweg überhaupt beschritten hat. Auch meine Kritik war immer, dass die westliche Seite sich dagegen gewehrt und eigentlich nur auf die militärische Karte gesetzt hat. Und dabei hat sie einerseits die gegebenen Risiken einer Eskalation negiert und andererseits die beschränkten Möglichkeiten ignoriert, die westliche Staaten haben, um der Ukraine zu helfen bzw. ihre eigenen Streitkräfte aufzubauen.
Das gewinnt jetzt deutlich an Tempo, allerdings sind wir sehr spät dran. Es gab weitaus günstigere Zeitpunkte, wo man der Ukraine hätte helfen können. Ich habe den Eindruck, Putin ist nicht gewillt, das Verlieren zu lernen, also eine militärische Niederlage hinzunehmen.
Seitens des Westens wird immer so dahingesagt, Putin dürfe nicht gewinnen und er müsse folglich seine Truppen aus allen besetzten ukrainischen Gebieten zurückziehen. Das aber, glaube ich, ist so nicht erreichbar, wie es angedacht war.
Man muss, und das ist eine zentrale Lehre aus dem Kalten Krieg, trotz der Gegensätze, die man hat, immer im Gespräch bleiben und versuchen auszuloten, inwieweit die andere Seite verhandlungsbereit ist. Jetzt haben wir eine Situation, in der die Europäer wahrscheinlich vor eine Situation gestellt werden, auf die sie keinen Einfluss haben, weil sich Putin und Trump auf etwas geeinigt haben, das für die Ukraine nicht günstig ist.
Im Übrigen kann man sich fragen, warum die europäischen Staaten nicht schon viel früher, zu für die Ukraine günstigeren Zeiten, damit begonnen haben, die Möglichkeiten einer diplomatischen Lösung auszuloten.
▶ Wie sollten sich die Europäer ihrer Meinung nach jetzt verhalten? Auch auf Konfrontation zu den Amerikanern gehen oder versuchen, zu vermitteln?
Rüdiger Lüdeking: Ich meine, die Megafonpolitik, die man bisher betrieben hat, sollte man auf jeden Fall einstellen. Und ich glaube auch nicht, dass Diplomatie mit Appeasement gleichzusetzen ist. Insofern wäre es gut, wenn die Europäer versuchen würden, auf die Amerikaner einzuwirken und sie zu einer ukrainefreundlicheren Politik zu bewegen.
Allerdings setzt das natürlich auch voraus, dass die sehr ideologisch und durch moralische Empörung geprägte deutsche und auch europäische Politik aufgegeben wird und man sich der Sache realpolitisch nähert.
Und da muss man in Kauf nehmen, dass das Ergebnis nicht so sein wird, wie es bisher immer von europäischer Seite gefordert wurde, sondern es müssen Kompromisse her. Die wiederum müssen so beschaffen sein, dass sich Putin nicht als Sieger fühlen kann. Er muss natürlich auch Federn lassen. Und ich glaube, er weiß das.
▶ Lassen Sie mich noch mal nachfragen, was die Waffenlieferungen und die Geheimdienstunterstützung des Westens für die Ukraine angeht. Kann man denn Friedensgespräche führen und einen Waffenstillstand vereinbaren und parallel dazu weiter Waffen an die Ukraine liefern, sie praktisch kriegstüchtig halten?
Rüdiger Lüdeking: Zum einen wäre es falsch, wie manchmal kolportiert wird, dass sich die Europäer in der Ukraine mit eigenen Truppen engagieren und den Waffenstillstand absichern. Denn da bestünde die Gefahr, dass sie in diesen Konflikt unnötigerweise hineingezogen werden. Aber sie müssen natürlich auch sehen, dass sie ihren Beitrag zur Unterstützung der Ukraine leisten, die schließlich überfallen wurde. Und da sollte man so weit gehen und sagen, es sollten diejenigen Waffen geliefert werden, die man liefern kann.
Wobei die einzelnen Staaten aber selbst darauf achten müssen, dass sie ihre eigene Verteidigungsfähigkeit wieder aufbauen. Das haben sie ja leider sehr lange versäumt. Und deshalb sind die jetzt getroffenen Entscheidungen der Bundesregierung eigentlich überfällig. Nur hat man niemanden darauf vorbereitet. Weshalb das natürlich auch mit Blick auf die Entscheidungen der Wähler nach hinten losgehen kann. Denn viele Wähler, insbesondere der CDU, fühlen sich durch die Neuverschuldung des Bundes getäuscht.
▶ Wenn ich Sie richtig verstehe, finden Sie die Entscheidung des Bundestages in der Sache richtig, kritisieren aber die Art und Weise, wie das passiert ist …
Rüdiger Lüdeking: Ja. Ich habe mich immer gefragt, wie man die Bundeswehr aus der misslichen Lage, in der sie sich befindet, herausführen kann. Sie hat eine Stärke von 180.000 Mann, und nicht mal die Erhöhung um 30.000 Mann hat man zuwege gebracht.
Man hat zuletzt zwar die Verteidigungsausgaben erhöht, aber nur auf knapp über zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nimmt man dazu noch die Waffenlieferungen an die Ukraine, heißt das, die Bundeswehr hat sich mitnichten aus dieser blanken Situation, in der sie sich befand, befreit. Das liegt zum Beispiel am Mangel an Munition, aber auch am Fehlen einer Wehrpflicht. Es ist natürlich nur das eine, sich auf Geldbeträge zu verständigen. Man muss das Geld auch sinnvoll ausgeben, um die bestehenden Fähigkeitsdefizite der Bundeswehr zu beseitigen.
Und man muss die Bereitschaft zur Verteidigung Deutschlands und seiner Werte deutlich erhöhen. Auch hierfür kann die Wiedereinführung der Wehrpflicht einen besonders wichtigen Beitrag leisten.
▶ Lassen Sie uns noch einmal auf eine mögliche Friedensregelung für die Ukraine schauen. Es geht auch um die Frage, wie künftige Sicherheitsgarantien aussehen sollen. Einerseits für die Ukraine, aber Russland fordert auch Sicherheitsgarantien. Da geht es um die schon erwähnten westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine und zum anderen um die Frage, wer eine Waffenstillstandsvereinbarung überwachen soll. Wer könnte das aus Ihrer Sicht leisten?
Rüdiger Lüdeking: Der Normalfall wäre, dass man eine von den Vereinten Nationen mandatierte Regelung über einen Waffenstillstand findet. Und daraufhin müsste beschlossen werden, wer diesen Waffenstillstand überwacht. Das ist nicht so einfach – angesichts des großen Raumes, der wahrscheinlich zu überwachen sein wird. Man muss eine demilitarisierte Zone schaffen, und die muss dann hinreichend kontrolliert werden. Wir wissen auch, wie das bei den Minsk I und Minsk II Abkommen gelaufen ist, wo wir ab 2014 den Konflikt im Donbass hatten.
Die OSZE hatte große Schwierigkeiten damit, einen Waffenstillstand tatsächlich zu sichern. Ich glaube schon, wir brauchen eine Stationierung von Streitkräften. Ob die Europäer allein zur Bereitstellung der benötigten größeren Zahl von Soldaten in der Lage sind, ist zu bezweifeln. Hinzu kommt, dass die Russen die Stationierung europäischer Streitkräfte ablehnen, was damit zusammenhängt, dass sie ein Vorrücken der Nato, eine Nato-Erweiterung darin sähen.
In europäischen Sicherheitstruppen würden sie sehen, dass die Nato sich weiter nach Osten bewegt. Und dies ist gerade der Punkt, um den es Russland meines Erachtens auch beim Krieg gegen die Ukraine geht – die Wahrung seines Einflussbereichs. Ich meine, man sollte das aufnehmen, was andere Staaten vorgeschlagen haben. Zum Beispiel seitens Chinas oder Brasiliens. Deren Friedensvorschläge wurden bislang durch den Westen ignoriert, was ich für einen großen Mangel halte.
▶ Eine weitere zentrale Frage ist die mögliche Nato-Mitgliedschaft der Ukraine. Die Russen lehnen das vehement ab, die Amerikaner mittlerweile auch. Von den Europäern heißt es aber weiter, der Platz der Ukraine sei in der Nato. Was meinen Sie, wie die Sache ausgeht?
Rüdiger Lüdeking: Ich glaube, das ist der Hauptpunkt, um den es geht. Erinnern Sie sich daran, als im April und Mai 2022 bereits Gespräche zwischen den Russen und den Ukrainern geführt wurden. Da war die Nichtstationierung von Nato-Streitkräften in der Ukraine ein zentraler Punkt. Hier geht es letztlich darum, was Russland als Bedrohung für sich oder als Ausweis seines Selbstverständnisses, als Großmacht akzeptiert zu werden, ansieht.
Dazu gehört, dass die Russen die Nato nicht in ihrem direkten Hinterhof wissen wollen. Sie möchten ihren Einflussbereich nicht aufgeben. Man hat sich auf einen Abnutzungskrieg eingelassen, der auf beiden Seiten Zehntausenden von Soldaten das Leben gekostet hat.
Da stelle ich mir schon die Frage, ob es richtig ist, den Krieg unter diesen Umständen weiterzuführen. Auch weil die Aussichten, den Krieg zu gewinnen, gerade für die Ukraine nicht gegeben sein dürften. Auch deshalb nicht, weil die Russen, so finde ich, jederzeit bereit wären zu eskalieren, auch in apokalyptischer Form, also durch den Einsatz von Nuklearwaffen.
Ich glaube, es muss ein Kompromiss gefunden werden. Denn auch Putin muss natürlich nach Hause gehen und den nationalistisch geprägten Leuten in seinem eigenen Lager sagen können, dass er ein gutes Ergebnis erzielt hat.
▶ Aber noch mal konkret: Sollte der Westen das Ziel einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine aufgeben?
Rüdiger Lüdeking: Ich finde, letztlich als Ergebnis von Verhandlungen, ja. Man muss sich im Fall eines Waffenstillstands natürlich absichern. Nur gibt es andere Möglichkeiten, dies zu tun. Europäische Staaten könnten zum Beispiel neben Soldaten aus China und anderen Staaten des sogenannten Globalen Südens im Rahmen einer UN-mandatierten Operation teilnehmen, aber nicht allein als Nato-Staaten. Das ist wirklich ein No-Go für die Russen.
Wir sind mit der bisherigen Linie, allein auf die militärische Karte zu setzen, nicht durchgedrungen, und die Chancen, dass sich die Ukraine auf diese Weise durchsetzt, sind kaum gegeben. Das sollte man realpolitisch akzeptieren. Die Russen sind auch in einer schwierigen Lage. Deren Verluste sind immens hoch, gehen in die Hunderttausende. Das muss man sich auch mal vor Augen führen. Und da muss es gewisse Mechanismen geben, dass man etwa Waffenlieferungen an die Ukraine zulässt, um die Ukraine zu stärken, weil sie ja der überfallene Staat ist.
Aber gleichzeitig muss man auch bereit sein zu sagen, nein, wir sind mit unserer forcierten Nato-Erweiterung in die falsche Richtung gelaufen. Wir haben in Moskau die falschen Kräfte aufgeweckt, und davon sollten wir Abstand nehmen.
▶ Die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer haben lange Zeit territoriale Zugeständnisse an Russland ausgeschlossen. Nun sieht es aber so aus, als ob es doch dazu kommt. Welches Signal geht davon aus?
Rüdiger Lüdeking: Territoriale Zugeständnisse wird man wahrscheinlich machen müssen. Ich kann mich noch daran erinnern, dass etwa der auch heute noch hochgelobte und sehr geschätzte Ex-Bundeskanzler Schmidt 2014 nach der Besetzung der Krim gesagt hat, das könne man nicht wiedergewinnen, weil es halt ein russisches Territorium sei.
Es ist übrigens auch wahrscheinlich, dass viele der in den ersten Tagen gewonnenen ukrainischen Territorien durch Kollaboration an Russland gefallen sind. Aber ich will das jetzt nicht bewerten. Ein Problem ist natürlich, dass Putin darauf aus ist, die vier annektierten Oblaste nach Russland einzugemeinden.
Aber ich kann nicht sagen, es müsse so und so gemacht werden, sondern alles hat seinen Preis. Man sollte versuchen, die Ukraine so gut wie möglich zu unterstützen und zu verteidigen, wohl wissend, dass es dabei Kompromisse geben muss und dass der Siegfrieden, den man immer angestrebt hat, nicht realisierbar ist.
▶ Seitens des Westens heißt es aber, wenn man den Russen zugesteht, mit diesem Krieg Territorien zu erobern, dann finden sie Geschmack daran. Als Nächstes seien die baltischen Staaten mögliches Ziel einer russischen Aggression. Anschließend würde es weitergehen, und manche sagen, bald stehen die Russen am Brandenburger Tor …
Rüdiger Lüdeking: Das halte ich für ein etwas vorgeschobenes Argument. Wenn Sie sich nämlich mal anschauen, was die russischen Ziele in der Ukraine waren und wie die Russen bisher vorangekommen sind, dann muss man sagen, dass sich die russischen Streitkräfte nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben; zudem hat man russischerseits sehr viele Opfer zu beklagen.
Und ich glaube auch, dass Putin derjenige ist, der das sieht. Ich halte es nicht für ein realistisches Szenario, das da an die Wand gemalt wird. Man muss die Ukraine unterstützen, weil sie der überfallene Staat ist und es doch darum geht, dass man ein zentrales Element der sogenannten regelbasierten Ordnung, nämlich das Gewaltverbot beziehungsweise die Souveränität und territoriale Integrität von Staaten nicht preisgibt. Das muss man unterstützen.
Aber zu sagen, die Ukraine führe einen Stellvertreterkrieg, halte ich für überzogen und der Sache nicht dienlich. Zumal wir nicht verlangen können, dass die ukrainischen Soldaten für den Westen sterben. Aber unabhängig davon gilt natürlich, und das begrüße ich sehr, dass die EU jetzt aufgewacht ist, um ihre Verteidigung auf Vordermann zu bringen – zwar sehr spät, aber immerhin.
Es wird darauf ankommen, dass die EU sich auch ohne die USA zu behaupten weiß, in einer vielleicht nicht mehr so sehr regelbasierten, sondern einer multipolaren, stark von Großmächten bestimmten Ordnung, wo sich jeder nimmt, was er gerne haben möchte. Man denke nur an die Äußerungen von Trump zu Grönland.
Daran sieht man, dass auch die Amerikaner jetzt eine ähnliche Politik verfolgen und weniger auf eine regelbasierte Ordnung setzen. Aber das ist genau das, was wir machen müssen. Wir sollten eine regelbasierte Ordnung verteidigen, und gleichzeitig müssen wir alles daransetzen, dass Europa in der jetzigen multipolaren Ordnung nicht unter die Räder gerät, sondern sich behaupten kann. Wir haben natürlich auch einen Wertekanon als freiheitliche Demokratie, die wir gegen Angriffe verteidigen müssen. Und das lässt sich gut darstellen.
Wie ohnehin auch die Europäer jetzt schon in vielen Bereichen deutliche Überlegenheit gegenüber Russland haben, wie bei Kampfflugzeugen. Dort ist, glaube ich, das Verhältnis zwei zu eins. Nur ist es natürlich so, dass die Europäer letztlich ineffektiv aufgestellt sind und zu viel Geld ausgeben. Sie müssen sich aus Effektivitäts- wie auch Kostengründen schnellstmöglich auf eine europäische Verteidigungsunion einigen. Und darauf sind die Europäer jetzt hoffentlich auch gekommen.
Es müssen die entsprechenden Weichenstellungen für eine Belebung der Verteidigungsindustrie und die Schaffung einer einheitlich ausgerüsteten und unter einem einheitlichen Kommando stehenden Verteidigungsarmee getroffen werden.
Dietmar Ringel sprach mit Botschafter a.D. Rüdiger Lüdeking, der unter anderem ständiger Vertreter Deutschlands beim Büro der Vereinten Nationen in Wien und deutscher Botschafter bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, war.