"Mehrfache Provokation" am Jahrestag der Zwangswahlen in Katalonien
Vor der Kabinettssitzung der spanischen Regierung in Barcelona, gegen die mit einem Generalstreik protestiert wird, gibt es leise Entspannungsgesten, die politischen Gefangenen haben den Hungerstreik auf Wunsch hochrangiger Politiker abgebrochen
Am Freitag sollte man Katalonien besser meiden, da es erneut zu einem Generalstreik kommen wird. Wie bei den massiven "vaga general" üblich wird es überall im Land zu massiven Behinderungen kommen. Schon in den letzten Wochen haben "Komitees zur Verteidigung der Republik" (CDR) im Stil der französischen Gelbwesten, Autobahnen blockiert oder Zahlstellen zur freien Durchfahrt geöffnet. Zum zweistündigen Generalstreik hat die Gewerkschaftskonföderation CSC aufgerufen, die unter anderem die Anhebung des Mindestlohns auf 1200 Euro und die Rücknahme von zwei Arbeitsmarktreformen fordert.
Zum Streik rufen auch Studenten- und Schülervereinigungen auf, sowie die beiden großen zivilgesellschaftlichen Organisationen Katalanischer Nationalkongress (ANC) und Òmnium Cultural, deren Präsidenten seit 14 Monaten inhaftiert sind. Sie sollen eine Rebellion angeführt haben. Beide stehen hinter den Mobilisierungen, bei den ein bis zwei Millionen Menschen seit Jahren für die Unabhängigkeit von Spanien auf die Straße gehen, wie zuletzt am 11. September
Die Lage hatte sich zuletzt zugespitzt und die friedlichen Proteste werden radikaler. Anlass dafür war auch zum Beispiel der Hungerstreik der politischen Gefangenen, darunter der frühere ANC-Präsident Jordi Sànchez. Zuletzt wurde der ehemalige Regierungssprecher Jordi Turull auf die Krankenstation verlegt, weil sich sein Gesundheitszustand zugespitzt hatte.
"Er führt sich wie ein Kolonialherrscher auf, der in der Kolonie seine Macht zeigen will"
Doch besonders sorgte für eine weitere Zuspitzung, dass der spanische Sozialdemokrat Pedro Sánchez, der im Juni nur mit Stimmen der Unabhängigkeitsparteien an die Macht kam, den versprochenen Dialog zur Konfliktlösung vermissen ließ. Nach anfänglich zaghaften Signalen wurde er sofort wieder auf Eis gelegt. Das hat dazu geführt, dass die katalanischen Unabhängigkeitsparteien sich von dem Sozialdemokraten distanziert haben und es bisher ablehnen, seinen Haushalt zu beschließen. Deshalb befindet sich Spanien längst im Vorwahlkampf, da das Land auf vorgezogene Neuwahlen zustrebt.
In diesem Rahmen werten viele den "Schachzug" des Regierungschefs, der hier in Katalonien als "mehrfache Provokation" gesehen wird. Mit massiven Protesten, so erklärte Mireia Boya, soll der Sánchez-Regierung am Freitag gezeigt werden, dass sie "in Katalonien nicht willkommen ist". Die Parlamentarierin der linksradikalen CUP verweist gegenüber Telepolis darauf, dass sich die Regierung ausgerechnet am 21. Dezember hier versammeln will: "Er führt sich wie ein Kolonialherrscher auf, der in der Kolonie seine Macht zeigen will."
Es sei ein besonders symbolträchtiger Tag. Eigentlich finden Sitzungen dieser Regierung am Donnerstag statt. Extra wurde sie auf Freitag in Barcelona verlegt, wo es seit der Franco-Diktatur und dem Übergang zur Demokratie keine Sitzungen des spanischen Kabinetts mehr gegeben habe. Die wolle sich an dem Tag in Barcelona versammeln, an dem Spanien vor genau einem Jahr Wahlen erzwungen hat, nachdem zuvor per "Staatsstreich" die katalanische Regierung abgesetzt und die Region unter Zwangsverwaltung Madrids gestellt worden war. Doch zum Horror von Spanien gewann die Unabhängigkeitsbewegung trotz der massiven unionistischen Mobilisierung die Wahlen erneut.
"Da wir die Wahlen erneut gewonnen haben, wird seither verhindert, dass der Präsident ins Amt kommt, der auch gewählt wurde, und wir die Programme umsetzen, mit denen sie gewählt wurden", sagt Boya mit Blick auf den exilierten Carles Puigdemont. Nicht nur das, verhindert wurde auch, dass zwei Kandidaten gewählt werden konnten. Jordi Turull wurde "dafür extra noch schnell inhaftiert", um seine Wahl zu verhindern, erklärte dessen Frau im Telepolis-Gespräch.
Alle Tricks werden dazu von den Regierungen über die politisierte "unabhängige Justiz" angewendet, wogegen sich inzwischen sogar Richter und Staatsanwälte mit Streiks richten. Boya blickt auch auf den Hungerstreik "unserer politischen Gefangenen". Auch wenn von der CUP bisher niemand inhaftiert sei, seien alle Gefangene der Bewegung auch die der CUP. Allerdings hat die CUP mit Anna Gabriel eine herausragende Persönlichkeit im Schweizer Exil, die in Spanien politisch verfolgt werde.
In Bezug auf die Zuspitzung weist sie auch auf den anstehenden Prozess gegen Aktivisten und frühere Regierungsmitglieder hin. Angeklagt ist dabei auch diese CUP-Parlamentarierin. Allerdings wird sie wegen "Ungehorsam" und nicht wegen Rebellion oder Aufstand vor Gericht gezerrt, wie hochrangige Politiker der beiden anderen Unabhängigkeitsparteien. Auch herausragende spanische Juristen sprechen dabei von "verrückten Strafanträgen ohne juristische Basis".
Der Prozess, der eigentlich längst hätte beginnen sollen und nun angeblich im Januar starten soll, richte sich nicht allein gegen die Angeklagten: "Der gesamten Unabhängigkeitsbewegung soll von einem Staat der Prozess gemacht werden, der hier massiv Grundrechte verletzt." Neben dem Selbstbestimmungsrecht seien es auch das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit, sowie politische, zivile und soziale Rechte. Sie verweist dabei auf beschlossene Gesetze, deren Anwendung per Verfassungsbeschwerde gestoppt wurde, wie Gesetze zur Bekämpfung der Wohnungsnot oder Energiearmut. Und die Rücknahme der Beschwerden und die Umsetzung der beschlossenen Gesetze wird von der Gewerkschaftsföderation auch mit dem Hungerstreik gefordert.
Immerhin ein Mini-Gipfel
Einen wirklichen Dialog wolle Sánchez mit dem katalanischen Regierungschef Quim Torra nicht führen, weshalb er das Angebot mit Provokationen anreichert, um ihn eigentlich unmöglich zu machen. Ohnehin habe Sánchez schon im Vorfeld rote Linien eingezogen, über ein Unabhängigkeitsreferendum oder das Selbstbestimmungsrecht werde er nicht sprechen, kündigte er angesichts der Kritik von Konservativen bis Ultrarechten an, die Katalonien sofort wieder unter Zwangsverwaltung sehen wollen.
Ein Unabhängigkeitsreferendum, "das hier 80% der Bevölkerung fordern", sei der einzige Ausweg. "Es wird Zeit, dass wir zu zählen beginnen", meint Boya, die glaubt, dass längst eine Mehrheit die Unabhängigkeit will. Dass in Spanien nun offen faschistisch auftretende Parteien wie VOX in Parlamente gewählt werden, stärke die Unabhängigkeitsbewegung nur weiter.
Allerdings vermisst die Aktivistin auf der Ebene der Parteien derzeit eine gemeinsame Strategie, die es im letzten Jahr gab, als auch gegen die spanische Staatsgewalt das Referendum durchgesetzt oder massiv gegen die Repression gestreikt wurde. "An der Basis sind wir aber geeint." Das werde sich erneut in massiven und friedlichen Protesten zeigen.
Dass es zu "Prügelorgien" wie beim Referendum kommt, schließt sie nicht aus, doch es sei klar, dass die Gewalt stets von spanischen Sicherheitskräften oder Faschisten ausgehe. "Die Gewalt kommt immer vom spanischen Staat", wie am 1. Oktober während des Referendums. "Der Staat fährt eine Doppelstrategie: 1. will er die Breite der Unabhängigkeitsbewegung aufbrechen und 2 den Konflikt in ein sicherheitspolitisches Problem zu verwandeln." Das werde mit den Märchen von der Gewalt und Rebellion versucht festzuklopfen, die es von Seiten der Bewegung praktisch nicht gab. Das haben auch unabhängige Gerichte in Deutschland, Belgien, Großbritannien und der Schweiz längst festgestellt.
Die wenigen Vorfälle, die es im Rahmen von riesigen Protesten in vielen Jahren gab, seien ein Witz gegen das, was zum Beispiel in den letzten Wochen in Frankreich passiert ist. Doch dort spricht niemand von Terrorismus, Aufruhr oder Rebellion und Anklagen mit Haftstrafen von bis zu 30 Jahren. "Hier gibt es keine Konflikt auf der Straße, sondern Menschen die für ihre politischen und sozialen Rechte und den Faschismus auf die Straße gehen", fügt Boya an. Sie verweist, dass es die faschistische VOX-Partei war, die als Nebenklägerin im Prozess gegen die Unabhängigkeitsbewegung auftritt und die wie das Ministerium für Staatsanwaltschaft auftrete.
Lange war unklar, ob es an diesem Freitag, wenn das spanische Kabinett nach Katalonien anreist, zum Treffen Sánchez-Torra kommen würde. Das ist inzwischen bestätigt und, neben dem Abbruch des Hungerstreiks, eine weitere leichte Entspannungsgeste. Der katalanische Regierungschef Torra hat gegenüber Sánchez durchgesetzt, dass es nicht beim Händedruck und dem Foto bleibt. Erstmals wird es einen Mini-Gipfel mit jeweils drei Fachministern geben, um auch inhaltlich zu verhandeln. Dagegen hat auch die CUP nichts, wenn darin die Rechte der Katalanen verteidigt werden.
Erst als das Schema für das Treffen festgezurrt war, forderten Torra und alle seine Vorgänger die hungerstreikenden Gefangenen gemeinsam auf, ihren Streik auszusetzen. Da ein Teil der Forderungen der Gefangenen erfüllt wurden, kamen sie der Aufforderung inzwischen nach und wurden in ein Krankenhaus verlegt. Sie rufen gemeinsam zu "massiven und friedlichen" Protesten am Freitag auf.