Nach dem Ukraine-Konflikt: Wie ein dritter Weltkrieg noch vermieden werden kann

Übungsmodell einer Kh-47M2 Kinzhal an einer MiG-31K der russischen Luftwaffe. Bild: Boevaya mashina, CC BY-SA 3.0

Ein Globalkonflikt droht zunehmend. Doch er hängt von jetzigen Entscheidungen ab. Warum ein Ende des Ukraine-Krieges für alle positiv wäre. (Teil 1)

Gegenwärtige Gegner der Wiederaufnahme von Verhandlungen sind überzeugt: "Putin verhandelt nicht." Aber dennoch gilt anzumerken, dass es zumindest für einen Zeitraum erfolgreiche Verhandlungen beim Gefangenenaustausch, bei gegenseitiger Überstellung von Gefallenen und bei den Getreidetransporten gab. Vermittler waren hier Papst Franziskus, UN-Generalsekretär Guterres sowie die türkische Regierung.

Auch der ukrainische Präsident Selenskyj lehnt zwar offiziell Verhandlungen ab, bevor nicht die russischen Truppen die Ukraine verlassen haben, lässt aber dennoch in Bezug auf die angesprochenen Teilprobleme verhandeln.

Johannes Varwick (2022) fordert daher Verhandlungen zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation zum "Einfrieren" des Kriegs. Dies stelle zwar noch keine Lösung dar, könne aber der Beginn für weitergehende Verhandlungen sein. Dies sei besser als weitere Hunderttausende Tote und Schwerverletzte und eine gefährliche Eskalation des Kriegs.

Ebenfalls unterstützt der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich die Forderung nach dem Einfrieren des Konflikts, was allerdings in einem Gegensatz zum medialen Mainstream und zur Politik der grünen Außenministerin steht.

Michael von der Schulenburg (2024) zweifelt des Weiteren an, dass sich die gegenwärtige wechselseitige militärische Eskalation im Ukraine-Krieg mit dem Völkerrecht und der UN-Charta legitimieren lässt:

Kann man mit der UN-Charta auch rechtfertigen, über mehrere Jahre einen Krieg zu führen, der in der Zerstörung des angegriffenen Staates enden könnte? Und berechtigt dies auch zu einer Ausweitung des Krieges auf Russland mit dem Risiko, einen nuklearen Weltkrieg vom Zaun zu brechen? Und das alles, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, den Konflikt, der zu diesem Krieg geführt hat, friedlich zu lösen? Wohl kaum! Denn Sinn und Zweck der UN-Charta ist es ja, der Menschheit den Frieden zu erhalten und nicht etwa Kriege zu rechtfertigen.

Michael von der Schulenburg

Wartet man jedoch zu lang mit dem Beginn von Verhandlungen in diesem Sinne kann die Ausgangslage für Verhandlungen immer schlechter werden, wenn sich die militärische Lage für die Ukraine verschlechtern sollte.

Die nukleare Bedrohung kommt näher

Das russische Militär greift im ersten Halbjahr 2024 verstärkt die zweitgrößte ukrainische Stadt Charkiw an und bombardiert zivile Infrastruktur. Die Nato befürwortet inzwischen den aus ihrer Sicht völkerrechtlich legitimen Einsatz westlicher Waffen von der Ukraine aus auf bestimmte militärische Ziele im russischen Gebiet, um u.a. die Angriffe auf Charkiw präventiv zu verhindern.

Der französische Präsident Emmanuel Macron spricht sich für den Einsatz westlicher Militärs in der Ukraine aus. Die Ukraine zerstört einen Teil des dortigen nuklearen Frühwarnsystems. Putin kontert erneut mit der mit äußerstem Ernst vorgetragenen Drohung, taktische Atomwaffen nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen den Westen einzusetzen.

Der ehemalige russische Präsident und Ministerpräsident Medwedew drohen mit einem russischen Raketenangriff auf westliche Hauptstädte und einem dritten Weltkrieg.

Die Russische Föderation führte dementsprechend ein Atomwaffenmanöver durch, um den Einsatz von taktischen Nuklearwaffen zu erproben. Die Nato und Deutschland kündigen auf dem Nato-Jubiläum im Juli 2024 in New York u. a. die Stationierung neuer nuklear bestückbarer Mittelstreckenraketen vom Typ Tomahawk in Deutschland an.

Nato-Mittelstreckenwaffen wieder in Deutschland

Damit werden erstmals seit dem Abzug der atomaren Mittelstreckenraketen im Jahr 1991 im Zuge des INF-Abkommens wieder Raketen auf deutschem Boden stationiert. Daher fordert die IPPNW, die internationale Ärzteorganisation zur Verhinderung eines Nuklearkrieges, "als ersten Schritt eine Risikominderung: Die drei westlichen Atommächte USA, Großbritannien und Frankreich sollten gemeinsam mit China auf Russland zuzugehen und eine Doktrin des Verzichts auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen erklären."

Auch nuklear bestückbare Hyperschallraketen sollen bis 2026 auf deutschem Gebiet stationiert werden und stehen dann den bereits in Kaliningrad befindlichen russischen Hyperschallraketen gegenüber. Russland greift zudem bereits mit Hyperschallraketen in der Ukraine an.

Äußerst aktuell ist der Aufruf kritischer Politikwissenschaftler und für Verhandlungen plädierender Politikerinnen und Politiker auf Change.org, der zum Widerstand gegen Hyperschallraketen in Ost und West aufruft, die in wenigen Minuten mit ihren konventionellen oder nuklearen Sprengköpfen die Hauptstädte der beteiligten Staaten erreichen können.

Die Gefahr des Nuklearkrieges ist so nahe wie allenfalls während der Kuba-Krise im Jahr 1962. Jedoch werden Persönlichkeiten und Politikwissenschaftler, die eine nukleare Reaktion nicht ausschließen wollen, als Personen, die auf Putins Drohkulissen hereinfallen, öffentlich in westlichen Medien stigmatisiert.

Drohungen nuklearer Raketenangriffe werden als Angstmacherei und Einschüchterungsversuche herabgestuft. Dennoch: Müssen sich führende westliche Politiker aufgrund ihrer Verantwortlichkeit für die Menschen, die sie repräsentieren, nicht fragen, ob man eine nukleare Reaktion Russlands tatsächlich ausschließen kann? Wäre es nicht sinnvoller, jetzt endlich eine entschiedene Verhandlungsoffensive zu beginnen, bevor es zu spät ist?

Günter Verheugen und Petra Erler (2024:14) warnen in ihrem Buch "Der lange Weg zum Krieg" – trotz ihrer Kritik an Russlands völkerrechtswidrigen Angriff – dementsprechend:

Ein Zerstörungswille, der sich auf Russland richtet, zerstört auch uns. Er führt zwingend in die nukleare Katastrophe, denn das ist der einzige Fall, bei dem die nukleare Doktrin Russlands greift: Steht die Existenz des Landes auf dem Spiel, ist der Atomwaffeneinsatz erlaubt. Was in der Welt wäre es wert, herausfinden zu wollen, ob das nur eine leere Drohgebärde ist?

Herfried Münklers Position hingegen, dass es eine EU-Atombombe geben müsse, trägt wenig zu einer diplomatischen Offensive und zur Deeskalation bei – so Münkler (2023):

Die Briten haben zwar Atom-U-Boote, Frankreich die Bombe, aber werden sie die wirklich einsetzen, um Litauen oder Polen zu schützen? Das darf man aus Sicht des Kreml bezweifeln. Wir brauchen einen gemeinsamen Koffer mit rotem Knopf, der zwischen großen EU-Ländern wandert.

Münkler plädiert in diesem Zusammenhang für eine massive Aufrüstung europäischer Staaten und der EU, um Russland abzuschrecken. Diese Überlegungen greift die europäische SPD-Spitzenkandidatin Katharina Barley auf und fordert ebenfalls ein Nachdenken über eine europäische Atombombe – insbesondere angesichts der zukünftig zu erwartenden Unzuverlässigkeit der USA (Wangerin 2024).

Eine derart massive Hochrüstung im konventionellen und nuklearen Bereich auf Seiten der Russischen Föderation und des Westens verbunden mit einer sich zuspitzenden Drohkulisse und einer militärischen Eskalation in der Ukraine ist kontraproduktiv und äußerst gefährlich. Es besteht die Gefahr des ‚Point of no Return‘ und einer nicht zu stoppenden Eskalationsdynamik, wie es Jürgen Habermas (2023) in der Süddeutschen Zeitung formulierte. Irgendwann kann ein Kipppunkt erreicht sein, der die Ereignisse unkontrolliert und chaotisch auf die Welt einstürzen lässt. Wie weit sind wir jetzt von diesem Kipppunkt noch entfernt?

Die notwendige Doppelstrategie zur Beendigung des Kriegs

Der Politikwissenschaftler Hajo Funke fordert in seiner Flugschrift "Verhandeln ist der einzige Weg zum Frieden" bereits im Juni 2023 angesichts des durch den Krieg entstandenen menschlichen Leids die Wiederaufnahme von Verhandlungen ein:

Ist es legitim – das gilt erneut für alle Seiten –, Leid und Zerstörung für Menschen und Gesellschaften weiterhin hinzunehmen, ohne alles – aber auch alles – in der Macht der Regierungen unserer Völker Stehende zu tun, diese destruktive Eskalation im Krieg zu unterbrechen? Müssen wir nicht spätestens jetzt (…) die Frage stellen, ob ein ‚weiter so‘ durch mehr Waffen und mehr Eskalation gegenüber den betroffenen Gesellschaften und den gefährdeten Menschen sich noch rechtfertigen lässt?" Zwei notwendige Strategien müssten m. E. als Doppelstrategie ("Ausbau der Verteidigungsfähigkeit und Verhandlungsoffensive") in diesem Zusammenhang parallel zueinander weiterentwickelt werden:

Erstens: Koordinierter Ausbau der militärischen Verteidigungsfähigkeit der EU, der NATO sowie der Ukraine mit Augenmaß, um ein weiteres militärisches Vordringen der Russischen Föderation zu verhindern – auch eventuell über die Ukraine hinaus;

Zweitens: Parallel hierzu forcierte Verhandlungsangebote im Krieg in der Ukraine über eine wirkmächtige Verhandlungskommission mit Vertretern einflussreicher Staaten unter Federführung des UN-Generalsekretariats mit den Regierungen der Russischen Föderation und der Ukraine.

Dazu mehr im zweiten Teil dieses Textes, der am morgigen Montag auf Telepolis erscheint.