Ukraine-Krieg: Russland zerstört systematisch Energieinfrastruktur
Deutschland liefert eine Batterie des US-Flugabwehrsystems Patriot. Nato-Hilfe reicht nicht: Die Verteidigung der Ukraine gerät weiter unter Druck. Eine Einschätzung zur Lage.
Noch vor wenigen Tagen verkündete Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, dass Deutschland keine weiteren Patriot-Batterien an die ukrainischen Streitkräfte liefern könne. Am Samstag, dem Tag des iranischen Angriffs auf Israel – dem "Vergeltungsschlag" auf den israelischen Angriff auf die iranische Botschaft in Syrien –, kündigte die Bundesregierung die Lieferung einer weiteren Batterie des modernen US-Flugabwehrsystems an die Ukraine an.
Grund für den Meinungsumschwung ist wahrscheinlich die strategische Luftkampagne der russischen Luftwaffe, die zunehmende militärische Erfolge verzeichnet. Ausschlaggebend für die aktuell zugesagte Patriot-Lieferung dürfte die vollständige Zerstörung des Kraftwerks Trypillja bei Kiew gewesen sein. Sechs Blöcke mit einer Gesamtleistung von 1.800 Megawatt machten es zu einem der größten Stromproduzenten der Ukraine.
Die russische Strategie
Hatte die russische Führung in den vergangenen strategischen Luftkampagnen noch gezögert, die Energieerzeuger der Ukraine anzugreifen, so ist seit dem 22. März dieses Jahres eine neue Strategie erkennbar: Die russischen Streitkräfte greifen nun Kraftwerke an, und zwar mit mehreren Drohnen und Raketen gleichzeitig.
Es sieht danach aus, als ob die Kraftwerke vollständig zerstört und die Energieerzeuger dauerhaft vom ukrainischen Stromnetz getrennt werden. Die Auswirkungen des Angriffs auf das Kraftwerk Trypillja sind in einem Video zu sehen. Dort sind zahlreiche Raketen- und Drohneneinschläge bzw. die dadurch verursachten Brände zu sehen.
Bis zu 80 Prozent aller Wärmekraftwerke und mehr als die Hälfte aller Wasserkraftwerke sollen zerstört worden sein.
Hohe Frequenz der Luftangriffe
Allein am vergangenen Donnerstag sollen 42 Raketen auf Ziele in der Ukraine abgefeuert worden sein. Fast täglich greifen russische Streitkräfte Ziele in der Ukraine mit Shahed-136-Drohnen an, mindestens einmal pro Woche werden Raketen und Marschflugkörper abgeschossen.
Einiges deutet darauf hin, dass Russland diese Frequenz aufrechterhalten kann. Möglich ist, dass Russland in diesem Jahr mindestens 6.000 dieser Drohnen produzieren kann. Die russische Monatsproduktion an Raketen wird von Beobachtern auf etwa 250 Stück geschätzt.
Allerdings: Noch im Januar schätzte das Wall Street Journal die Produktionsrate auf nur etwa 110 Stück pro Monat.
Ein wesentlicher Faktor für die Entscheidung zur Patriot-Lieferung war die Zerstörung des Kraftwerks Trypillja bei Kiew. Sie markiert das Fehlen einer wirksamen Luftverteidigung über dem Luftraum der Ukraine.
Schon jetzt ist zu beobachten, dass russische Flugzeuge in Frontnähe Luftnahunterstützung für die eigenen Bodentruppen in Chassiw Jar leisten, ohne von der ukrainischen Flugabwehr behelligt zu werden.
Die Verteidigung des ukrainischen Luftraums
Die russische Luftwaffe zerstört einen Großteil der Energieversorgungsinfrastruktur im Hinterland, zudem gelingt es der Ukraine nicht mehr, die eigenen Bodentruppen an der Front vor den russischen Bodenkampfflugzeugen zu schützen.
Zu befürchten ist aus Sicht der ukrainischen Verteidiger, dass sie an dem Kipppunkt angelangt ist, an dem sie nicht mehr über eine ausreichende Luftverteidigung verfügt.
Daher wohl auch die Zusage Deutschlands, eine weitere Patriot-Batterie in die Ukraine zu schicken: Die Lage sieht sehr ernst aus.
Der US-Analyst Stephan Bryen kommt zu dem Schluss, dass die Ukraine keine Luftabwehr mehr hat. Jetzt versucht die Nato mit dem Hawk-System, Flugabwehrraketen aus den 1950er-Jahren zu liefern?
Denn selbst wenn die USA sich entschließen sollten, der Ukraine mehr Geld zur Verfügung zu stellen – Patriots könnte sie damit nicht kaufen, denn die Produktionsrate der Raketen ist mit monatlich nur 65 Stück aller Versionen sehr niedrig.
Der Mangel an Raketen
Auch wenn die zusätzliche deutsche Patriot-Batterie der Ukraine helfen könnte, einen kleinen Teil ihres Territoriums besser vor einfliegenden Raketen oder wahlweise einen Frontabschnitt vor russischen Luftangriffen zu schützen – für das große Land bleibt die Übergabe einer einzigen zusätzlichen Patriot-Batterie ein eher symbolischer Akt.
Vermutlich wird damit die Flugabwehr im Raum Kiew verstärkt, um die Hauptstadt vor weiteren Luftangriffen zu schützen.
Die Art und Weise, wie die Nato-Staaten den ukrainischen Streitkräften Flugabwehr zur Verfügung stellen, erscheint dem Autor so, als würde man einem Erfrierenden ein Badetuch geben, mit dem er nur einen kleinen Teil seines Körpers bedecken und schützen kann – aber er wird unweigerlich erfrieren.
Das Problem ist nicht nur der Mangel an Flugabwehrbatterien, also Startsystemen, Radaranlagen, Kommandoeinheiten, sondern der Mangel an Raketen. Die russische Produktion von 250 Raketen pro Monat kann bislang nicht aufgefangen werden, hier verliert der US-amerikanisch dominierte Westen vor allem die Produktionsschlacht.
Die Ukraine hat also die Wahl, entweder strategisch wichtige Ziele und Infrastruktur im Hinterland durch russische Schläge zu verlieren oder die Front fast vollständig von der Luftabwehr zu entblößen.
Beide Alternativen würden die ukrainische Verteidigungsfähigkeit substanziell schwächen.
Technische Weiterentwicklungen beim Angreifer
Insbesondere die von Flugzeugen abgeworfenen russischen Gleitbomben vom Typ FAB/KAB, über die an dieser Stelle bereits mehrfach ausführlich berichtet wurde, machen den ukrainischen Bodentruppen schwer zu schaffen. Russische Ingenieure entwickeln diese ständig weiter, so wurde jetzt von der Produktion eines neuen Modells mit einem Gesamtgewicht von drei Tonnen berichtet.
Nun sollen die UMPK-Gleitrüstsätze mit einem neuen Navigationsmodul ausgestattet worden sein, das acht statt vier Kometa-Satellitenantennen enthält und die Navigation gegen Mittel der elektronischen Kampfführung härtet. Die Gleitbomben werden dadurch zielgenauer und resistenter gegen Störversuche.
Diese technische Entwicklung soll mitverantwortlich dafür sein, dass die Bomben an der Front die ukrainischen Verteidigungsstellungen so schwer getroffen haben.
Die Gleitbomben sind ein zentrales Element der aktuellen russischen Angriffsstrategie: Die massiven Sprengsätze werden metergenau gegen ukrainische Verteidigungsbollwerke eingesetzt. Nachdem diese durch die schweren Explosionen zerstört wurden, rückt die russische Infanterie meist in kleineren Kolonnen von maximal zehn gepanzerten Fahrzeugen vor, um die zerbombten ukrainischen Stellungen zu stürmen.
Dieses Vorgehen scheint für die russischen Streitkräfte nicht nur territorial erfolgreich zu sein, sondern auch das Leben der eigenen Soldaten zu schonen. Auch das der Ukraine nahe stehende Portal Mediazona verzeichnet anhaltend geringe Verluste unter den Angehörigen der russischen Armee - und das trotz des scheinbar unaufhaltsamen russischen Vormarsches.
Die Unterstützung der Nato-Staaten
Die Luftüberlegenheit der russischen Streitkräfte in der Ukraine stellt ein massives Problem dar, das die ukrainische Gesamtverteidigung gefährdet. So zitiert die Fachzeitschrift The War Zone den Nato-Kommandeur Christopher Cavoli:
Mit Blick auf einen möglichen Zusammenbruch der ukrainischen Front, wenn nicht mehr westliche Waffen geliefert würden, "sprechen wir nicht von Monaten. Wir sprechen nicht über eine hypothetische Situation", warnte Cavoli.
The War Zone
Cavoli führt weiter aus, dass es "keine nennenswerten Verluste im Bereich der Luftstreitkräfte, insbesondere der Langstreckenflotte und der strategischen Luftflotte" gegeben habe.
Einiges spricht dafür, dass die russischen Luftstreitkräfte anscheinend weniger als zehn Prozent ihrer Flugzeuge verloren haben. Da die russische Rüstungsindustrie ihre Produktion zugleich hochgefahren hatte, konnten die Verluste wahrscheinlich kompensiert werden.
Die Nato hat in der Ukraine einen erheblichen Teil ihrer Vorräte an modernen Flugabwehrraketen erschöpft, ohne dass sich die Zahl der verfügbaren Einheiten der russischen Luftstreitkräfte verringert hätte.
Zudem sind die Nato-Staaten anscheinend nicht in der Lage, genügend Abwehrraketen zu produzieren, um die Ukraine in die Lage zu versetzen, die verstärkten russischen Raketenangriffe auf Einrichtungen der kritischen Infrastruktur abzufangen.
Alles in allem bedeutet diese Situation wahrscheinlich den baldigen Verlust der Verteidigungsfähigkeit der ukrainischen Streitkräfte gegen die konzentrierten Angriffsbemühungen der russischen Armee.
Der iranische Vergeltungsschlag gegen Israel könnte die Lage für die Ukraine noch erheblich verschärfen. Auch hier kommen Patriot-Raketen zum Einsatz. Der massive iranische Beschuss hat aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer spürbaren Reduzierung des israelischen Arsenals an modernen Flugabwehrraketen geführt.
Bei begrenzter westlicher Produktion bedeutet dies eine Konkurrenzsituation zwischen dem Bedarf der ukrainischen Streitkräfte, der israelischen Armee und der Notwendigkeit der Nato-Armeen, ihre Arsenale wieder aufzufüllen.
Konsequenzen für die ukrainischen Streitkräfte
Noch am Samstag musste der ukrainische Oberbefehlshaber Oleksandr Syrsky einräumen, dass "sich die Lage an der Ostfront in den letzten Tagen deutlich verschlechtert hat".
Ohne eine leistungsfähige Luftabwehr wird sich die Lage an der Front weiter deutlich verschlimmern. Die russischen Streitkräfte werden weiterhin in der Lage sein, die vorhandenen Verteidigungsstellungen durch massive Gleitbombeneinsätze systematisch zu zerstören und dadurch weitere stetige Geländegewinne zu erzielen.
Es ist davon auszugehen, dass die frontnahen ukrainischen Verteidigungsstellungen stärker ausgebaut wurden als diejenigen im rückwärtigen Raum. Wolodymyr Selenskyj hat den Ausbau der Verteidigungsanlagen nicht vorangetrieben.
Daraus lässt sich ableiten, dass sich bei schwächeren Verteidigungsstellungen im Hinterland der Vormarsch der russischen Streitkräfte mit der Zeit und der Überwindung der besser ausgebauten Stellungen in Frontnähe beschleunigen wird. Dies kann einen Kaskadeneffekt auslösen und zumindest zu einem teilweisen Zusammenbruch der Front führen.
Überdies behindern die strategischen Luftangriffe auf dem gesamten Territorium der Ukraine massiv die Regenerationsfähigkeit der ukrainischen Streitkräfte.
Dabei geht die Kriegsmaschinerie der russischen Armee systematisch vor, um dem Gegner Schaden zuzufügen. Die verbliebenen Rüstungsbetriebe müssen mit Produktionseinschränkungen rechnen, die Logistik der Armee wird entscheidend geschwächt, da ein Großteil der Transporte über die elektrische Eisenbahn läuft. Nicht zuletzt dürfte die Energieknappheit zu einer Demoralisierung der Bevölkerung führen.
Trotz der Intensität der russischen strategischen Luftkampagne werden relativ wenig Opfer unter der ukrainischen Zivilbevölkerung gezählt. Zwar wird in westlichen Medien immer wieder berichtet, die russischen Streitkräfte würden zivile Wohnhäuser, Krankenhäuser oder gar Kindergärten bombardieren. Doch mit dem zunehmenden Ausfall der ukrainischen Luftabwehr scheinen die Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung zu sinken.
Eine Bombardierung der Zivilbevölkerung wäre nicht nur militärisch wertlos, sondern würde im Gegenteil die Opferbereitschaft der ukrainischen Bevölkerung erhöhen, was nicht im Interesse der russischen Führung sein kann.
Kommt der Großangriff der russischen Armee?
Tag für Tag, Runde für Runde gelingt es den russischen Streitkräften, die Ukraine weiter zu schwächen, und das bei vermutlich vergleichsweise geringen eigenen Verlusten. Daher bleibt die Frage offen, ob in diesem Jahr tatsächlich mit einer Großoffensive der russischen Armee zu rechnen ist.
Zwar hat die russische Luftwaffe ihre Angriffe etwa auf die ukrainische Großstadt Charkow verstärkt. Die Einnahme der Stadt im Häuserkampf wäre aber vermutlich mit sehr hohen Verlusten für die Angreifer verbunden.
Denkbar wäre stattdessen eine Ausweitung der oben beschriebenen russischen Angriffstechnik mithilfe von Gleitbombeneinsätzen auf den bisher ruhigen Grenzabschnitt zwischen der Oblast Sumy und der weißrussischen Grenze bei gleichzeitiger weiterer systematischer Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur.
Gegenangriffe der ukrainischen Truppen: Welche strategische Wirkung?
Dagegen haben die ukrainischen Gegenschläge gegen russische Rüstungsbetriebe und Einrichtungen der Ölindustrie bisher keine strategische Wirkung entfalten können. Erst wenn sich dies ändert, etwa durch effektive Einsätze gegen Werke der russischen Rüstungsindustrie, könnte die russische Führung gezwungen sein, ihre Angriffsbemühungen zu verstärken. Dies ist jedoch nicht absehbar.
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Systematische Schwächung der Verteidigungs- und Regenerationsfähigkeit der ukrainischen Armee
Daher erscheint es wahrscheinlicher, dass die russischen Streitkräfte den eingeschlagenen Kurs eines langsamen und überlegten Vorgehens der Bodentruppen unter Ausnutzung der überlegenen Feuerkraft, verbunden mit einer systematischen Ausschaltung der strategischen Infrastruktur der Ukraine, beibehalten werden.
Bei diesem Vorgehen gibt es keine großangelegten Truppenmanöver, keine raumgreifenden Eroberungen, keine spektakulären Durchbrüche. Es ist eine systematische Schwächung der Verteidigungs- und Regenerationsfähigkeit der ukrainischen Armee und Industrie, die die Fähigkeit der Ukraine, den Kampf gegen Russland fortzusetzen, zunehmend infrage stellt.