Ukraine-Krieg: Die Schwäche hinter der westlichen Hochtechnologie

Eine russische Selbstfahrlafette auf einer Parade. Bild illustriert die Stärke der russischen Artillerie

152-mm-Selbstfahrlafette 2S35 Koalitsiya-SV. Bild: Vitaly V. Kuzmin /CC BY-SA 3.0 Deed

Besonderheiten und Muster eines Abnutzungskrieges: Welche Schlüsse aus der gegenwärtigen Lage zu ziehen sind. Ein Essay. (Teil 2 und Schluss).

Im ersten Teil dieses Essays haben wir einen Bericht des britischen Royal United Services Institute for Defence and Security Studies (RUSI) vorgestellt: "Die Kriegskunst der Abnutzung: Lehren aus dem russischen Krieg gegen die Ukraine".

Die Studie des britischen Think-Tanks geht recht detailliert auf die Besonderheiten und Muster eines Abnutzungskrieges ein. Der Text erlaubt einerseits Rückschlüsse auf die heutige Situation. Andererseits lassen sich daraus Prognosen für den weiteren Verlauf des Krieges ableiten. Er ist nach Auffassung des Autors dieses Beitrags essenziell, um die Lage in der Ukraine beurteilen zu können.

Ein besonderes Augenmerk richtet der Text auf das industrielle Dispositiv des Westens:

Für westliche Hochtechnologie-Volkswirtschaften ist es schwierig, Masse zu erreichen. Um Hypereffizienz zu erreichen, bauen sie Überkapazitäten ab und haben Mühe, schnell zu expandieren, zumal die nachrangigen Industrien aus wirtschaftlichen Gründen ins Ausland verlagert wurden.

Im Kriegsfall werden die globalen Lieferketten unterbrochen, und Teilkomponenten können nicht mehr gesichert werden. Hinzu kommt der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften mit Erfahrung in einer bestimmten Branche. Diese Fähigkeiten werden über Jahrzehnte hinweg erworben, und wenn eine Branche einmal stillgelegt ist, dauert es Jahrzehnte, bis sie wieder aufgebaut ist.

Der behördenübergreifende Bericht der US-Regierung von 2018 über die industriellen Kapazitäten der USA hat diese Probleme aufgezeigt. Fazit: Der Westen muss sich intensiv mit der Sicherstellung von Überkapazitäten in Friedenszeiten in seinem militärisch-industriellen Komplex befassen, sonst riskiert er, den nächsten Krieg zu verlieren.

RUSI, Kriegskunst der Abnutzung

Russland: Rüstungsindustrielle Überkapazitäten

Russland hat dagegen, auch wenn es unleugbar in der postsowjetischen Zeit eine großflächige Stilllegung in der Rüstungsindustrie gegeben hat, exemplarisch wäre hier das Wolgograder Traktorenwerk zu nennen, große rüstungsindustrielle Überkapazitäten vorgehalten, die keine Entsprechungen in den Nato-Ländern haben.

Der interessierte Leser mag sich allein die bauliche Masse eines Omsktransmash-Werkes oder der Uralvagonzavod-Fabrik anschauen und einen Vergleich mit den beiden einzig verbliebenen Nato-Panzerfabriken wagen.

Interessant ist auch die Analyse des RUSI zu den Bedingungen der neuen Art der Kriegsführung:

Die Artillerie ist dank größerer Reichweiten und fortschrittlicher Zielsysteme gefährlicher geworden, da sie die Ausdehnung des Schlachtfelds vergrößert.

In der Praxis bedeutet dies, dass es einfacher ist, Feuerkraft statt Streitkräfte zu bündeln. Tiefgreifende Manöver, die eine Bündelung der Streitkräfte erfordern, sind nicht mehr möglich, da jede gebündelte Streitkraft durch indirektes Feuer zerstört wird, bevor sie in der Tiefe erfolgreich sein kann.

RUSI

Die Artillerie

Über die Überlegenheit der russischen Artillerie ist von allen Seiten viel berichtet worden. Dazu herrscht weitestgehend Einigkeit. Ein aktueller Bericht des Council on Foreign Relations von Ende April geht mittlerweile von einer russischen Überlegenheit von 10 zu 1 aus.

Interessant sind hier mögliche Ableitungen im Hinblick auf die Ausgestaltung kommender russischer Offensiv-Operationen. Alle Vorhersagen müssen zwingend als spekulativ gekennzeichnet werden und es ist unmöglich, verlässliche Annahmen zu machen.

Der brutale Einsatz von Menschen

Doch aufgrund der Schwierigkeit, Truppen zu massieren, sehen wir bereits jetzt den Einsatz nur weniger Einheiten in Zug-Stärke, unterstützt durch nur wenige gepanzerte Fahrzeuge. Versuche, diese Angriffsoperationen mit dem entmenschlichenden Begriff eines "Fleischangriffs" zu kennzeichnen, dürfen mit gutem Recht als Propaganda gekennzeichnet werden.

Für "Fleischangriffe", also den Angriff mit einer Masse von Soldaten, wie man ihn im Ersten Weltkrieg beobachten konnte, gibt es keine Videobeweise, die auf dem Gläsernen Schlachtfeld zwingend produziert werden würden.

Wesensmerkmal der russischen Kriegsführung

Stattdessen kann man stoßtruppartige Vorstöße sehen, die auf russischer Seite unterstützt werden durch überlegene Feuerkraft, vor allem durch Artillerie, Raketenartillerie und Gleitbomben. Diese Unterstützung durch überlegene Feuerkraft ist ein Wesensmerkmal der russischen Kriegsführung in der Ukraine, ohne die der russische Vormarsch unter vermutlich vergleichsweise geringen Eigenverlusten nicht zu erklären ist.

Ein daraus zu ziehender Schluss für die russischen Operationen in diesem Jahr wäre, dass die Armee wahrscheinlich keine Großoffensive auf ein bestimmtes Ziel unternehmen wird, wie das etwa eine vermutete Offensive auf die Großstadt Charkiw (russ. Charkow) wäre. Da dies eine große Konzentration von Truppen auf engstem Raum erfordern würde.

Das Ausrollen einer Kriegsmaschine

Wahrscheinlicher erscheint das Auseinanderziehen der eigenen Kräfte in den Raum, über die ganze verfügbare Länge der Kontaktlinie, um eine Vielzahl von Niedrigintensitäts-Vormarschräumen zu schaffen, die zum einen die Kräfte der Ukraine überdehnen und zum anderen die Möglichkeiten der Bekämpfung russischer Truppenkonzentrationen beschränken oder verhindern.

Anders ausgedrückt: Das Ziel eines Angriffes ist von geringer Relevanz. Es geht um das Ausrollen einer überlegenen Kriegsmaschine, die den Zweck hat, der gegnerischen Streitkraft deutlich mehr Schaden zuzufügen, als man selber erleidet.

Das bedeutet eine Absage an das Erreichen von Zielen, die mit starken Emotionen verbunden sind, wie das etwa die Kerch-Brücke oder gar die Rückeroberung der Krim darstellen würden.

Die Publikation scheint diese Aussage zu unterstützen:

Zu Beginn der zweiten Phase sollte die Offensive auf breiter Front erfolgen, wobei versucht wird, den Feind an mehreren Punkten mit leichten Angriffen zu überwältigen. Das Ziel ist es, innerhalb der geschichteten Blase der freundlichen Schutzsysteme zu bleiben und gleichzeitig die erschöpften feindlichen Reserven zu dehnen, bis die Front zusammenbricht.

RUSI

Der Text führt die Methodik des Abnutzungskrieges weiter aus:

Ein erfolgreicher Abnutzungskrieg konzentriert sich auf die Erhaltung der eigenen Kampfkraft. Dies bedeutet in der Regel eine relativ statische Front, die durch begrenzte lokale Angriffe zur Verbesserung der Stellungen unterbrochen wird, wobei der Großteil der Kämpfe mit Artillerie geführt wird.

Der Schlüssel zur Verlustminimierung liegt in der Fortifikation und Tarnung aller Kräfte einschließlich der Logistik. Die lange Zeit, die der Bau von Befestigungen in Anspruch nimmt, verhindert eine nennenswerte Bewegung am Boden. Eine angreifende Truppe, die sich nicht schnell verschanzen kann, wird durch feindlichen Artilleriebeschuss erhebliche Verluste erleiden.

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Die Notwendigkeit von Befestigungsanlagen

Das haben die russischen Streitkräfte, die immer noch weiter Befestigungsanlagen bauen, tatsächlich lehrbuchmäßig befolgt. Statt sich in einer riskanten Offensive zu verschleißen, bauten russische Ingenieure starke Befestigungen, an denen eine ganze ukrainische Armee in einem Ausmaß zermürbt wurde, das eine weitere Offensive Kiews auf Jahre hinaus unmöglich machen wird.

Die ukrainische Führung hat es dagegen versäumt, Befestigungen zu bauen, was sich nun zu einer militärisch existenziellen Katastrophe auswachsen kann. In einem neuen Artikel berichtet die Associated Press von kaum existenten Auffangstellungen, nachdem sich die ukrainischen Streitkräfte unter russischem Druck aus den seit fast zehn Jahren befestigten Stellungen zurückziehen mussten.

Der an dieser Stelle häufig angesprochenen Kaskadeneffekt könnte jetzt kurz bevorstehen. Dabei handelt es sich um das unkontrollierte Zurückziehen der Verteidigungstruppe, die weitere Rückzugsbewegungen nach sich ziehen, weil Auffangstellungen interdependent sind: Die eine Stellung schützt die andere, Verteidigungsstellungen sind Systeme von Abhängigkeiten.

Der Möglichkeitsraum der Nato

Das westliche Bündnis, die Nato, hätte theoretisch zwar die industrielle Kapazität, einen Abnutzungskrieg möglicherweise für sich entscheiden zu können. Allerdings hat man in den betreffenden Ländern in großem Ausmaß industrielle Kapazitäten abgebaut und besonders vorgelagerte Produktionsketten, also die Herstellung einfacher Massengüter, in Regionen ausgelagert, die nicht dem Nato-Raum zuzuordnen sind.

Der Wiederaufbau einer industriellen Basisproduktion und das Umstellen auf eine Kriegswirtschaft würde aber Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, dauern. Zudem dürfte das Mobilisierungspotential einer SPD/FDP/Grünen-Wählerschaft zweifelhaft sein. Denn es ist eine Sache, in den gemütlichen Stuben einer wohlstandssaturierten Gesellschaft über Krieg zu reden, selbst in den Krieg zu ziehen, eine ganz andere.

Zudem gibt es ein Faktor, der in den Betrachtungen oft ungenannt bleibt. Und dieser Faktor heißt China.