Dezentraler Protest für die katalanische Unabhängigkeit

Leere Ramblas in Barcelona. Foto: Ralf Streck

Angesichts der Coronaviruskrise verzichtet die Unabhängigkeitsbewegung auf Massenproteste verteidigt aber das Demonstrationsrecht mit zahlreichen Versammlungen

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Es ist eigenartig still in diesen Tagen in der katalanischen Metropole Barcelona, da die Coronaviruskrise die Tourismussaison im gesamten spanischen Staat verhagelt hat - auch in Katalonien. Und in diesem Jahr verhindert die Pandemie, obwohl Katalonien die zweite Welle wieder weitgehend im Griff hat, dass die Unabhängigkeitsbewegung, anders als noch im letzten Herbst, ihre riesigen Proteste zum katalanischen "Feiertag" (Diada) durchführen kann.

"Wir wollen nun keine Massenversammlungen", erklärt die Präsidentin des großen Katalanischen Nationalkongresses (ANC), Elisenda Paluzie, vor dem Nationalfeiertag am heutigen Freitag angesichts der Coronavirus-Situation.

Ihr ANC steht federführend hinter den Protesten, bei denen sich an jedem 11. September üblicherweise mehr als eine Million mehr Menschen in den Straßen Barcelonas drängeln. Demonstrationen will sich der ANC aber auch in diesem Jahr nicht nehmen lassen. Schließlich geht es auch darum, Grundrechte zu verteidigen, da man Demonstrationen nicht verbieten kann.

"Wir wollen das Demonstrationsrecht verteidigen und eine klare politische Aussage für die Unabhängigkeit machen", fügt Paluzie an. Man werde "sicher und verantwortungsvoll" sein. "Es ist ein sehr wichtiger Tag, um die Unabhängigkeit zu fordern", betonte die ANC-Präsidentin.

Der ANC hat mit der Kulturorganisation Òmnium Cultural, dessen Präsident Jordi Cuixart seit fast drei Jahren wegen der Durchführung eines Referendums inhaftiert ist, und der Vereinigung der Gemeinden für die Unabhängigkeit (AMI) deshalb dezentral in Städten, Dörfern und Stadtteilen mehr als 100 Versammlungen organisiert. "Unsere Pflicht ist, eine bessere Zukunft zu schaffen", lautet das Motto.

"Das Recht unabhängig zu sein", ist dabei von zentraler Bedeutung. Da der ANC eine basisdemokratische Organisation ist, bestimmt jede Ortsgruppe den Protestort selbst. Im Rahmen der tiefen Wirtschaftskrise, die Spanien wie kein anderes europäisches Land getroffen hat, ist die soziale Frage nun auch am Nationalfeiertag viel deutlicher sichtbar.

Solche Massenproteste wie im vergangenen Jahr wird es 2020 nicht geben. Foto: Ralf Streck

Die Proteste finden unter strengen Sicherheitsvorkehrungen statt. Die Zugänge zu den Orten werden kontrolliert und man musste sich im Vorfeld zur Teilnahme einschreiben. So wird der Abstand von zwei Metern garantiert.

Insgesamt werden fast 50.000 Menschen unbeweglich demonstrieren, etwa 10.000 in Barcelona. Versammlungen finden hier zum Beispiel vor dem Gebäude der Sozialversicherung, der Niederlassung der spanischen Zentralbank oder dem Finanzamt und vor Arbeitsämtern statt. Damit soll auf die extreme Lage auch in Katalonien hingewiesen werden.

Paluzie ruft die Bevölkerung zudem auf, sich um 17 Uhr 14 auf die Balkone zu begeben, um in diesem Moment gemeinsam zu protestieren. Stets bildet die Uhrzeit den Höhepunkt der Diada-Proteste. Denn erinnert wird daran, dass im Jahr 1714 am 11. September mit dem Fall Barcelonas Katalonien unter die Herrschaft der spanischen Krone fiel. Die wird nun - angesichts der massiven Korruptionsvorwürfe eines vom Diktator Franco eingesetzten Königs, der ins Exil in die arabischen Wüsten geflohen ist - auch in Spanien immer stärker kritisiert.

Schwierige Lage, gespaltene Parteien

Auch politisch ist die Lage derzeit so schwierig wie seit dem Unabhängigkeitsreferendum nicht mehr. Die Parteien, die für die Unabhängigkeit eintreten, sind in der Frage gespalten, wie das Ziel zu erreichen ist. Die Republikanische Linke (ERC) unterstützt die sozialdemokratische spanische Regierung in der Hoffnung auf einen Dialog, den Regierungschef Pedro Sánchez versprochen hatte.

Der kam aber nie wirklich in Gang. Über ein Referendum zu verhandeln, so zivilisiert vereinbart wie zwischen Schotten und Briten, kommt dem repressiven Madrid ohnehin nicht in den Sinn. Ein zaghafter Beginn wurde sehr schnell wieder aufgegeben. Die Covid-Pandemie war nur eine Ausrede für Madrid, da man dort, egal wer gerade regiert, an einem Dialog kein reales Interesse hat.

Nun macht Sánchez erneut Versprechungen, er hat am Montag plötzlich sogar den katalanischen Regierungschef Quim Torra angerufen, da er die Stimmen der ERC im Madrider Parlament braucht. Nur mit ihnen kann er seinen Haushalt für 2020 vielleicht doch noch beschließen, um nicht noch einmal den der konservativen Vorgänger verlängern zu müssen.

Erst im vergangenen Jahr ist er darüber gestürzt, dass er wegen seiner notorischen Dialogverweigerung keinen Haushalt zustande bekam. Nun ist das für die "Linksregierung" noch wichtiger, da damit vor allem die 140 Milliarden Euro eingebunden werden können, die aus Europa an Corona-Hilfen nach Spanien fließen - erstmals der Großteil als Zuschüsse und nicht als Kredite.

Doch weder die linksradikale CUP noch die Formation um den Exil-Präsidenten Carles Puigdemont glauben an diesen Dialog mit Spanien und setzen auf einen Kurs der demokratischen Konfrontation. Ohnehin lässt auch die spanische "Linksregierung" Entspannungsgesten wahrlich vermissen und auch sie setzt weiter auf Repression und "Lawfare".

Politisierte Justiz

So war es das Ministerium für Staatsanwaltschaft, das mit Einsprüchen dafür gesorgt hat, dass ehemaligen inhaftieren Mitgliedern der Puigdemont-Regierung gewährter Freigang wieder gestrichen wurde. Dabei ist auch der ERC-Chef Oriol Junqueras. Nach Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH)müsste der im Europaparlament statt im Knast sitzen, da er Immunität genießt.

Klarer kann man kaum die Existenz von politischen Gefangenen deutlich machen. Dass Spanien mit erfundenen Anschuldigungen missliebige Politiker wegsperrt, musste nach einem Urteil des Straßburger Menschenrechtsgerichtshof auch der Oberste Gerichtshof anerkennen und sein eigene Urteil kassieren.

Leere Ramblas in Barcelona. Foto: Ralf Streck

Da die politisierte Justiz in Spanien aber weiter ihr Unwesen treiben kann, stehen in Katalonien vermutlich auch bald Neuwahlen an. Mit größter Wahrscheinlichkeit wird eben der politisierte Oberste Gerichtshof wieder einmal eine absurde Strafe verhängen, die in Straßburg kaum Bestand haben kann.

Denn man will den katalanischen Regierungschef Torra mit Amtsverbot belegen, da er "ungehorsam" gegenüber Anordnungen der Wahlbehörde gewesen sei. Allein dafür, dass er ein Transparent für die "Freiheit der politischen Gefangenen" nicht abgehängt hat, soll ein gewählter Präsident aus dem Amt gejagt werden...

Auch für hochrangige spanische Verfassungsrechtler ist längst klar, dass hier ein "juristischer Krieg" geführt wird. Sie streichen heraus, dass es der Wahlrat ist, der sich Kompetenzen anmaßt, die er nach der Verfassung nicht hat. Über die Revision des Amtsverbots in der ersten Instanz wird am 17. September entschieden.

Es ist zu erwarten, dass sich die Proteste trotz Covid dann ähnlich zuspitzen könnten wie nach der absurden Verurteilungen von katalanischen Politikern zu langen Haftstrafen wegen Aufruhr vor einem Jahr, weil sie ein friedliches Referendum durchgeführt haben.

Vor den Wahlen ordnet sich auch das politische Lager neu. Puigdemont hat aus dem belgischen Exil den Austritt aus seiner bisherigen Partei PdeCat verkündet, die aus der Christdemokratie hervorging. Er verwandelt seine bisherige Koalition "Gemeinsam für Katalonien" (JxCat) derweil in eine breit aufgestellte Partei und verabschiedet sich von Bremsern.

Für JxCat kandierten schon bisher, wie bei den spanischen Parlamentswahlen auch viele unabhängige Kandidaten wie Laura Borràs oder auch ausgewiesene Linksradikale wie Roger Roger Español.