EZB: Leitzinsen viel zu spät erhöht

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Getrieben durch eine sehr hohe Inflation und starken öffentlichen Druck muss die Notenbank die Nullzinspolitik aufgeben und hebt den Leitzins erstmals seit zwei Jahrzehnten um 0,5 Punkte an.

"Im Einklang mit dem starken Bekenntnis des EZB-Rats zu seinem Preisstabilitätsmandat hat der EZB-Rat heute weitere wichtige Schritte ergriffen, um sicherzustellen, dass die Inflation mittelfristig auf seinen Zielwert von zwei Prozent zurückkehrt", hat die Europäische Zentralbank (EZB) nach der Zinssitzung am Donnerstag erklärt.

Diese Äußerungen dürfen angesichts der offiziellen und aufgehübschten Inflationsrate im Euroraum von 8,6 Prozent wahrlich – wieder einmal - als EZB-Realsatire aufgefasst werden. Der EZB-Rat sei, nachdem er dem bunten Treiben einer ständig steigenden Inflation lange tatenlos zugeschaut hatte, die in einigen Ländern sogar schon an der Marke von 20 Prozent oder sogar darüber liegt, nun zur Einschätzung gelangt, "dass im Zuge seiner Leitzinsnormalisierung ein größerer erster Schritt angemessen ist als auf seiner letzten Sitzung signalisiert".

Lagarde: Schonung von verschuldeten Staaten

Beschlossen wurde unter anderem, "den Leitzins um '50 Basispunkte' von 0 auf 0,5 Prozent anzuheben", erklärt die Notenbank. Die Minuszinsen, die von Banken für geparkte Einlagen bei der EZB verlangt wurden, sind ebenfalls um 0,5 Punkte erhöht und damit nun auf 0 Prozent festgesetzt worden. Sie waren dafür verantwortlich, dass sogar Sparern für Einlagen bei Banken mit Strafzinsen bedacht und noch stärker enteignet wurden.

Alle Versuche der EZB unter Führung der Französin Christine Lagarde sind nun gescheitert, den Leitzins im Euroraum weiter so tief wie möglich zu halten, um die ausufernden Staatsschulden weiterhin über die Inflation zu verringern. Denn das, so muss man angesichts der Entwicklung seit mehr als einem Jahr konstatieren, war offensichtlich das nicht erklärte, aber reale Ziel der Lagarde-EZB.

Lagarde hatte dabei natürlich vor allem ihre hochverschuldete eigene Heimat vor Augen, wo man sehenden Auges auf verschiedenen Ebene in die Katastrophe rast, wie im Energiesektor. Dort hat das Land mit dem abstürzenden Atom-Stromkonzern EDF neue Milliardenschulden und riesige Verbindlichkeiten für Modernisierung von Uralt-Meilern, Neubauten, Rückbauten und Endlagerung in den kommenden Jahrzehnten über die Verstaatlichung übernommen, um das Märchen vom angeblich billigen Atomstrom weitererzählen zu können.

Enteignung der Sparer

Die teilweise Entschuldung der Schuldenstaaten wurde schon zum Teil über die immer schnellere Enteignung von Sparern erreicht. Die Unterschicht wird dabei gleichzeitig in die Verelendung gestürzt, da ihre Inflation deutlich höher ist. Arme Menschen müssen einen besonders hohen Anteil des verfügbaren Geldes für Energie und Lebensmittel ausgeben.

Energie hat sich im Jahresvergleich um 42 Prozent und unverarbeitete Lebensmittel schon um mehr als elf Prozent verteuert. Dass aber das unerklärte EZB-Ziel zum Teil erreicht wurde, kann man auch bei der europäischen Statistikbehörde nachlesen. Eurostat hat gerade am gestrigen Donnerstag vermeldet: "Rückgang des öffentlichen Schuldenstands im Euroraum auf 95,6 Prozent des BIP."

Das bedeutet natürlich nicht, dass sich die Schulden real verringert hätten. Nominal sind die Schulden nämlich gerade mit der Corona-Krise und den Bekämpfungsmaßnahmen noch deutlicher weiter ausgeufert. Real ist der Schuldenstand im Euroraum allein im vergangenen Jahr um eine weitere halbe Billion Euro auf nun fast 12 Billionen Euro angewachsen, wie bei Eurostat auch nachzulesen ist.

Durch eine hohe Inflation und durch das bisherige Wachstum wurde nur das Verhältnis zwischen Staatsschulden und der jährlichen Wirtschaftsleistung (BIP) der Staaten geringer. Die Staatsschuldenquote lag vor einem Jahr noch bei 100 Prozent und ist über die hohe Inflation auf 95,6 Prozent gesunken. Weginflationieren nennt man den Vorgang.

Worin besteht die Überraschung?

Doch angesichts der Tatsache, dass sich die ohnehin aufgehübschte offizielle Inflationsrate statt um die Zielmarke von zwei Prozent bewegt, längst auch offiziell auf 8,6 Prozent bei steigender Tendenz angeschwollen ist, war die Largarde-EZB angesichts immer heftigerer Kritik gezwungen, den Fuß vom Bremspedal zu nehmen. Allerdings meinen viele Beobachter nun, sie habe die Zinsen "überraschend deutlich", wie die Tagesschau und andere Leitmedien wie Die Zeit berichten.

Überraschend ist eigentlich nur, dass die Zinsen nicht schon vor etlichen Monaten angehoben wurden, wie es Notenbanken wie die Bank of England (BoE), die US-Notenbank FED oder die norwegische Zentralbank längst getan hatten.

Überraschend ist angesichts der Tatsache eigentlich nur, dass die Anhebung nur 0,5 Prozent beträgt. Tatsächlich hat die EZB die desaströse Entwicklung entweder verschlafen oder es handelt sich – was viel wahrscheinlicher ist – um einen bewussten Vorgang, wie oben beschrieben wurde.

Zu erwähnen ist, dass die FED, die ebenfalls viel zu lange geschlafen hat, die Zügel deutlich angezogen hat. Die Anleihekäufe wurden komplett eingestellt und zuletzt hat die FED im Mai einen großen Schluck aus der Pulle genommen. Sie hob den Leitzins in einem Schritt sogar um 0,75 Prozentpunkte auf eine Zinsspanne von nun 1,5 bis 1,75 Prozent an. Ausgeschlossen ist nicht, dass am kommenden Donnerstag sogar ein noch größerer Zinsschritt folgt, um effektiv etwas gegen die Inflation zu tun.

Eigentlich hatte die Lagarde-EZB nur eine homöopathische Abkehr von der Nullzinspolitik geplant, die noch wirkungsloser bleiben sollte, wie der nun vorgenommene Zinsschritt. Im Juli ließ man nach der Zinssitzung des EZB-Rats durchblicken, dass der Leitzins erstmals nach mehr als 10 Jahren zwar wieder erhöht werden sollte, allerdings nur um 0,25 Prozentpunkte.

Wie geht es mit Anleihenkäufen weiter?

Gestrafft werden sollte – eigentlich – auch die Geldpolitik insgesamt deutlich. Das Ankaufprogramm für Staatsanleihen sollte aber nur angeblich eingestellt werden.

Tatsächlich sollten fällig werdende Anleihen noch mindestens bis 2024 wieder in neue Ankäufe reinvestiert werden, also neue Anleihen gekauft und die Bilanzsumme nicht verringert werden.

Über die Anleihekäufe ließ die EZB die Druckerpressen nun seit fast 14 Jahren auf Hochtouren laufen. Sie verursachte darüber die Geldschwemme, die sich über kurz oder lang in einer hohen Inflation ausdrücken muss. Es bedarf nur eines Anlasses, der als Katalysator wirkt. In diesem Fall waren es die unterbrochenen Lieferketten, die das Angebot weiter verringert haben, um den Vorgang in Gang zu setzen oder zu beschleunigen.

Und anders als die FED zum Beispiel, wurde in der EZB in all den Jahren nach der Finanzkrise die sogar angekündigte sogenannte Zinsnormalisierung nämlich nie eingeleitet. Das zeigt, dass die EZB seit 14 Jahren im Krisenmodus in die Sackgasse gefahren ist, da sie sich von der Kernaufgabe verabschiedet hat, für Geldwertstabilität zu sorgen, stattdessen vor allem Konjunkturpolitik macht.

Dass der Ukraine-Krieg für die sehr hohe Inflation verantwortlich ist, ist ein Märchen. Das erzählen die EZB und viele sogenannte Qualitätsmedien immer wieder, um von der völlig verfehlten Geldpolitik abzulenken. Denn die Fakten sehen anders aus.

Schon im vergangenen November, also mehr als drei Monate vor dem Kriegsausbruch, der nicht einmal absehbar war, lag die von der deutschen Statistikbehörde Destatis noch stärker aufgehübschte Inflationsrate offiziell bei 5,2 Prozent. Eurostat bezifferte sie sogar schon auf sechs Prozent. Natürlich treibt auch der Krieg die Inflation weiter an, aber eher in geringerem Umfang, sonst wäre sie längst auf offiziell deutlich höher als 8,6 Prozent.

Allerdings ist die EZB in der Frage der Anleihekäufe ohnehin schon wieder auf einer Notfallsitzung zurückgerudert, als die die Zinsen für Staatsanleihen für die Schuldenländer wie Italien, Frankreich, Griechenland und Spanien sofort wieder in die Höhe gingen.

Denn, wie oben ausgeführt, ist die Schuldensumme real gestiegen, weshalb die Euro-Schuldenkrise bei steigenden Renditen für Staatsanleihen noch schneller auf die Tagesordnung rücken würde. Da man die lockere Geldpolitik nie aufgegeben hatte, kann der EZB-Junkie nun trotz steigender Zinsen weiterhin nicht von dem gefährlichen Stoff lassen.

Das neue Werkzeug TPI

So wurde von ergänzend zur Zinsanhebung ein neues Krisen-Anleihekaufprogramm geschaffen, was man natürlich nicht so nennt, sondern euphemistisch "Instrument zur Absicherung der Transmission (Transmission Protection Instrument – TPI)" umschreibt.

Darüber kann die EZB die Schuldenstaaten bei Turbulenzen am Anleihenmarkt weiter mit Stützungskäufen herauskaufen, statt endlich einmal darauf zu drängen, dass die Schulden zurückgefahren werden.

Allerdings sind damit nicht die üblichen neoliberalen Sparmaßnahmen gemeint, mit der die breite Masse geschröpft wird, sondern die Steuerhinterziehung und -Vermeidung effektiv zu bekämpfen, für eine richtige Besteuerung von Firmen und denen zu sorgen, die stark von der Geldschwemme und der Krise profitiert haben. Eine Übergewinnsteuer von 25 Prozent, wie sie Italien unter anderem gerade eingeführt hat, ist die Lösung nicht. Sie konsolidiert inflationstreibende Extragewinne im Umfang von 75 Prozent nur.

Das neue Werkzeug TPI soll nach Angaben von Lagarde dabei helfen, dass es kein Auseinanderlaufen der Finanzierungskosten der einzelnen Euro-Staaten kommt, womit ein Korrektiv weiter ausgehebelt und die illegale Staatsfinanzierung fortgesetzt wird.

Lagarde fabuliert dabei euphemistisch, dass das TPI sicherstellen werde, dass die Transmission des geldpolitischen Kurses in allen Ländern des Euroraums reibungslos erfolge. "Die Einheitlichkeit unserer Geldpolitik ist eine Voraussetzung dafür, dass die EZB ihr Preisstabilitätsmandat erfüllen kann."

Allerdings hat die Notenbank schon unter ihrem Vorgänger Mario Draghi das Mandat längst nicht mehr erfüllt. Nach Angaben der EZB-Chefin könne jedes Land der Euro-Zone im Prinzip in den Genuss der verdeckten Staatsfinanzierung kommen. Der Umfang von neuen Anleihekäufen im Rahmen des TPI hänge von der Schwere der Risiken für die geldpolitische Transmission ab, ließ sich eine frei jonglierende Lagarde, die besser gestern schon hätte geschasst werden sollen, wieder einmal alles offen.

"Die Ankäufe sind nicht von vornherein beschränkt", erklärt sie erneut den Satz von Draghi, dass man alles Erforderliche tun wolle, um den Euro zu retten. Nur ist man jetzt schon viel weiter in die Knautschzone vorgedrungen.

Das TPI solle den Transmissionsmechanismus absichern und dem EZB-Rat dadurch eine effektivere Erfüllung seines Preisstabilitätsmandats ermöglichen, schwurbelt die EZB-Chefin weiter nebulös herum. Das TPI sei für spezielle Situationen und Risiken geschaffen worden, die jeden Staat treffen könnten, was auch wieder falsch ist. Der EZB-Rat werde bei Bedarf darüber entscheiden, ob das Programm für ein Land aktiviert werde. "Der EZB-Rat möchte es eigentlich nicht einsetzen, aber wenn wir das nutzen müssen, werden wir nicht zögern", betonte Lagarde.

Daran besteht ausnahmsweise einmal kein Zweifel. Denn für eine verdeckte Staatsfinanzierung ist die Lagarde-EZB immer bereit. Hatte sie als Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) von Ländern im Globalen Süden – oder auch von Griechenland – immer drakonische Maßnahmen gefordert, die vor allem die einfachen Menschen hart treffen und zum Teil Hungerrevolten hervorgerufen haben, fasst sie Schuldenländer wie Italien, Spanien oder ihre französische Heimat mit Samthandschuhen an.

Wer glaubt, dass mit diesen lächerlichen Maßnahmen die Inflation real bekämpft oder eine neue die Schuldenkrise verhindert wird, liegt ziemlich schief. Bisher haben die deutlichen Anhebungen der Leitzinsen und das Ende der Anleihekäufe in den USA nur zu einer Dämpfung geführt. Da aber massiv Kapital wegen der verfehlten EZB-Politik in andere Währungsräume wie nach Großbritannien, USA, Schweiz … aus der EU abfließt, drückt das den Euro in immer tiefere Gefilde. Die Parität ist, wie von Telepolis erwartet, längst erreicht.

Das bedeutet, wie wir ausführlich ausgeführt haben, dass Energie für uns auch deshalb inflationstreibend teurer wird, wenn der Ölpreis wie zuletzt wegen Rezessionssorgen fällt. Man kann nur wiederholen, was Experten immer wieder erklärt haben. So hatte der ehemalige Chefvolkswirt der Deutschen Bank längst vor den heftigen "Konsequenzen" dieser EZB-Politik gewarnt. Thomas Mayer erklärte richtig: "Je länger man das Problem verschleppt, desto härter werden die Konsequenzen."

Da man seit vielen Jahren in der EZB die Probleme nicht auf einen Lösungsweg bringt, einfach im Krisenmodus weiter wurstelt, dürfte die Lage im Euroraum demnächst sehr ungemütlich werden. Sollte dazu die verfehlte Energiepolitik, weil man sich im Schlepptau der USA in einen Krieg hineinziehen ließ, dazu führen, dass Russland den Gashahn zudreht, dann droht nicht nur die Stagflation wie in den 1970er Jahren, sondern dann wird es noch deutlich ungemütlicher.

Der perfekte Sturm braut sich seit etlichen Monaten zusammen. Und wer diese Zeilen nun so missinterpretiert, dass hier Lohnverzicht gepredigt wird, um eine ständig heraufbeschworene "Lohn-Preis-Spirale" zu verhindern, der oder die liegt auch falsch. Bekanntlich haben in der letzten Stagflationsphase hohe Lohnabschlüsse sogar stabilisierend auf die Wirtschaft gewirkt.