Nach Druck von Balten und Polen: EU-Kommission beschließt Boykott der Ratspräsidentschaft von Ungarn
In einmaligem Vorgang wird EU-Führung kaltgestellt. Budapest reagiert empört. Ist das der Beginn einer Lex Putin in Brüssel?
In einem bisher ungewöhnlichen diplomatischen Akt hat die EU-Kommission unter Vorsitz von Ursula von der Leyen entschieden, die Teilnahme an informellen Ministertreffen in Ungarn herabzustufen.
Als Reaktion auf nicht abgestimmte Auslandsreisen des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán während der laufenden EU-Ratspräsidentschaft Ungarns werden keine Kommissarinnen oder Kommissare entsandt, sondern lediglich ranghohe Beamte. Ein symbolträchtiger Schritt, der die Kluft zwischen der Europäischen Union und der Regierung in Budapest deutlich macht.
Ursula von der Leyen reagiert auf Orbáns Außenpolitik
Die Reaktion der EU-Kommission folgt auf eine Reihe von eigenmächtigen Reisen Orbans, darunter Treffen mit Russlands Präsident Putin und Chinas Staatschef Xi Jinping, sowie mit dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump.
Insbesondere der Besuch in Moskau während des Ukraine-Konflikts, den Orban als "Friedensmission" deklarierte, stieß auf großes Unverständnis innerhalb der EU. Es wird kritisiert, dass Orban dabei nicht die gemeinsame EU-Position vertreten habe und der Kreml den Besuch für Propagandazwecke genutzt habe.
Debatte um Konsequenzen für Ungarn
Die Entscheidung von der Leyens, die von ihrem Sprecher Eric Mamer in den tagesthemen vom 15. Juli 2024 bekannt gegeben wurde, bis dahin aber in keinem der offiziellen Internetauftritte kommuniziert wurde, ist nicht die einzige Konsequenz, die aus Orbáns Handlungen gezogen wurde. Schweden und Litauen haben bereits angekündigt, keine Minister mehr nach Ungarn zu entsenden.
Andere Länder wie Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen scheinen ähnliche Schritte zu erwägen. In Brüssel wird derzeit darüber diskutiert, ob ein geplantes Ministertreffen Ende August von Budapest nach Brüssel verlagert werden sollte.
Ungarn zeigt sich empört
Ungarns Regierung reagierte empört auf die Entscheidung von der Leyens und hinterfragte über den Minister für EU-Angelegenheiten, Janos Boka, die Objektivität der Kommissionsbeschlüsse. Die Kritik aus Budapest lässt vermuten, dass die Spannungen zwischen der EU und Ungarn weiter zunehmen könnten.
Von der Leyens Wahl steht bevor
Diese diplomatische Geste erfolgt kurz vor einer wichtigen Abstimmung über von der Leyens zweite Amtszeit im Europaparlament. In der Vergangenheit hatte sie Druck aus den Reihen der Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen verspürt, eine härtere Linie gegenüber Ungarn zu fahren. Die Unterstützung dieser Parteien ist für von der Leyens Wiederwahl entscheidend.
Die Entwicklungen rund um den Boykott und die damit verbundene problematische Entscheidung der EU-Kommission werfen Fragen nach den Auswirkungen auf die Einigkeit innerhalb der EU auf. Die Spannungen, die durch Ungarns unkoordiniertes Vorgehen entstanden sind, bergen das Risiko, die Geschlossenheit und die Außenwirkung der Union zu schwächen.
Schon vor der Entscheidung von der Leyens hatte sich bei der EU, die im Kampf gegen Russland Geschlossenheit demonstrieren möchte, neuer Streit abgezeichnet. Baltische und polnische Politiker kündigen als Reaktion auf Viktor Orbáns Reise nach Kiew, Moskau und Peking an, keine Minister nach Budapest zu entsenden.
EU-Gipfel ohne Minister
Laut Informationen des Nachrichtenportals Euractiv, auf das sich lettische Medien berufen, trafen sich Vorsitzende der EU-Fraktionen am 11. Juli in Brüssel, um sich über ihr Vorgehen gegen Orban abzustimmen.
Baltische und polnische Politiker sind entschlossen, Ungarns Ratspräsidentschaft zu boykottieren, vielleicht sogar ihr vorzeitiges Ende herbeizuführen. Ihre Regierungen werden voraussichtlich keine Minister zu EU-Gipfeln nach Budapest senden. Nur nachrangiges Personal wird sie in der ungarischen Hauptstadt vertreten.
Dieser Position schlossen sich auch die Fraktionsführer Schwedens, Finnlands und weiterer Staaten an. Ihrer Auffassung nach nutze der ungarische Ministerpräsident die Ratspräsidentschaft für eigene Ziele und repräsentiere nicht die EU. Die EU-Abgeordneten sind sich mit Kollegen in den nationalen Parlamenten einig.
Zigimants Pavilonis, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des litauischen Parlaments, kommentierte laut LSM, dass Orbáns Verhalten nicht nur inakzeptabel sei, es verstoße auch gegen mehrere politische Übereinkünfte auf höchster Ebene, "etwa die Nichtzusammenarbeit mit dem Putin-Regime, was sogar auf der Ebene des Europäischen Rates akzeptiert wurde".
Restriktive Maßnahmen statt Verhandlungen
Bereits vor dem russischen Angriff im Februar 2022 blockierten Balten und Polen diplomatische Versuche, sich mit Russland zu einigen. Auf einem EU-Gipfel in Brüssel im Juni 2021 beabsichtigten Angela Merkel und Emmanuel Macron, sich wegen der zunehmenden Konflikte mit Wladimir Putin zu treffen; doch Balten und Polen widersetzten sich.
Stattdessen vereinbarten die EU-Regierungschefs das Gegenteil, nämlich "die Notwendigkeit einer entschlossenen und koordinierten Reaktion der EU und ihrer Mitgliedstaaten auf jede weitere böswillige, rechtswidrige und disruptive Aktivität Russlands", das bedeutete schon damals "restriktive Maßnahmen, einschließlich Wirtschaftssanktionen". Auch in den späteren Phasen der Eskalation lehnten die Osteuropäer Verhandlungen strikt ab.
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Kurz vor dem russischen Angriff am 10. Februar 2022 traf sich Olaf Scholz mit den baltischen Ministerpräsidenten im Berliner Kanzleramt, um die brenzlige Lage zu erörtern. Die damalige estnische Regierungschefin Kaja Kallas meinte damals, dass Russland versuche, in die Zeit vor der Nato-Osterweiterung zurückzukehren, als das Denken in Einflusssphären das bestimmende Prinzip gewesen sei.
Sie verdächtigte den Kreml, eine neue Mauer errichten zu wollen. Auch forderte sie, gegenüber Russland keinerlei Zugeständnisse zu machen, solange "man uns das Gewehr an die Brust" halte. Damals hatte sich russisches Militär schon an der ukrainischen Grenze postiert und die russische Propaganda sprach von Manövern.
Aus baltischer Sicht bedeutet das Wort "Sicherheit" ausschließlich militärisches, nämlich Aufrüstung, Abschreckung, Nato. Wladimir Putins Verhandlungsforderung, die Nato-Osterweiterungen zur Debatte zu stellen, erschien den Osteuropäern als Bedrohung dessen, was sie unter "Sicherheit" verstehen.
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Hier sind historische Erfahrungen im Spiel. 1940 hatten diese Länder, auf sich allein gestellt, keine militärischen Mittel zur Verfügung, sich gegen die sowjetische Okkupation zur Wehr zu setzen. Die folgende stalinistische Herrschaft bedeutete jahrzehntelange Verfolgung, willkürliche Verhaftungen, Deportationen, Hinrichtungen; diese traumatischen Erinnerungen sind noch in vielen Familien präsent. Es bereitet baltischen Politikern keine Mühe, diese Emotionen für ihre transatlantischen Ziele zu aktivieren.
Die Balten geben den Ton an
Artis Pabriks, damals lettischer Verteidigungsminister, las am 25. Januar 2022 in einem Bild-Interview den Deutschen die Leviten. Er kritisierte, dass die deutsche Russlandpolitik nicht mehr in die Zeit passe und Deutschland eine "beschämende Position" einnehme.
Die damalige deutsche Blockade bei Waffenlieferungen an die Ukraine sei "nur die Spitze des Eisbergs". Sie zeige die "pazifistische Nachkriegsphilosophie der deutschen Gesellschaft" und die "sehr engen geschäftlichen Verbindungen zwischen Deutschland und Russland".
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Beides verurteilte Pabriks scharf und er drohte mit einem Scheitern der EU, wenn sich andere EU-Staaten nicht den baltischen Forderungen anschlössen. Die Bild-Zeitung folgerte daraus: "Diese Aussagen eines Nato-Partners dürften Schockwellen bei den Verantwortlichen der deutschen Russland-Politik auslösen." Gut einen Monat später verkündete Scholz die sogenannte "Zeitenwende".
Osteuropäer hatten vorhergesehen, dass Russland in die Ukraine einmarschiert und sahen sich nun im Recht. Seitdem ist an der Nato-Ostflanke vom "unprovozierten Angriffskrieg" Russland die Rede; wer etwas anderes entgegnet, beispielweise an die Vorgeschichte des Konflikts erinnert, wird schnell aus dem transatlantisch geprägten Diskurs verbannt.
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Außenministerin Annalena Baerbock schien von dieser kompromisslosen Position sehr beeindruckt, als sie im April 2022 Riga besuchte, wo sie auch ihren Amtskollegen Edgars Rinkevics traf.
Sie übernahm die baltischen Vorstellungen von "Sicherheit". Von den drei baltischen Staaten könne Deutschland viel über Wehrhaftigkeit lernen; sie wolle "genau zuhören". Sie setzte sich dafür ein, dass Deutschland die eigene Wehrhaftigkeit stärke und einen Beitrag leiste, die "Sicherheit" in Europa neu auszurichten.
Ein halbes Jahr später stattete auch EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola der lettischen Regierung einen Besuch ab.
Vor dem lettischen Parlament lobte sie, dass sich seit der "russischen Invasion der Ukraine (...) das Zentrum der Entscheidungsfindung auf dem Gebiet der europäischen Verteidigung und Sicherheit" in die baltische Region verlagert habe: "Und Lettlands Erfahrung und Führungsstärke werden in den kommenden Schritten entscheidend sein, um die Bedrohungen für unsere demokratischen Werte und das Wohlergehen der EU zu überwinden." Daraus folgerte sie, dass die Ukraine von der EU und sämtlicher Mitgliedstaaten bis zum Sieg unterstützt werden müsse.
Edgars Rinkevics, der mittlerweile als Staatspräsident seines Landes amtiert, betreibt die Wehrhaftigkeit mit sprachlichen Mitteln. Nach Macrons Ankündigung, eventuell Nato-Truppen in die Ukraine zu senden, twitterte Rinkevics:
Ich unterstütze vollständig @Emmanuel Macron: Wir sollten keine roten Linien für uns selbst ziehen, wir müssen rote Linien für Russland ziehen und wir sollten uns nicht fürchten, sie durchzusetzen. Die Ukraine muss gewinnen. Russland muss geschlagen werden. Russia delenda est.