Stärken die Anti-AfD-Proteste die Demokratie?

Protest gegen die AfD in Berlin, 14.01.2024. Bild: Lucas Werkmeister, CC BY 4.0

Aufstieg der AfD in Ostdeutschland kaum zu stoppen. Proteste gegen Rechts bundesweit wollen Gegenpol setzen. Aber können sie nachhaltig Einfluss haben?

Der prozentuale Aufstieg der AfD bis hin zur stärksten Partei – nach aktuellen Umfragen – in einzelnen ostdeutschen Bundesländern, etwa in Thüringen oder Sachsen, schien unaufhaltbar. Je rechtsradikaler sich die Partei entwickelte, desto größer war ihr Wahlerfolg.

Aufstieg der AfD: Trend nicht zu stoppen?

Dann outete sich die führende Partei gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit mit einer völkisch-ethnischen Unterscheidung zwischen "Biodeutschen" und Menschen mit Migrationshintergrund bzw. Migranten durch ein geleaktes Geheimtreffen in einer Potsdamer Villa.

Zur zusammenfassenden Rückschau: Dort nahmen – laut dem Recherche-Zentrum Correctiv – rechtsnationale Politiker von der AfD, der Werte-Union und zwei CDU-Politiker sowie rechtsextreme Unternehmer und Influencer an der Tagung teil. Ein Correctiv-Mitarbeiter nahm verdeckt teil und sicherte die Vorgänge.

Masterplan zur Remigration: Wahrheit oder Fiktion?

Im Fokus des u. a. mit führenden AfD-Mitgliedern besetzten Treffens stand ein sogenannter Masterplan zur Rückführung von Millionen Migranten ("Remigration"), auch Deutscher mit Migrationsherkunft, "nicht assimilierter Personen" sowie von unbequemen Menschen, die sich gegen die Deportationspläne sperren.

Insbesondere der Redebeitrag des rechtsradikalen Aktivisten und Autors, Martin Sellner, dem langjährigen Sprecher der "Identitären Bewegung Österreich", überschritt deutlich die bisher immer noch viel zu häufig akzeptierten roten Linien des rechtspopulistischen Diskurses – so Correctiv über Sellners verfassungsfeindlichen Redebeitrag:

Sellner ergreift das Wort. Er erklärt das Konzept im Verlauf des Vortrages so: Es gebe drei Zielgruppen der Migration, die Deutschland verlassen sollten. Oder, wie er sagt, "um die Ansiedlung von Ausländern rückabzuwickeln". Er zählt auf, wen er meint: Asylsuchende, Ausländer mit Bleiberecht – und "nicht assimilierte Staatsbürger". Letztere seien aus seiner Sicht das größte "Problem". Anders gesagt: Sellner spaltet das Volk auf in diejenigen, die unbehelligt in Deutschland leben sollen und diejenigen, für die dieses Grundrecht nicht gelten soll.

Einerseits sollten Migranten deportiert werden und andererseits alle diejenigen, die sich dieser "Remigration" widersetzen würden:

Eine Idee ist dabei auch ein "Musterstaat" in Nordafrika. Sellner erklärt, in solch einem Gebiet könnten bis zu zwei Millionen Menschen leben. Dann habe man einen Ort, an dem man Leute "hinbewegen" könne. Dort gebe es die Möglichkeit für Ausbildungen und Sport. Und alle, die sich für Geflüchtete einsetzten, könnten auch dorthin.

Sellners "Masterplan" wurde von den Teilnehmern positiv aufgenommen und weitere Redebeiträge wurden hierauf ausgerichtet.

Massenprotest als Zeichen gegen Rechtsextremismus

Nach dem Bekanntwerden der Recherchen von Correctiv kam es zu einem öffentlichen Aufschrei in Deutschland und zu einem Einsetzen von Massendemonstrationen gegen den organisierten Rechtsextremismus und insbesondere der AfD: Innerhalb von drei Wochen fanden Proteste mit mehreren Millionen Teilnehmern statt, in Berlin mit 500 veranstaltenden Organisationen und Hamburg mit 180.000 Teilnehmern.

In München demonstrierten 100.000 Teilnehmer. Die TAZ berechnet die Teilnehmerzahl der bis zum Veröffentlichungszeitpunkt (9.2.2024) erfolgten Anti-AfD-Demonstrationen mit rund drei Millionen Teilnehmern, nach Veranstalterangaben: vier Millionen.

Erinnerungen an die 68er-Zeit und den damaligen Kampf für mehr Demokratie werden wach. Die Menschen gehen erstmals seit 1989 wieder massenhaft auf die Straße und setzen sich für die Grundwerte des Grundgesetzes ein, die eine diskriminierende Unterscheidung der Bevölkerung verbieten.

Dies wird in den Leitmedien als längst fällige symbolische Handlung dargestellt, die ein Ausdruck des Funktionierens der Demokratie sei.

Die AfD hingegen zeigt gefakte Fotos von halb leeren Plätzen, obwohl in der Regel der Platz für die demonstrierenden Menschenmengen kaum ausreichte. Auch will sich die AfD mit der Bezeichnung der Potsdamer Tagung im Landhaus Adlon als "privates Treffen" herausreden. Dennoch verliert der persönliche Referent von Alice Weidel umgehend seinen Job. Daher folgert Robert Pausch in Die Zeit:

Für eine Partei, die für sich in Anspruch nimmt, die schweigende Mehrheit zu vertreten, stellt es eben doch ein ernst zu nehmendes strategisches Problem dar, wenn eine lautstarke Mehrheit dagegen aufsteht und auch rein zahlenmäßig die Verhältnisse einmal geraderückt: 25.000 Teilnehmer demonstrierten auf dem Höhepunkt der rechten Mobilisierung im Pegida-Jahr 2015, zwischen einer und anderthalb Millionen Menschen waren es, je nach Zählweise, allein am vergangenen Wochenende.

Pausch, Robert (2024): So viel Mitte war nie. In: Die Zeit, vom 8.2.2024, S.1.

Machtspiel oder Widerstand? Politiker bei Anti-AfD-Demos

Auf den Anti-AfD-Demonstrationen bzw. Demos gegen den Rechtsextremismus nahmen auch immer wieder Bundestagsabgeordnete und Regierungsmitglieder der Ampelparteien und Teilen der Opposition im Bundestag teil. Hierbei könnte deren Motivation auch im Ausschalten einer unliebsamen Parteienkonkurrenz und in der werbenden Anbiederung an die Demonstrierenden liegen.

Ebenfalls wird des Öfteren kritisch eingewendet, dass gerade ihre Entscheidungen doch oftmals auch Ursache der AfD-Wahlerfolge gewesen seien. Würden die verantwortlichen Politiker eine Politik entwickeln und umsetzen, die den Interessen der Bürger entsprechen würden, dann wäre auch der Aufstieg der AfD nicht möglich gewesen.

So der Journalist Philipp Fess bei Telepolis:

Das nahezu totale Tabu über dem Thema Migration hat dazu beigetragen, dass nur die politischen Randkräfte sich noch über den Horizont des gesellschaftlich Sanktionierten wagen. Die Rechten ergründen sozusagen im strammen Alleingang das Niemandsland hinter den Gedankenverboten.

Demonstrationen als Ausdruck einer revitalisierten Demokratie?

Die Frage ist nun, ob es sich bei den derzeitigen Anti-AfD-Demonstrationen um mehr als nur eine identitätswirksame Selbstvergewisserung progressiver Milieus handelt. Möglicherweise werden die Demonstrationen von Woche zu Woche kleiner, bis nur noch das Häufchen Aktivisten übrig bleibt, das auch ansonsten gegen die AfD demonstriere.

Der Mitarbeiter der Magdeburger Arbeitsstelle Rechtsextremismus, David Begrich, sieht in den Anti-AfD-Demonstrationen einerseits eine wichtige Klarstellung und Kontrastierung gegenüber rechtsextremer Politik, andererseits ist er der Auffassung, dass sich eine Brechung des ansteigenden AfD-Erfolgs nur durch eine längerfristige Aktivitätsperspektive erreichen lasse:

Ich glaube, man darf sich nicht die Illusion machen, dass diese Demonstrationen die rechten Dominanzräume aufbrechen. (…) Dafür bräuchte es die Überführung dieser Demonstrationen in ein kleinteiliges langfristiges Engagement vor Ort.

Rechte Trends in Ostdeutschland: Eine entscheidende Wahl

In jedem Fall müsse den Menschen klar werden, dass es mit den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg und auch den Kommunalwahlen in Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 2024 um das Ganze gehe – es stelle sich die Frage: "Gelingt es der AfD so etwas wie eine Initialzündung für eine autoritär formierte rechte Gesellschaftsordnung in Ostdeutschland vom Zaun zu brechen?"

Die extreme Rechte betrachte Ostdeutschland als Experimentierfeld für ihre gesellschaftspolitischen Konzepte und es müsse vorwiegend den Unentschlossenen jetzt klar sein, dass es "um alles" gehe.

Heike Kleffner vom Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt macht im gleichen Interview deutlich, dass es im Osten Deutschlands noch mehr Mut als in Westdeutschland benötige, um gegen die rechtsextreme Dominanz in vielen Orten auf die Straße zu gehen.

Gemeinsam gegen Rechts: Die Rolle der Zivilgesellschaft

Durch die Demonstrationen gegen die AfD sei erstmals seit dem Eintreten der Corona-Pandemie die "rechtsextreme Dominanz im öffentlichen Raum" gebrochen worden. In Orten, wie in Zwickau oder Stralsund, hätten Tausende Demonstranten gezeigt, dass es nicht die extreme Rechte ist, welche die Mehrheit darstellt, und es auch demokratische Gegenbewegungen hierzu gäbe. Dies sei auch notwendig, für die Unentschiedenen, die sich bisher nicht trauen würden, ihre Meinung gegen eine rechtsextreme Hegemonie im Alltag zu äußern.

In diesem Sinne kann es sich also bei den derzeitigen Demonstrationen um eine Stärkung der Demokratie durch basisdemokratische Aktivitäten handeln. Der Schwäche der parlamentarischen Demokratie, fast keine Mitbestimmungs- und Aktionsformen auf Bundesebene im Sinne direkter Demokratie zu ermöglichen, werden die derzeit erlebbaren massenhaften Versammlungen und Kundgebungen gegen die extreme Rechte entgegengesetzt.

Und: Es geht nicht primär um die Kritik an einzelnen Politikern oder regierenden Parteien, sondern um ein Engagement für die Demokratie und der grundlegenden Verfassungsinhalte.

Die Frage ist allerdings, wie lange das Antisymbol AfD den brüchigen Zusammenhalt in der gesellschaftlichen Mitte stärkt. Wann schlägt die Entsolidarisierung in Zeiten gesellschaftlicher Anspannung und spaltender Ressourcenkämpfe wieder durch?

Die AfD und die Zukunft der Demokratie: Ein kritischer Blick

Der Einschätzung einer künftig auslaufenden Anti-AfD-Bewegung stehen allerdings der Fakt der im Jahr 2024 anstehenden Landtags- und Kommunalwahlen sowie natürlich die bereits im öffentlichen Fokus stehende nächste Bundestagswahl im Spätsommer bzw. Herbst 2025 entgegen.

Hier wird das Thema des Rechtsradikalismus und der AfD weiterhin in der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen. Wenn es der AfD gelingt, in den Bundesländern oder gar auf Bundesebene in Regierungsverantwortung zu kommen, hat dies gravierende Kompetenzen für die Gerechtigkeit und die Lebensqualität in Deutschland. Da werden sich die Kritiker, die das aktuelle parlamentarische System als "Fassadendemokratie" bezeichnen, noch an die Republik vor einem etwaigen Siegeszug der AfD zurücksehnen.

1933 und die AfD: Parallelen und Unterschiede

Es stellt sich nun die Frage, ob die zahlreich gezogenen Parallelen und Vergleiche zwischen heute und dem Beginn der Nazizeit vor 1933 tatsächlich zutreffend oder eine unzulässige Überspitzung darstellen. Niklas Nelle zweifelt zu Recht an, dass es sich um eine identische Situation handele:

Dennoch stehen wir aktuell nicht "kurz vor 1933", dem Jahr der Machtübergabe, des Verbots der Gewerkschaften, der Bücherverbrennungen, der Gründung des KZ Dachau und der Einführung des "Ariernachweises".

Ab 1933 konnten Jüdinnen und Juden nicht mehr als Beamte oder öffentliche Angestellte arbeiten. Innerhalb weniger Wochen wurde damals die Opposition ausgeschaltet, Minderheiten drangsaliert und das deutsche Volk auf das nationalsozialistische Projekt eingeschworen. So weit sind wir 2024 nicht. Und trotzdem ist das kein Grund zur Entwarnung.

Debatte um AfD: Faschismus oder demokratische Herausforderung?

Zu klären und genau hinzuschauen ist allerdings zukünftig hierauf: Kann die Politik der AfD mit der Politik des Faschismus und seiner extremen Formen des deutschen Nationalsozialismus gleichgesetzt werden oder ist eine differenziertere Analyse notwendig? Handelt es sich bei der AfD um eine faschistische Partei oder um eine nationalchauvinistisch-bürgerliche Partei mit einzelnen rechtsextremen Mitgliedern?

Von der Beantwortung dieser Fragen hängt dann auch ab, inwieweit die AfD und auch ihre Jugendorganisation "Junge Alternative" uneingeschränkt weiterhin agieren dürfen oder einzelnen als faschistisch beurteilten Mitgliedern die Wählbarkeit entzogen werden sollte.

Denn: Aus der historischen Erfahrung von Weimar heraus ist das Konzept der "Wehrhaften Demokratie" sehr bewusst im bundesdeutschen Grundgesetz verankert worden, um die Demokratie gegen ihre erklärten Feinde zu schützen.

Konsequenzen aus dem Erstarken rechtsradikaler Kräfte und insbesondere der AfD Das Erstarken der extremen Rechten ist kein bundesdeutsches Phänomen, sondern lässt sich derzeit überall in Europa beobachten.

Die folgenden Konsequenzen hinsichtlich einer politischen Reaktion hierauf beziehen sich insbesondere auf eine "gute Politik" der verantwortlichen Regierungen, aber auch auf ein permanentes Engagement von unten.

Zunächst einmal gilt es, sich in der Öffentlichkeit und auch in Bildungsinstitutionen argumentativ – differenziert und faktengestützt – mit den recht simplen Forderungen der AfD auseinanderzusetzen, sodass deutlich wird, dass die AfD-Forderungen die vorhandenen nach wesentlich komplexeren Lösungsansätzen verlangenden Probleme nicht lösen können.

Die von der AfD geforderte Renaissance der fossilen Energieträger kann beispielsweise keinen Beitrag zur immer drängender werdenden Klimaproblematik bieten; die Forderung nach der Reaktivierung der Atomkraftwerke blendet die permanente Gefahr von Störfällen und die fehlende Entsorgungsmöglichkeit aus; der geforderte Abbau von Sozialleistungen verstärkt gesellschaftliche Spaltungen und geht zulasten von Benachteiligten und anderen.

Auch Demonstrationen gegen das Erstarken rechtsradikaler Parteien und Gruppierungen bilden eine basisdemokratische Gelegenheit, sich symbolisch Ausdruck zu verleihen und das Zusammengehörigkeitsgefühl in der noch demokratisch gesonnenen gesellschaftlichen Mitte zu stärken.

Zudem üben sie einen nicht zu unterschätzenden Druck auf regierende Politiker auf allen Ebenen aus, Koalitionen und organisierte Zusammenarbeit mit der AfD weiterhin abzulehnen ("Brandmauer"). Dennoch müssten Demonstrationen auch in ein systematisches und längerfristiges Engagement vor Ort überall und insbesondere dort münden, wo bislang rechtsradikale Gruppierungen noch die Deutungshoheit im öffentlichen Raum haben.

Es gilt allerdings vor allem für die gewählten Verantwortlichen auf allen Ebenen, eine "gute" Politik zu machen, die nicht den Bedürfnissen und Interessen der Menschen widerspricht – so die TAZ: "Es ist auch die von vielen Krisen bestimmte Weltlage, die Menschen dazu bringt, die AfD zu wählen.

Das Gefühl der Schwäche des Nationalstaats, die Klimakrise, die Angst der Mittelschicht, abzusteigen. All das führt ja nicht nur in Deutschland zu einem Aufstieg der Rechtspopulisten und lässt sich nicht einfach wegdemonstrieren."

Dies bedeutet also auch, sinnvoll, realisierbare und menschlich vertretbare Lösungen für die Migrationsproblematik zu schaffen. Denn in der langen Tabuisierung und Vernachlässigung dieser Thematik liegt das Erfolgsrezept der AfD begründet.

Vor allem gilt es, positive Zukunftsvorstellungen zu entwickeln, die konkret und nachvollziehbar sind und zeigen, wie eine multikulturelle Gesellschaft demokratisch und gerecht weiterentwickelt werden kann und Menschen unterschiedlicher Herkunft hierbei friedlich zusammen leben können.

Prof. Dr. Klaus Moegling i.R., Politikwissenschaftler und Soziologe, u. a. Autor von Neuordnung – eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich; 5. und erweiterte und aktualisierte Auflage, frei lesbar in https://www.klaus-moegling.de/aktuelle-auflage-neuordnung/

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