Ukraine-Krieg: Selenskyj pokert hoch – und könnte alles verlieren
Wolodimir Selenskyj hat einen Fünf-Punkte-Plan vorgestellt. Der ukrainische Präsident will den Krieg bis Ende 2025 gewinnen. Doch sein riskanter Kurs könnte nach hinten losgehen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Mitte des Monats vor den Abgeordneten des ukrainischen Parlaments seinen bisher geheim gehaltenen Siegesplan vorgestellt. In seiner Rede hob er hervor, den Krieg in der Ukraine mit der Strategie "Frieden über Stärke" bis spätestens Ende 2025 beenden zu wollen.
Er legte einen Fünf-Punkte-Plan mit drei zusätzlichen Geheimdokumenten vor. Schon Ende September hatte er in den USA Präsident Joe Biden und die beiden Präsidentschaftskandidaten informiert. Folgende Hauptthemen finden sich in dem Plan:
1. Punkt: Bedingungslose Einladung in die Nato
Im Verlauf von Jahrzehnten habe Russland die geopolitische Unbestimmtheit in Europa und eben die Tatsache ausgenutzt, dass die Ukraine kein Mitglied der Nato sei, so Präsident Selenskyj im Parlament in Kiew. Dies habe Russland zum Angriff auf die Ukraine verleitet.
Russland müsse den Krieg verlieren. Damit sei kein Einfrieren gemeint und keine Aufgabe der Souveränität seines Landes. Das Verhandeln über ukrainisches Territorium stünde nicht zur Debatte.
Die Schlussfolgerung daraus sei die Einladung in die Nato. Diese Forderung wird in Selenskyj Plan mit höchster Priorität genannt. Die Einladung sei eine Offerte für einen späteren Nato-Beitritt der Ukraine und ein starkes Signal an Russland, den Krieg zu beenden. Das Nato-Statut fordert Einstimmigkeit bei der Aufnahme neuer Bündnismitglieder.
Auf dem diesjährigen Nato-Gipfel in Washington sprachen sich mehrere Mitgliedsstaaten gegen eine Aufnahme der Ukraine aus. Derzeit sind nur Polen und die baltischen Staaten Unterstützer des ukrainischen Anliegens.
Beim Nato-Gipfel wurden auch Bedingungen genannt, die die Ukraine einlösen müsse: u. a. Reformen in den Bereichen Demokratie, Wirtschaft und Korruptionsbekämpfung. Die Einlösung von Selenskyjs Forderung einer Nato-Mitgliedschaft noch während des Krieges ist derzeit auszuschließen.
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2. Punkt: Stärkung der Verteidigung
Die Stärkung der Verteidigung ist notwendig, um die Positionen auf dem Schlachtfeld halten zu können. Gleichzeitig soll die ukrainische Armee den begonnenen Angriff auf russisches Territorium ausdehnen und befähigt werden, Kriegsziele im russischen Hinterland erfolgreich bekämpfen zu können.
Die Russen sollen spüren, was Krieg heißt. Ziel sei es, den Hass der russischen Bevölkerung in Richtung Kreml zu lenken. Die laufende Operation der ukrainischen Armee in der Region Kursk soll fortgesetzt werden, so Präsident Selenskyj.
Von entscheidender Bedeutung sei dabei die Freigabe der Reichweite von NATO-Waffensystemen, die aktuell auf max. 300 km begrenzt ist. Bisher lehnen die USA eine Freigabe ab, ebenso Bundeskanzler Olaf Scholz die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern mit einer Reichweite von ca. 700 km.
Militärisch macht eine Freigabe Sinn: Um Zentren der russischen Rüstungsindustrie, Munitionsdepots, Treibstofflagerstätten zerstören zu können, müssen weitreichende Waffensysteme zum Einsatz kommen.
Der Großteil der russischen Erfolge wurden durch Gleitbomben erzielt. Die Einsätze der Luftwaffe erfolgen von frontnahen Flugplätzen aus. Diese könnten durch US-Marschflugkörper oder andere Raketensysteme bekämpft werden.
Tagesschau
Sicherheitspolitisch wären mit einer Freigabe Eskalationsrisiken verbunden. Russland könnte taktische Atomwaffen grenznah verlegen und mit einem Ersteinsatz drohen.1
Für Bundeskanzler Olaf Scholz wäre mit einer Freigabe die Gefahr eines Nato-Russland-Kriegs gegeben. Des Weiteren ist für ihn wegen Deutschlands Angriffskrieg auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg der Einsatz deutscher Waffen auf russischem Territorium ein Tabu. Es ist sicherheitspolitisch wichtig, dass Olaf Scholz seine Position unbedingt beibehält.
3. Punkt: Abschreckung stärken
Die ukrainische Rüstungsindustrie soll mit westlicher Hilfe gestärkt und Produktionskapazitäten sollen im konventionellen Bereich ausgedehnt werden. Westliche Rüstungsfirmen werden aufgefordert, in der Ukraine zu produzieren. Diese Unterstützung ist notwendig, um vor Ort Panzer bauen und Munitionsmängel ausgleichen zu können.
4. Punkt: Zugriff auf ukrainische Rohstoffe
Die Ukraine verfügt über wertvolle Rohstoffe, die nicht in russische Verfügungsgewalt geraten dürfen. Graphit, Lithium, Titan und Uran werden als Ressourcen genannt. Diese müssten in der demokratischen Welt bleiben und genutzt werden, so Präsident Selenskyj.
Für den Westen ist es eine industriepolitische Notwendigkeit, die Verfügbarkeit zu gewährleisten. Mit den USA und der EU soll ein Abkommen geschlossen werden, um die ukrainischen Ressourcen zu sichern.
5. Punkt: Ukraine im westlichen Bündnis
Nach dem Ende des russischen Angriffskrieges soll die Ukraine ihre militärische Erfahrung in das westliche Bündnis einbringen. Sie könnte, so der Plan, mit ihren kriegserfahrenen Soldaten in Europa auch US-Truppen entlasten oder sogar ersetzen.
Präsident Selenskyj unterbreitet diesen Vorschlag wahrscheinlich auch wegen der anstehenden Präsidentschaftswahl in den USA. Das Angebot an die Nato, die Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit stärken zu wollen, soll der Forderung einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine Nachdruck verleihen.
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Zur aktuellen Kriegslage
Die Menschen in der Ukraine stehen vor dem dritten Kriegswinter. Große Teile der lebenswichtigen Energieversorgung sind zerstört oder ständigen russischen Angriffen ausgesetzt. Der Zivilbevölkerung droht wieder eine entbehrungsvolle Zeit mit Kälte und Nässe in zum Teil zerstörten Wohngebäuden.
Die Strom- und Wasserversorgung ist stellenweise unterbrochen. Händeringend wird versucht, Reparaturen durchzuführen und die Funktionsfähigkeit wiederherzustellen. Das menschliche Leid ist schwer in Worte zu fassen.
Die russischen Truppen sind in wichtigen Frontabschnitten auf dem Vormarsch, die Umstellung auf Kriegswirtschaft gelang in relativ kurzer Zeit, die Rüstungstechnologie wurde forciert und wesentlich verbessert, und die Produktion läuft auf Hochtouren.
Ausreichend Soldaten und ausgebildete Reserven stehen nach wie vor zur Verfügung und können ohne logistische Probleme nachgeführt werden. Die logistische Unterstützung mit Militärgerät aus Iran und Nordkorea funktioniert und ist eine wesentliche Verstärkung.
Ob unter Berücksichtigung dieser militärstrategischen Lage die Ukraine mit dem Siegesplan ihres Präsidenten den russischen Angriffskrieg stoppen kann, ist zu bezweifeln.
Präsident Selenskyj plant, eine erneute Friedenskonferenz einzuberufen, zu der er auch Russland einladen will.
Russland fordert als Reaktion auf den ukrainischen Siegesplan unmissverständlich einen neutralen Status der Ukraine und die Anerkennung der russischen Annexion besetzter Gebiete in der Süd- und Ostukraine. Dazu gehören die Oblaste Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja. Das seien die Bedingungen Russlands für eine mögliche Teilnahme an einer Friedenskonferenz.
Für die Ukraine stehen allerdings Gebietsverluste nicht zur Disposition. Sie beruft sich gem. UN-Charta auf das Souveränitätsrecht und die territoriale Unversehrtheit ihres Staatsgebietes. Ein blockfreier Status der Ukraine oder ein "Einfrieren des Krieges" wird kategorisch abgelehnt.
Gibt es unter diesen Voraussetzungen überhaupt Kompromisslinien, die zur Einhegung des Krieges beitragen könnten?
Kiew muss die Frage beantworten, ob und inwieweit es gewillt ist, politische und territoriale Kompromisse einzugehen, um den Krieg zu beenden und ukrainische Leben zu retten. Dies kann Kiew nur dann positiv beantworten, wenn Moskau bereit ist, Abstriche von maximalen Kriegszielen zu machen und die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine zu garantieren.
Wolfgang Richter, "Europa und der Ukraine-Krieg"
Eine Verhandlungsstrategie, die auf Win-win-Lösungen baut und die legitimen Sicherheitsinteressen beider Kriegsparteien berücksichtigt, ist trotz der schwierigen Ausgangslage die einzig realistische Option für Friedensgespräche, um einen Waffenstillstand im Ukraine-Krieg erreichen zu können.
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Übergeordnet muss strategische Stabilität zwischen den der Nato und Russland wieder erlangt werden. Die Verhinderung eines Atomkriegs gilt dabei als vordringliches Ziel.
Das kann in diesem Krieg natürlich nicht die Ukraine leisten. Dies muss über die Nato, im Besonderen über die Führungsmacht USA gewährleistet werden. Dazu wären Rüstungskontrollgespräche notwendig, die mit einer Offerte an Russland, auf den Ersteinsatz von Atomwaffen verzichten zu wollen, angebahnt werden könnten.
Rolf Bader, geb. 1950, Diplom-Pädagoge, ehem. Offizier der Bundeswehr, ehem. Geschäftsführer der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte:innen für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte:innen in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW).