Vierte spanische Neuwahlen und wieder entscheidet Katalonien

Barcelona: Debatte vor der Uni des Protestcamps über den nächsten Protest-Tsunami am Samstag. Foto: Ralf Streck

Der Wahlkampf war wieder ganz durch den Konflikt bestimmt, der erst dazu führte, dass zum zweiten Mal in diesem Jahr gewählt werden muss

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Der geschäftsführende spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez wird immer nervöser, schwimmt und begeht massive Fehler im Wahlkampf. Denn es hat sich in Umfragen immer klarer herausgeschält, dass sich keines seiner Ziele erreichen lässt, mit denen er ohne Grund die Neuwahlen angestrebt hat.

Er wird, so bedeutet es ihm die letzte Umfrage, sogar noch auf mehr Stimmen aus Katalonien angewiesen sein - wenn er keine große Koalition mit der PP eingehen will. Dann braucht er nicht mehr nur Stimmen der Republikanischen Linken Kataloniens (ERC), die er verschmäht hat, obwohl er sie gratis erhalten sollte, um eine Regierung aus rechten und ultrarechten Parteien zu vermeiden, wie Joan Tardà im Telepolis-Interview dargelegt hat ( Sánchez spielt nicht zum ersten Mal Roulette im Casino).

Sánchez wäre demnach sogar auf Stimmen von "Gemeinsam für Katalonien" (JxCat) angewiesen, die für eine Unterstützung aber nicht nur die Freiheit der politischen Gefangenen fordert, sondern auch einen Dialog über die Unabhängigkeit, wie Roger Español im untenstehenden Interview (Seite 2) ausführt. Der linke Aktivist, der durch die Polizeibrutalität während des Unabhängigkeitsreferendums ein Auge verloren hat, führt die Liste für den Senat an, hinter der der Exilpräsident Carles Puigdemont steht.

Doch mit dem neuen europäischen Haftbefehlen gegen Puigdemont und andere Exilierte - im Fall von Clara Ponsati hat die britische Justiz sofort eine Ablehnung geschickt - hat sich Sánchez genauso wenig Freunde in Katalonien gemacht wie mit den absurden Urteilen gegen die Anführer der Unabhängigkeitsbewegung, die wegen eines erfundenen Aufruhrs bis zu 13 Jahren Haft verurteilt wurden. Zudem hat er sich einen schweren Fauxpas geleistet.

Gewaltenteilung und Justiz in Spanien?

Sánchez hat in einem Interview bestätigt, was in Katalonien und dem Baskenland die große Mehrheit sowieso glaubt (auch viele Menschen in Spanien): Dass es keine Gewaltenteilung im Land gibt. Somit ist auch verständlich, warum Richter und Staatsanwälte immer wieder gegen Einmischung aus der Politik streiken.

Der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten versprach nun, nachdem seine Vize Carmen Calvo Belgien offen mit Repressalien gedroht hat, dass die Staatsanwaltschaft Puigdemont nun nach Spanien holen werde, sollte er nicht an Spanien ausgeliefert werden. Im Interview erklärte Sánchez, die Regierung habe die Staatanwaltschaft angewiesen, den Europäischen Haftbefehl gegen Puigdemont zum dritten Mal zu stellen. "Von wem hängt die Staatsanwaltschaft ab", fragte er den Interviewer. "Ja, sie hängt von der Regierung ab", gab der zurück. "Da haben sie es", gab Sánchez klar zu verstehen, dass es um ein Vorgehen der Regierung geht.

Derzeit macht der Sozialdemokrat gleichzeitig fast allen Parteien und allen Lagern Angebote, denen er zuvor mächtig vors Schienbein getreten hat. Sogar den Katalanen hat er nun erneut eine Zusammenarbeit angeboten, wenn sie ihren "einseitigen Unabhängigkeitskurs" aufgeben. Das hatte die ERC längst, trotz allem hat er sogar deren Gratis-Stimmen verschmäht.

Aber Sánchez hat, und das zeichnete sich schon vor den vorgezogenen Neuwahlen im April klar ab, eigentlich nur einen Wunschpartner. Das sind die rechts-neoliberalen Ciudadanos (Cs), die er erneut ganz besonders umworben hat.

Die rechten Wunschpartner

Mit ihnen hätte er, hätten sie mitgespielt, eine stabile Regierung bilden können. Doch die orangene Truppe, unter dem ständig, angesichts fataler Umfrageergebnisse stets immer mehr gestresst wirkenden Parteichef Albert Rivera, hatte sich ihm verweigert. Die Partei ist klar auf Oppositionskurs gegangen, da Sánchez versprochen hatte, mit den Katalanen in einen demokratischen Dialog zu treten.

Sánchez hat zwar auch dieses Versprechen gebrochen, trotz allem aber hat Rivera mit der rechten Volkspartei (PP) Bündnisse in der bevölkerungsreichsten autonomen Gemeinschaft Andalusien und im bedeutenden Madrid geschlossen. Dort lässt sich die Koalition aus PP und Cs von der offen faschistisch-franquistischen VOX-Partei stützen, der man inhaltlich weit entgegenkam.

Diese Tatsache und die, dass die Cs-Partei Sánchez eine Mehrheit verweigerte, womit Spanien längst der Ruf von italienischen Verhältnissen und der Unregierbarkeit anhaftet, hat die Cs- Partei intern und extern zerrissen. Scharenweise haben Partei- und Führungsmitglieder sie verlassen, da sie den liberalen Anschein, eine Zentrumspartei zu sein, definitiv beerdigt hat.

Sie hat sich als das geoutet, was sie ist, eine aggressive streng nationalistische Rechtspartei, die wie ultrarechte Vox ein Ableger der PP ist. So kommt der Cs-Chef Rivera genauso aus der PP wie Vox-Chef Santiago Abascal. Die Partei, nach Eigendarstellung nicht nur "Ultra", sondern "Plus-Ultra", läuft der Cs als Original nun den Rang ab und beschreitet den von der Cs geebneten Weg (Der spanische Rechtsruck bei den Wahlen am Sonntag).

Besetzte Straße in Barcelona. Foto: Ralf Streck

Laut Umfragen stürzt die Cs-Partei so heftig ab, dass sie statt auf knapp 16% und 57 Sitze sogar nur noch auf knapp 8% und 16 Sitze kommen könnte. Davon sollen die rechten und ultrarechten Originale profitieren. Vox könnte nun sogar die Anzahl der Stimmen und Sitze bekommen, die bisher die Cs haben. Auch die PP dürfte wieder leicht zulegen und statt auf knapp 17 Prozent auf 19% und statt auf 66 Sitze auf gut 80 Sitze kommen könnte.

Aber damit ergibt sich die für beiden großen spanischen Parteien erneut die fatale Lage, dass die drei Rechtsparteien nicht wie im Modellfall Andalusien und Madrid regieren können, es aber für Sánchez' Sozialdemokraten (PSOE) mit den Cs auch bei weitem nicht mehr reicht, wie es im April gereicht hätte. Die PSOE soll angesichts ihres erratischen Kurs und der Erfolglosigkeit wieder Stimmen an die Linke verlieren und bisher statt auf 123 nur noch auf etwa 120 Sitze kommen.

Eine Links-Regierung?

Damit wird es für den geschwächten Sánchez noch schwerer, eine Regierung zu bilden, weil die Linke und die Katalanen insgesamt gestärkt aus den Wahlen hervorgehen werden. So bliebe ihm nur, klar Farbe zu bekennen: Entweder er bildet eine große Koalition mit den "Postfaschisten" oder führt das Modell an, das er bisher verschmäht hat: eine Linksregierung mit Unterstützung aus dem Baskenland und Katalonien.

Sánchez Problem ist, dass er nach der letzten Umfrage, die am Freitag in Andorra veröffentlich wurde - da dies in Spanien das seit Dienstag verboten ist - gegenwärtig aber noch deutlich mehr Parteien unter einen Hut bringen müsste als nach den Wahlen im April. Denn die Linkskoalition Unidas Podemos (Gemeinsam können wir es), in der auch die Vereinte Linke (IU) kandiert, hat sich gespalten.

Gegen die Formation von Pablo Iglesias tritt mit "Más Pais" (Mehr Land) der ehemalige Podemos Mitbegründer Inigo Errejón an und nimmt ihr Stimmen und Sitze ab. So wirkt das Wahlgesetz, das auf große Parteien ausgerichtet ist und kleine an den Rand drängt. Der schlimmste Fall wäre, dass diese neue Formation gar nicht ins Parlament käme und ihre Stimmen unter den Tisch fielen. Dann könnte es für das Rechtsbündnis reichen. Das war das Ergebnis der Kampfkandidatur von Podemos gegen die Errejón-Truppe in Madrid. Das ist aber sehr unwahrscheinlich.

Die Lage ist für den Hasardeur, Narzisten und Dialogverweiger Pedro Sánchez fatal geworden. In die hat er sich ohne Not manövriert, da er mit Podemos praktisch nicht verhandelt hat und eine Koalitionsregierung verweigert hat. Und weil das "Stehaufmännchen" vor allem eins will, nämlich wieder Präsident werden, versucht er nun auch wieder Podemos zu umwerben. Er meint plötzlich: "Wir sind eine Partei, die stets nach links schaut."

Allerdings versucht Sánchez dann stets rechts zu überholen, wie man in der Sachpolitik sieht, die bisweilen auf dem Niveau von Rechtsradikalen wie Salvini liegt. Dass er nun angeblich eine "progressive Regierung" als beste Lösung anführt, klingt reichlich hohl. Denn die hätte er längst haben können.

Roger Español. Foto: Ralf Streck

Kommen wir nun zum Interview mit Roger Español. Der Musiker (Saxophonist) und linke Aktivist war der am schwersten Verletzte bei dem Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober 2017 in Katalonien, da er durch ein Gummigeschoss an der Schule Ramon Llull in Barcelona ein Auge verloren hat (das Geschehen wurde auf Video dokumentiert).

"Ich habe jede Hoffnung auf Europa verloren"

Sie werden sich nun mit aller Voraussicht am Sonntag in einen Politiker verwandeln. Bei den vorgezogenen Neuwahlen zum spanischen Parlament kandidieren Sie für die Partei "Gemeinsam für Katalonien" (JxCat) des Exil-Regierungschefs Carles Puigdemont und führen die Liste für den spanischen Senat sogar an. Wieso dieser Wechsel?
Roger Español: Ich hoffe mein Einzug ins Parlament klappt, wegen all dem, was hier in Katalonien passiert und ich durchmachen musste. Seit ich mich von den schweren Verletzungen vor zwei Jahren erholt habe, als mir beim Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober 2017 von der spanischen Nationalpolizei mit einem verbotenen Gummigeschoss das rechte Auge ausgeschossen wurde, tue ich nichts anderes, als überall die Vorgänge darzustellen.
Ich werde zu Interviews, Veranstaltungen und zu Konzerten eingeladen. Ich stelle zwar meinen Fall dar, aber vor allem geht es mir darum, dass die Leute den klaren Ausgang des Referendums nicht vergessen und wir uns an die Umsetzung der Unabhängigkeit machen müssen, für die sich 90% ausgesprochen haben.
Wahlplakat Roger Espanol auf den Ramblas in Barcelona. Foto: Ralf Streck
Wie geht die katalanische politische Klasse damit um?
Roger Español: Mir scheint, dass die Politiker, die vorgeben, uns zu vertreten, das Ziel etwas aus den Augen verloren haben. Einige haben das Referendum schon ins katalanische Revolutionsmuseum verfrachtet. Betont wird, wie toll wir das geschafft haben, gegen die brutale Repression… Aber es geht darum, den Staub abzuwischen und das Votum umzusetzen.
Nachdem nun ehemalige Regierungsmitglieder und Aktivisten für die friedliche Durchführung eines Referendums zu Haftstrafen von bis zu 13 Jahren wegen "Aufstand" verurteilt wurden, kommt es aber doch wieder zu sehr massiven Protesten?
Roger Español: Aber auf politischer Ebene wird längst ein neues, mit Spanien vereinbartes Referendum gefordert und über ein Amnestiegesetz debattiert. Das ist verlorene Zeit. Spanien wird kein Referendum wie in Schottland zulassen.
Man kann das fordern, aber man legt damit die Latte sehr tief. Die Latte müsste dort liegen, wo es darum geht, die erklärte Unabhängigkeit und Republik umzusetzen. Wenn der Staat in dem Prozess dann ein Referendum aushandeln will, können wir darüber reden. Aber wenn wir ein abgestimmtes Referendum als Ziel formulieren, ist das falsch. Das gilt auch für eine Amnestie für die politischen Gefangenen.
Ist die Forderung nach einem Referendum wie in Schottland nicht eher eine taktische Forderung? Sollte damit nicht eher vorgeführt werden, dass der spanische Staat nicht auf einer demokratischen Basis wie Großbritannien steht, um letztlich zu zeigen, dass es keinen anderen Weg als eine einseitig erklärte Unabhängigkeit wie im Kosovo gibt? Das hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag abgesegnet.
Roger Español: Ist nicht längst bewiesen, dass wir unterdrückt werden? Was braucht es noch? Tote? Ich habe zudem jede Hoffnung auf Europa verloren. Der Kosovo wird von der EU anerkannt, aber hier die spanische Repression unterstützt.
Bis der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Unrechtsurteile aufheben kann, werden viele Jahre vergehen. Bis dahin werden weiter Menschen die Augen oder Hoden weggeschossen wie etlichen in den letzten Wochen, oder sie werden anders schwer verletzt.
Ich kann die Forderungen nach einem paktierten Referendum, Amnestie… schon verstehen, doch an wen richtet man die? An ein Europaparlament mit einer rechten Mehrheit? Das wird uns hier wenig weiterhelfen. Das Parlament in Straßburg hat sich nicht einmal zur Gewalt gegen das Referendum positioniert. Gewählte katalanische Abgeordnete wie der Ex-Regierungschef Puigdemont wurden von Spanien dort ausgeschlossen. Klar, auf internationaler Ebene muss weitergearbeitet werden, doch man darf von dort keine Lösung erwarten.

Eine Mehrheit für die Unabhängigkeitsbewegung?

Ist es ein Problem - am Sonntag werden wir sehen, ob es gelöst wird -, dass die Parteien der Unabhängigkeitsbewegung keine klare Mehrheit hinter sich bringen? Bei den Europaparlamentswahlen waren es 50%, allerdings trat dabei die linksradikale CUP nicht an.
Roger Español: Ich gehe davon aus, bei all dem, was gerade passiert, dass wir nun über 50% kommen. Ich glaube aber, dass es nach all den Vorgängen hier nicht mehr sonderlich bedeutsam ist, welche Parteien nun bei Parlamentswahlen gewählt werden, wo viele Faktoren hineinspielen und nicht über die Unabhängigkeit entschieden wird. Es klingt sehr radikal, aber wir haben ein klares Votum vor zwei Jahren gehabt und das gehört umgesetzt.
Die Politiker haben wahrlich Gründe genug, das endlich zu tun. Aber vor allem die Republikanische Linke (ERC) schielt auf die Verbreiterung der Basis, will deutlich über 50% bei Wahlen sehen. Dagegen gibt es für mich, der ich auch jetzt wieder jeden Tag auf der Straße bin, längst genug Gründe für die Umsetzung der Republik.
Sie haben bei den ebenfalls vorgezogenen Neuwahlen im vergangenen April noch gemeinsam mit dem ehemaligen katalanischen Podemos-Chef für "Front Republicà" kandidiert, einer klar linken Formation. Sie ist ganz knapp am Einzug ins Parlament vorbeigeschrammt. Warum wird der Versuch, die linken Kräfte für die Unabhängigkeit zu bündeln, nicht wiederholt?
Roger Español: Wir hatten mit sehr wenig Geld eine unglaubliche Kampagne hingelegt, wo wir ohne Zugang zu den großen Medien unglaublich kreativ sein mussten. Das war sehr interessant und wir haben ein sehr gutes Resultat erreicht, auch wenn Albano Dante Fachin nicht ins Parlament einzog.
Wir wollten wieder ein Bündnis schmieden. Das scheiterte, da die CUP erstmals zu spanischen Wahlen antritt und sie kein Bündnis will. Das ist zu respektieren, aber bedauernswert, da keine gemeinsame linke Koalition für die Unabhängigkeit ins Madrider Parlament einziehen wird.
Wie kommt es, dass Sie als gestandener Linker, Hausbesetzer… für JxCat antreten, hinter der der linke Christdemokrat Puigdemont steht und nicht für die antikapitalistische CUP?
Roger Español: Erst einmal, weil mir die CUP nichts in dieser Richtung angeboten hat. Kurioserweise ist die Formation der ehemaligen Christdemokratie offener für eine gemeinsame Arbeit. Das, was einst die katalanische Rechte war, hat für mich einen bemerkenswerten Weg der Reinigung beschritten. Hätten sie sich nicht massiv verändert, wären sie verschwunden wie die rechten Teile daraus.
Die Christdemokratie hat den Blick geweitet und stellt offene Listen auf, wo diverse Strömungen mitmachen, wie auch eine Abspaltung der Sozialdemokraten und unabhängige Kandidaten.
So führt auch die Unabhängige Laura Borràs die Liste für den Kongress an. Ich kandidiere nicht für die Partei, sondern ich kritisiere sie sogar. So fordere ich zum Beispiel den Rücktritt des katalanischen Innenminister Buch wegen des brutalen Vorgehens der katalanischen Polizei bei den Protesten in diesen Tagen. Diesen gesunden Prozess der Reinigung, Selbstkritik und Öffnung haben leider weder die ERC noch die CUP gemacht.
Das wäre in vielen Parteien nötig, nicht nur in Katalonien. JxCat hält es aus, dass massive Kritiker in der Formation sind. Ich werde diese Chance nutzen, wie die Partei meine große Bekanntheit für sich nutzt.

"Dem System die Maske herunterreißen"

Wollen Sie in Madrid etwa nun die katalanische Frage lösen?
Roger Español: Nein, es ist mir natürlich klar, dass ich dort die Probleme nicht lösen kann. Ich will meinen Sitz nutzen, um diesem System die Maske herunterzureißen und dazu, dort zu provozieren. Es geht mir darum, die bestimmenden Oligopole im Land zu schwächen, um es national und international einfacher verständlich zu machen, mit welcher "Demokratie" und mit welchem System wir es hier zu tun haben, was die Regierung und die faktischen Mächte hinter ihr treiben.
Es geht mir auch darum, alle Parteien zusammen zu bringen, die für die Unabhängigkeit eintreten. Es geht darum, mit Parteien in anderen Nationen im spanischen Staat eine durchschlagende gemeinsame Strategie gegen den Staat zu entwickeln.
Ich werde auch alles dafür tun, dass andere Parteien dem Sozialdemokraten Pedro Sánchez keinen Blankoscheck ausstellen. Ich werde mich dort zum Beispiel auch gegen ein Amnestiegesetz stellen, über das in einigen Kreisen schon debattiert wird.
Wenn wir dort ein Amnestiegesetz durchbringen wollen, um die Freiheit der politischen Gefangenen zu erreichen, dann wird man in Madrid dafür Gegenleistungen fordern. Das wird die Straflosigkeit für die Verbrechen sein, die hier begangen wurden und werden. Ich will verhindern, dass das überhaupt ins Parlament kommt.
Wir haben die Erfahrung schon mit dem Franquismus gemacht, für die Amnestie danach wurden auch die Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Faschisten amnestiert, aber nicht einmal alle politischen Gefangenen entlassen. Ich kann nicht zulassen, dass der Polizist, der mir ein Auge ausgeschossen hat, straflos davonkommt. Damit würde die gesamte Arbeit unnütz, die hier gemacht wurde, um in Katalonien die Gummigeschosse zu verbieten. Zuvor wurde andere Menschen, wie Ester Quintana bei einem Generalstreik ein Auge ausgeschossen.

Das Geschoss

Wie stellt sich die Lage in ihrem Verfahren derzeit dar? Erstaunlicherweise werden Sie ja angeklagt und vor Gericht gestellt.
Roger Español: Ich war der am schwersten verletzte Mensch am Referendumstag und wir haben mit Unterstützern in einer zweijährigen Arbeit ein Gutachten erstellt und herausgefunden, wer der Schütze war und haben die 14 Polizisten der Einheit angezeigt. Es ist das erste Mal in der spanischen Geschichte, dass wir einen Schützen nach solchen Vorgängen namentlich benennen können. Und es gab, wie den Basken Inigo Cabacas, sogar Tote. Das war eine riesige Arbeit von Freiwilligen, weil die Institutionen nichts zur Aufklärung getan haben.
Die Polizei klagt mich im Gegenzug wegen einem angeblichen Angriff auf Beamte an und in meinem Fall wird sich das ganze Verfahren nun in die Länge ziehen, da wir mit dem Gutachten deutlich aufzeigen, dass einige der Beamten, die gegen mich ausgesagt haben, gelogen haben.
Ohnehin habe ich den Eindruck, dass es wenig Interesse an einer Ermittlung gibt, weshalb ich und viele andere Opfer damit noch die nächsten vier bis fünf Jahre beschäftigt sein werden. Wenn ich jetzt gewählt werde, muss mein Fall wegen der Immunität dann ohnehin wieder an den Obersten Gerichtshof abgegeben werden.
Was sind die genauen Vorwürfe gegen Sie?
Roger Español: Als ich am 1. Oktober früh morgens raus bin, um am Referendum teilzunehmen, war alles ruhig. Ich habe dann, wie am Vorabend schon, eine Runde gedreht und ein paar Straßen weiter war der Teufel los. Dort wurden an einem Wahllokal die Leute gewalttätig zusammen geprügelt, das Lokal gestürmt. Als sie die Wahlurnen beschlagnahmt hatten, waren noch viele Fahrzeuge der spanischen Nationalpolizei dort.
Wir haben dann versucht zu verhindern, dass sie sich zu anderen Wahllokalen begeben können, wo zum Beispiel meine Eltern geduldig in der langen Schlange standen, um abstimmen zu können. Wir haben dann Baumaterial auf die Straße geworfen und das sieht man in meinem Fall auch auf Videos.
Sie behaupten aber, ohne dafür ein ärztliches Attest vorlegen zu können, dass ich Absperrgitter auf Polizisten geworfen haben soll. Das war nicht meine Absicht, einen Polizisten zu verletzen. Ich hätte die Absperrungen auf sie werfen können, aber wir haben sie nach unten geworfen und ich bin jetzt wirklich auch nicht der Kräftigste, wie man sieht.
Sie haben aber trotz allem mit vielen Gummigeschossen geschossen und auf die Köpfe gezielt. Und so traf mich 40 Meter hier um die Ecke meiner Wohnung ein Geschoss aufs Auge, warf mich zu Boden und zerstörte mein bisheriges Leben. Das war um 10 Uhr 30 und eine der heftigsten Übergriffe der Sicherheitskräfte überhaupt.

Polizeigewalt: "Sanchez hat eine Show abgezogen"

Wie erleben Sie es, dass nun wieder mit verbotenen Gummigeschossen von der Nationalpolizei geschossen wird, dass vier Leute erneut ein Auge verloren haben, dass auch die katalanische Polizei mit Foam-Geschossen feuert?
Roger Español: Es gibt Hunderte Verletzte und ich war auf den Straßen, als das erneut passierte. Es war sehr hart für mich. Klar, ich passe natürlich nun extrem auf. Man durchlebt das alles wieder. Auf der anderen Seite sehe ich in dem Widerstand derzeit auch positive Momente. Ich will jetzt nicht in Widerstandsformen einsteigen, aber positiv erinnert mich das an die starken Momente, als wir das Referendum gegen die Gewalt durchgesetzt haben.
Ich war an einem Tag in dem Krankenhaus, in dem Opfer der Gummigeschosse behandelt werden, weil ich einen Behandlungstermin hatte. Es war der Tag, an dem der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez dort einen verletzten Polizisten besucht hat.
Sánchez hat eine Show abgezogen, wogegen die Belegschaft protestiert hat. Er hat einen Polizisten besucht, der eigentlich längst hätte entlassen werden sollen. Opfer der Polizeibrutalität besuchte er nicht. Mich haben im Krankenhaus zwei Frauen angesprochen, da mich ja in Katalonien alle Welt kennt. Sie baten mich mitzukommen. Wir gingen in den gleichen Stock, im gleichen Gebäude, in dem ich vor zwei Jahren lag, zu einem der Opfer, dem auch das Auge gerade ausgeschossen worden ist.
Ich war danach völlig fertig, auch wenn ich ihm versucht habe, Mut zuzusprechen und ihm jede Unterstützung versichert und gesagt habe, wie ich damit umgegangen bin. Aber das war sehr hart, das noch einmal zu durchleben. Ich habe am ganzen Körper gezittert, als ich das Zimmer verlassen habe. Ich bekomme allein beim Erzählen jetzt schon wieder eine Gänsehaut.
Ich fühle mich auch verantwortlich dafür, weil es mir nicht gelungen ist, dass sich solche Vorfälle nicht wiederholen. Zu wissen, dass es drei weitere Fälle gibt, macht das Ganze noch viel schwerer. Ich weiß es nicht, aber ich habe das Gefühl, ich hätte mehr machen können, um das zu verhindern.

"Vertrauen gibt es nicht gratis" - Gewalt und Aussichten

Sind es erneut Opfer von Gummigeschossen oder auch von Foam?
Roger Español: Ich glaube allein von Gummigeschossen. Ich habe Kopfverletzungen von solchen Foam-Geschossen gesehen, was auch scharf zu kritisieren ist. Aber es scheint keine verlorenen Augen dadurch zu geben. Letztlich ist unser katalanischer Innenminister für alle diese Vorgänge verantwortlich, weshalb ich seinen Rücktritt fordere.
Alle Verletzten hat er zu verantworten und Miquel Buch muss durchsetzen, dass sich die Nationalpolizei und Guardia Civil hier an die Gesetze halten. Er ist der Koordinator der Einsätze. Gummigeschosse sind hier verboten und das muss er durchsetzen. Kann er das nicht, muss er zurücktreten.
Er kann kein Vertrauen in die katalanische Polizei fordern. Die gibt es nicht gratis. Sie entsteht, wenn vor allem die Sondereinsatztruppe Brimo kontrolliert und deren Übergriffe bestraft werden, da sie sich auch nicht an die Protokolle halten. Ich halte die Brimo, die für viele Verletzte verantwortlich ist, für völlig außer Kontrolle.
Es waren unsere Mossos d'Esquadra, die sich am Tag der Urteilsverkündung am Flughafen aufgeführt haben wie die spanischen Sicherheitskräfte am Referendum. Am ersten Tag gingen die Leute noch wegen der harten Urteile auf die Straße und danach auch wegen der Polizeibrutalität. Und da war die katalanische Polizei massiv am Flughafen beteiligt.
Wenn die Polizei weiter prügelt, dann werden die Proteste sich immer stärker gegen die Polizeibrutalität richten und immer weniger mit den Urteilen zu tun haben. Es sind vor allem junge Leute, die schwer genervt sind. Sie haben gesehen, wie ihre Eltern beim Referendum verprügelt wurden, nur damals von der Guardia Civil und der Nationalpolizei. Jetzt sagen einige Politiker hier: "Verurteilen wir die Gewalt, von wo auch immer sie kommt."
Dazu sage ich Nein! Man darf das Narrativ des spanischen Staates nicht einfach so kaufen. Die jungen Leute auf den Barrikaden wissen, dass nicht nur eingeschleuste Provokateure dabei sind, sondern auch welche von anderen Parteien. Doch sie wollen nicht mehr einfach der Prügelei zuschauen und sich prügeln lassen.
Besetzte Straße in Barcelona. Foto: Ralf Streck
Markieren die Vorgänge nun einen großen Unterschied zum Vorgehen der Bewegung in den letzten 10 Jahren? Mir scheint aber, dass hier von Seiten der Sicherheitskräfte alles getan wurde, um Gewaltbilder zu bekommen, wenn ich sehe, wie uniformierte Polizisten Barrikaden bauen oder Müllcontainer anzünden.
Roger Español: Für mich ist das vor allem Selbstverteidigung, wenn mit Gummigeschossen auf einen geschossen wird oder 50 Polizisten auf am Boden sitzende Menschen einprügeln, dann gibt es Leute, die Barrikaden bauen und die anzünden, um sich davor zu schützen.
Allerdings wurde das jetzt gestoppt. Es wird, auch vom katalanischen Innenminister, von einer nie dagewesenen Gewalt gesprochen. Das ist Unsinn, es gab immer wieder in Barcelona und anderen Städten heftige Straßenschlachten. Historisch gab es hier immer wieder heftige Krawalle bei Räumungen von Häusern, etc. So heftig oder heftiger als die, die wir gerade gesehen haben.
Die Mobilisierung der Massen über etliche Tage wie die Friedensmärsche zum Generalstreiktag, wo Hunderttausende nach drei Tagen nach Barcelona eingezogen sind und über Tage die Hauptverkehrsadern blockiert waren, haben nach Ansicht vieler eine neue Stufe des Widerstands markiert und weniger die brennenden Barrikaden, oder?
Roger Español: Ganz sicher. Ohnehin, ich wiederhole mich, wurde die Gewalt von der anderen Seite provoziert. Allerdings ist ihnen dann offensichtlich das ganze aus dem Ruder gelaufen, weil sie mit der Stärke der Katalanen einmal mehr nicht gerechnet haben. Wichtig ist für mich, dass diese Kraft auf der Straße nun auch in Institutionen gezeigt wird. Denn politisch ist sie bisher dort nicht abgebildet. Deshalb habe ich Bock auf diese neue Etappe.
Ich glaube, was wir als Unabhängige in JxCat machen, ist das in die Parlamentskammern zu tragen. Das ist meine Aufgabe. Geschieht das nicht, wird die Distanz zu den politischen Vertretern noch größer. Diese Trennung ist ein großer Fehler.
Wenn wir nach dem 1. Oktober gesagt haben: "Wir machen es wieder", dann geht es genau darum, uns zu vereinen und unsere Sachen umzusetzen. Und eines ist klar, die Parteien sind nun wieder etwas zusammengerückt, weil die Leute sie sonst wegspülen. Das wir wieder deutlich stärker gemeinsam an einem Strang ziehen, begrüße ich sehr.