Die hektische Eile nach der langen Weile

Weil Griechenland nicht schnell unter die Arme gegriffen wurde, müssen die Euroländer nun hektisch einen Flächenbrand bekämpfen, der Euro soll mit bis zu 750 Milliarden gestützt werden

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Der absurde Kurs der Bundesregierung in der Frage eines Hilfspakets für Griechenland hat sich zum Rohrkrepierer entwickelt. Der schwarz-gelbe Schlingerkurs vor den Wahlen in Nordrhein-Westfalen hat einen Flächenbrand ausgelöst. Die spekulativen Angriffe haben sich ausgeweitet und vor allem die Refinanzierungskosten für Portugal, Irland und Spanien steigen. Doch auch der Schuldenrekordhalter Italien rückt ins Zielfernrohr.

Die Bundeskanzlerin musste noch vor den gestrigen Wahlen von der Bremse aufs Gas steigen, um nicht als Totengräber des Euro in die Geschichte einzugehen. Nach der Verabschiedung des Griechenland-Notpakets am Freitag traten am Sonntag auch die Finanzminister in Brüssel zusammen, um noch vor der Öffnung der Börsen in Fernost an einem Rettungsschirm zu basteln. Die hektischen Vorgänge erinnern an die nach der Lehman-Pleite. Von einer "Generalmobilmachung" gegen die "Wolfsrudel" wird gesprochen. Bis zu 860 Milliarden Euro sollen nun fließen, um die Spekulation zu bekämpfen und den abstürzenden Euro zu stärken.

Man musste kein Hellseher sein, um schon vor einem halben Jahr in Bezug auf Griechenland vorherzusagen: "Die Aussagen unserer Politiker, man werde Griechenland nicht mit Geldspritzen unterstützen, darf man auch so schnell vergessen, wie sie abgesondert werden." Doch in Berlin spielte man weiter monatelang das Griechenland-Spiel. Gegen besseres Wissen tat man so, als wäre der sich abzeichnende Notfall allein ein Problem von "faulen Griechen".

Doch eigentlich ist seit Monaten klar, dass es für die Bundeskanzlerin letztlich gar keine andere Möglichkeit geben kann, als einen Rettungsschirm für Griechenland auszubreiten. Mit der Entscheidung zur HRE hatte sich Merkel jeden Spielraum genommen. Das wussten auch die Spekulanten, die diese Situation ausgiebig für ihre lukrativen Geschäfte genutzt haben. Doch die Schleusen hatte man in Berlin erst weit geöffnet, weil die Union und die FDP angesichts der eigenen Propaganda fürchteten, in Nordrhein-Westfalen abgewählt zu werden. Deshalb versuchten Angela Merkel und Guido Westerwelle wichtige Entscheidungen hinter den gestrigen Wahltermin zu verschieben.

Mit ihren Winkelzügen sind Merkel und Westerwelle aber gründlich gescheitert, wie nun auch die Wahlen gezeigt haben. Die Koalition aus CDU und FDP wurde in Nordrhein-Westfalen abgewählt. Die Bundesratsmehrheit ist im Eimer und damit straucheln zentrale Projekte der Regierung wie die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke, Steuersenkungen und Kopfpauschale im Gesundheitswesen.

Die Kosten für diese Politik sind enorm hoch. Der Schaden, den auch der Euro und der Währungsraum genommen haben, ist unermesslich. Der Euro, einst strahlender Sieger in der Krise, ist schon schwer in die Knie gegangen. Vom historischen Höchststand von knapp 1,6 zum Dollar stürzte er von einem Jahrestief zum nächsten. Am Freitag fiel er auf gut 1,27. Dazu kommen die Milliardenkosten, die man in Berlin diversen Ländern mit diesem Kurs aufgebürdet hat. Deren Zinsen für Staatsanleihen haben sich zum Teil vervielfacht. Sie fressen bisweilen die Milliarden auf, die sich die Bevölkerung der Länder vom Mund absparen müssen. Griechenland musste derweil den Notfall auslösen und in dem Land eskaliert die Lage gefährlich.

Spät fiel auch der Kanzlerin auf, dass sie auf Grund gelaufen ist. Sie musste am vergangenen Samstag, nachdem die Staats- und Regierungschefs der Eurozone das Griechenland-Hilfspaket in einer Höhe von 110 Milliarden Euro beschlossen haben, die bittere Kehrtwende erklären. "Wir haben allerdings festgestellt, dass es ein hohes Maß an Spekulationen gegen den Euro als Ganzes gibt, und deshalb haben wir noch einmal festgestellt, dass wir uns alle der Stabilität des Euro verpflichtet fühlen", erklärte Merkel nun. Die Bundeskanzlerin sprach davon, dass es sich um eine "sehr, sehr wichtige Sitzung der Eurogruppe" gehandelt habe, "weil wir doch feststellen müssen, dass die systemischen Effekte gegen den Euro als Ganzes zu spüren sind". Merkel weiß, dass vor allem Deutschland vom Euro profitiert hat.

"Angriff auf die Stabilität der Eurozone und die EU insgesamt"

Eigentlich müsste Merkel ihren Hut nehmen. Denn seit Monaten ist offensichtlich, dass gezielt gegen einzelne Länder und den Euro gewettet wird (Wetten gegen den Euro). Doch in Berlin wurde nicht nur zugeschaut, sondern die Spekulation sogar angeheizt. Merkel könnte durch Neuwahlen ihren unfähigen Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) gleich mitnehmen, der noch am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos in einem Interview tönte, er wolle nicht, "dass jetzt die deutschen und französischen Steuerzahler die Missentwicklung in Griechenland zu finanzieren haben". Stattdessen wäre schon im Januar ein klares europäisches Signal nötig gewesen. Doch dieses Verhalten hat auch dazu geführt, dass allein die Griechenland-Hilfe für Deutschland inzwischen von 8,4 auf 22,4 Milliarden explodiert ist. Insgesamt wurden im teuersten Wahlkampf der Geschichte aus geplanten 45 schließlich 110 Milliarden Euro.

Doch dabei bleibt es nicht. Denn endlich haben sich auch die Finanzminister vor der Sondersitzung die Frage gestellt, warum zwar Nichteuroländer wie Lettland, Ungarn und mit billigen Krediten aus dem Notfallfonds der EU versorgt werden können (Warum stützt die EU Lettland, Rumänien und Ungarn?), diese günstige Refinanzierung aber bedrohten Länder aus der Eurozone verwehrt ist. Wie ernst die Lage für den Euro inzwischen in den Hauptstädten eingeschätzt wird, zeigt das in der Nacht geschnürte Rettungspaket. Danach können im Notfall weitere 750 Milliarden Euro als Kredite an bedrohte Länder fließen. Der EU-Wirtschafts- und Währungskommissar Olli Rehn erklärte in Brüssel, es gehe darum, Attacken gegen die Eurozone insgesamt abzuwehren: "Das ist kein Angriff mehr auf den einen oder anderen Mitgliedsstaat. Das ist ein Angriff auf die Stabilität der Eurozone und die EU insgesamt."

Es handelt sich um einen Mix aus Krediten und Garantien. Der EU-Notfallfonds soll um weitere 60 Milliarden Euro aufgestockt werden. Dazu kommen bis zu 440 Milliarden Euro an bilateralen Hilfen der Eurostaaten. Wie schon im Fall Griechenlands von Merkel durchgesetzt wurde, wird der Internationale Währungsfonds (IWF) auch an diesem Rettungspaket beteiligt sein. Nach dem ursprünglichen Verteilungsschlüssel für Griechenland soll er nun mit 250 Milliarden Euro ein Drittel zu den Gesamthilfen beisteuern. So erklärt sich, warum kürzlich die Mittel für den IWF-Notfallfonds von 50 auf sage und schreibe 550 Milliarden Dollar aufgestockt wurden. Da sich die am Freitag beschlossene Griechenlandhilfe noch zu dem Rettungspaket summiert, hat sich nun die enorme Summe von 860 Milliarden Euro angehäuft.

Die Zustimmung Deutschlands für die bilateralen Kreditgarantien in der Höhe von 440 Milliarden hatte es nach fast 12stündigen Beratungen erst gegeben, als dafür die Gründung einer eigenen Zweckgesellschaft beschlossen wurde. Auf Deutschland kommen nach dem Verteilungsschlüssel der EU bis zu 123 Milliarden Euro zu. Mit der Einrichtung einer Zweckgesellschaft für drei Jahre soll die sogenannte No-Bailout-Klausel nach Artikel 125 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) umgangen werden. Die besagt, dass weder die EU noch ein anderes EU-Land für Verbindlichkeiten eines Mitgliedstaates haften oder einspringen dürften. Die Bundesregierung wird sich zur Umgehung auf ein Gutachten des Bundestages stützen. Das zitiert Artikel 122 des AEUV, wonach "aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen", die sich der Kontrolle eines Landes entziehen, das von "Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht ist", eine Hilfe möglich ist. EU-Kommissar Rehn hält nun die "Anwendung des Notstandsparagraphen für gerechtfertigt".

Dem Ecofin-Treffen gingen drastische Worte voraus. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy hatte erklärt: "Wir haben uns für eine absolute Generalmobilmachung entschieden." Anders als die Bundeskanzlerin hatte er die Teilnahme an den Feierlichkeiten in Moskau zum 65. Jahrestag des Sieges über Nazideutschland wegen der Krise abgesagt. Auch der Premierminister Luxemburg griff zu scharfen Worten. "Es geht hier um eine weltweit organisierte Attacke gegen den Euro", sagte Jean-Claude Juncker, der Vorsitzende der Eurogruppe. Der schwedische Finanzminister Anders Borg nannte die Spekulanten ein "Wolfsrudel, welche die kleinen südeuropäischen Länder in Stücke reißen wollen".

Weil ein breiter Angriff abgewehrt werden müsse, wird das Rettungspaket auch durch Maßnahmen der Europäischen Zentralbank (EZB) flankiert. Die EZB hat sich zu ganz neuen Schritten entschlossen, nachdem sie zuvor schon bereit war, die auf "Ramsch" abgestuften Staatsanleihen von Griechenland als Sicherheiten zu akzeptieren. Die EZB teilte in der Nacht zum Montag mit, sie werde ein Programm für den Kauf privater und öffentlicher Schuldverschreibungen auflegen. Ziel sei es, die mangelnde Funktionsfähigkeit von Wertpapiermärkten zu beseitigen und wieder einen ordnungsgemäß funktionierenden geldpolitischen Transmissionsmechanismus herzustellen. Über das Ausmaß der Interventionen soll der EZB-Rat noch entscheiden, doch die "geldpolitische Ausrichtung" soll angeblich mit den neuen Maßnahmen nicht beeinflusst werden.

Neue Sparmaßnahmen der gefährdeten Länder werden gefordert

Wie zuvor in Griechenland wird nun für dieses Paket ebenfalls darauf gepocht, dass Geld werde nicht sofort fließen, sonder erst dann, wenn Länder wie Spanien, Irland, Portugal oder Italien real von der Zahlungsunfähigkeit bedroht seien. "Wir hoffen, dass es zu einer Inanspruchnahme dieser Mittel nicht kommt", sagte Innenminister Thomas de Maiziere. Er musste Finanzminister Wolfgang Schäuble vertreten, der in ein Brüsseler Krankenhaus eingeliefert wurde. Härter vorgegangen werden soll in Zukunft auch gegen Defizitsünder. So sagte Schwedens Finanzminister Borg. "Wir müssen heute ein Stopp-Signal senden, sonst ziehen die Probleme auch andere, schwache Euro-Staaten mit hinunter."

Die entsprechenden Staaten hätten sich als Gegenleistung für die Hilfen auch zu neuen Sparanstrengungen verpflichtet. So hat Spanien angekündigt, man wolle 2010 weitere fünf Milliarden Euro und 2011 weitere zehn Milliarden einsparen. Madrid will damit die Neuverschuldung schneller senken. Das Haushaltsdefizit soll 2010 schon auf 9,3 % gedrückt werden. 2011 will man es nach den neuen Plänen auf 6,5% reduzieren. Wie das geschehen soll, da bleibt die Finanzministerin Elena Salgado einsilbig. Bisher war sogar unklar, wie die schon zuvor angekündigten Sparpläne umgesetzt werden sollen, da Madrid auch ständig neue Ausgaben ankündigt.

Wie schon das bisherige Sparpaket Portugals klar, konkret und glaubwürdig war (Der portugiesische Sparweg), hat Lissabon erneut konkret erklärt, an welcher Stelle die zusätzlichen Milliarden eingespart werden. Portugals Ministerpräsident Jose Socrates hat angekündigt, dass die sozialistische Minderheitsregierung zwei große Infrastrukturprogramme auf Eis legen werde. Der neue internationale Flughafen in Lissabon und die dazugehörige Brücke über den Tajo werden zunächst nicht gebaut. Das Defizit soll schon in diesem Jahr von 9,4 auf 7,3 % gesenkt werden, bisher hatte Lissabon für 2010 noch 8,3% angesetzt.

Verbot von Spekulationsgeschäften vertagt

Im Vorfeld der Sitzungen wurde kolportiert, dass mit dem Rettungsnetz auch eine koordinierte Aktion der Aufsichtsbehörden einhergehen soll. Demnach sollten Leerverkäufe auf Bank- und Versicherungstitel verboten werden. Auch Leerverkäufe auf Staatsanleihen könnten ausgesetzt werden, hieß es noch am Wochenende aus Regierungskreisen. Doch dazu herrscht bisher Schweigen im Walde, konkrete Maßnahmen wurden offenbar erneut auf die lange Bank geschoben. Über die Leerverkäufe, eine dringend nötige Finanztransaktionssteuer oder Beschränkungen beim Handel mit Credit Default Swaps (CDS), soll nun in einer Arbeitsgruppe gesprochen werden.

Man hat offenbar nichts gelernt. Hatte man zum Ausbruch der Krise die fehlende Regulierung und die fehlende Transparenz als eine zentrale Ursache ausgemacht (Krise? Welche Krise?), ist man in zwei Jahren keinen Schritt weiter gekommen. Offenbar sollen nach diesem neuen Bail-out der Banken, der in der Nacht beschlossen wurde, konkrete Maßnahmen wieder auf den St. Nimmerleinstag verschoben werden.

Wie schon nach der Lehman-Pleite schielt man lediglich auf eine kurzfristige Stabilisierung der Börsen (Auch Europa versucht, seine Banken zu retten). Deshalb musste das Rettungspaket unbedingt vor der Eröffnung der Börsen festgezurrt werden. Dieses Ziel hat man offenbar zunächst erreicht. Der Euro kletterte an den Börsen in Fernost auf über 1,29. Die Tokioter Börse eröffnete im Plus. Bis zur Mittagspause legte Nikkei-Index um 1,3% zu. Die US-Aktien-Futures tendieren im Plus und auch an den europäischen Börsen werden nach den Verlusten in der Vorwoche heute Kursgewinne erwartet.

© Ralf Streck den 10.05.2010