Ist Spanien ein "gescheiterter Staat"?

Foto: Ralf Streck

Man habe "Kontrolle verloren", resümiert die FAZ. Die NZZ fragt, ob es sich um einen "failed state" handelt, dem man keine Hilfsgelder geben sollte

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Schon vor sechs Jahren, als der damalige König Juan Carlos angesichts seiner Skandale abdanken musste, stellte Telepolis im Titel fest: Spanien: Nah dran am "failed state". Dass dieser König wegen seiner Verwicklungen in massive Korruption inzwischen sogar aus dem Land in die Arabischen Emirate fliehen musste und auch der Oberste Gerichtshof am vergangenen Mittwoch bestätigt hat, dass die "Korruptionspartei" - auch Volkspartei (PP) genannt - aus der Regierung heraus ein "effizientes System institutioneller Korruption" betrieben hat, sind markante Indizien für einen gescheiterten Staat.

Korruption, die aus den höchsten Staatsämtern betrieben wird, und dazu die Unfähigkeit zu Reformen zeigen an, dass in einem Land etwas massiv schiefläuft. Und dass der Chef der Volkspartei, Mariano Rajoy, nie angeklagt wurde, spricht ebenfalls dafür.

Ein "M. Rajoy" hat nach den Aufzeichnungen des Schatzmeisters Luis Bárcenas sogar die höchste Gesamtsumme aus den schwarzen Kassen erhalten, die über Schmiergelder gefüllt wurden, und für die im Gegenzug öffentliche Aufträge vergeben wurden. Lange Jahre hat die Partei, die von Mitgliedern der Franco-Regierung gegründet wurde, sich illegal finanziert und ist gedopt in die Wahlkämpfe gegangen. Rajoy trat nicht einmal zurück, sondern musste per Misstrauensantrag gestürzt werden.

Das Problem erstreckt sich aber nicht nur auf die nun größte Oppositionspartei, denn auch die regierenden Sozialdemokraten haben massive Korruptionsskandale zu verantworten. Dass die sozialdemokratische Regierung sogar in die Flucht des Königs eingebunden war und der Steuerzahler zumindest zum Teil dafür aufkommt, dass er sich den laufenden Ermittlungen durch die Justiz entzogen hat, ist sicher auch kein Zeichen dafür, dass mit dem unsäglichen Geschehen endlich aufgeräumt wird.

Die Justiz

Neben den Parteien und der Monarchie ist auch die spanische Justiz eine Stütze des "Regimes von 1978". Ihre Unabhängigkeit ist so schwach ausgeprägt, dass sogar Richter und Staatsanwälte immer wieder einmal streiken. Auch die Group of States against Corruption (GRECO) des Europarates fordert wiederholt Reformen von Spanien, da Richter in höchst merkwürdigen Vorgängen auf ihre Posten kommen, nicht dank ihrer Verdienste, sondern wegen ihrer Verbindungen zur entsprechenden Partei. Auch im letzten GRECO-Bericht wurden erneut massive Veränderungen angemahnt. Immer wieder stellt Greco auch fest, dass die Forderung an Transparenz und Korruptionsprävention nicht umgesetzt werden.

Die Skandale dieser Justiz sind Telepolis-Lesern allseits bekannt. Folter wird von ihr nicht verfolgt, weshalb Spanien immer wieder mal vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt wird. In Straßburg am EGMR wurden wiederholt Unrechtsurteile in unfairen Prozessen kassiert, mit denen mit erfundenen Anklagen Politiker und Aktivisten für viele Jahre im Gefängnis verschwinden.

Unrechtsurteile kann es überall geben. Der große Skandal in Spanien ist aber, dass sie, wenn es gegen Katalanen und Basken geht, Methode haben. Deshalb haben klare Unrechtsurteile für die Richter auch keinerlei Konsequenzen. Legen sich Richter jedoch mit der PP und ihren Machenschaften an, werden sie schnell abserviert.

Diese Justiz hat es sich gerade sogar geleistet, in einem "juristischen Krieg", wie es auch hochrangige Verfassungsrechtler kritisieren, den katalanischen Regierungschef wegen einer Bagatelle aus dem Amt zu hebeln. Zuvor hatte man verhindert, das Carles Puigdemont kandidieren konnte und einen Kandidaten nach dem ersten Wahlgang noch schnell inhaftiert, um seine Wahl im zweiten Wahlgang mit einfacher Mehrheit zu verhindern.

Aus welchem EU-Land sonst sind solche Vorgänge bekannt? In Spanien wird sogar verhindert, dass ein Europaparlamentarier, der vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) Immunität zugesprochen bekam, seinen Abgeordneten-Sitz einnehmen kann. Stattdessen sitzt er seit drei Jahren in einem spanischen Gefängnis.

Es ist deshalb fast verständlich, wenn sich Polen und Ungarn angesichts der Vorgänge in Spanien darüber beschweren, dass sie mit Vertragsverletzungsverfahren überzogen werden, man in der EU-Kommission aber zu den Vorgängen in Spanien schweigt. Gerade hat der polnische Außenminister Pawel Jablonski per Twitter die EU gefragt, ob sie nun auch Spanien angreifen wird.

"Ungeheure Dinge spielen sich ab" - Der Kreis der Kritiker wird größer

Die Kritik an dem Land wird auch in Leitmedien immer stärker. So fragt die Schweizer Neue Zürcher Zeitung (NZZ) nun: Ist Spanien ein "failed state" - und wie soll die EU mit seinem Mitglied umgehen?

Auch Professor Friedrich L. Sell weist darauf hin, dass sich "die Aufmerksamkeit der EU-Kommission und auch der deutschen Regierung und Öffentlichkeit bei den Themen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ganz auf Polen und Ungarn" konzentrieren. Dafür "spielen sich in der fünftgrößten europäischen Volkswirtschaft, Spanien, gerade ungeheure Dinge ab". Der Volkswirtschafts-Professor führt zum Beispiel "die Verfassungskrise - Monarchie und katalanischen Separatismus" an. Die Verfassungskrise ist mit der "Flucht" von Juan Carlos für ihn deutlich ausgebrochen.

Auch er weist darauf hin, dass der schnell eingeführte Thronfolger Felipe "zunehmend an Akzeptanz" verliert. Ohnehin ist allen klar, dass der Sohn, der sich nur zaghaft vom Vater distanziert hat, von den dessen dubiosen Geschäften gewusst haben muss. Für die Kennerin Rebeca Quintáns ist deshalb längst klar, dass Felipe und die Monarchie nicht mehr zu retten ist, wie sie im Telepolis-Gespräch erklärte.

Für Friedrich L. Sell ist offensichtlich, dass "einzelne Regionen, wie etwa Katalonien oder das Baskenland" dem König "ganz unverhohlen die Gefolgschaft" verweigern. Er führt aber auch die Regierungs- und Koalitionskrise an, da die Regierung von Pedro Sánchez keine Mehrheit hat. Wie Telepolis stellt auch der Professor fest, dass in der "Regierung die Fliehkräfte ständig zunehmen". Denn die Widersprüche zum Koalitionspartner Unidas Podemos wurden durch eine schwache Sozialpolitik und versteckte Bankenrettungen im Rahmen der Coronakrise noch größer.

Und letztlich weist auch Sell darauf hin, dass Spanien in der Coronaviruskrise versagt hat. Was die Lage verschlimmert, da hat der Professor Recht, ist, dass darüber ein lähmender Machtkampf ausgefochten wird: "Statt zu kooperieren, ergehen sich Regional- und Zentralregierung in gegenseitigen Schuldzuweisungen."

Dass dabei die rechte PP in der Regionalregierung Madrid massiv boykottiert und die Zentralregierung mit Pseudo-Verhandlungen an der Nase herumgeführt hat, sagt Sell allerdings nicht. Letztlich war die Zentralregierung zum Handeln gezwungen, um eine weitere Ausbreitung des Virus aus dem europäischen Hotspot Madrid zu verhindern.

Sell weist noch auf eine weitere Justizkrise hin, nämlich auf die Unfähigkeit der beiden großen Parteien, einen Kompromiss zu finden. Deshalb kommen "Neubesetzungen von Richterstellen an zentralen Gerichten" nicht voran. Es ist aber auch hier so, dass die PP blockiert, denn die von ihr ernannten Richter haben im Verfassungsgericht und im Kontrollrat die Mehrheit und die soll für sie erhalten werden, obwohl sich die Mehrheiten längst deutlich geändert haben.

Seit zwei Jahren ist der Kontrollrat (CGPJ) geschäftsführend im Amt, wie Joaquim Bosch feststellt, der lange Zeit Sprecher der Richtervereinigung "Richter für die Demokratie" war. Und obwohl die Amtszeit abgelaufen ist, hat der CGPJ immer wieder hochrangige Richter ernannt. Ist eine Regierung geschäftsführend im Amt, sind ihre Kompetenzen beschnitten.

Der CGPJ macht einfach weiter, als sei nichts geschehen, obwohl diese Situation nicht vorgesehen ist. Der Präsident, gleichzeitig auch Präsident des Obersten Gerichtshofs (!), Carlos Lesmes, kippt bisweilen eigenmächtig Urteile. Er war unter zweifelhaften Umständen von der rechten PP auf den Posten gehoben worden.

Die EU-Hilfsgelder

Aus all diesen Vorgängen kommt auch der Volkswirtschaftler Sell zum Ergebnis, dass es derzeit "nicht verantwortbar" sei, dass Hilfsgelder aus dem European Recovery Fund (europäischer Wiederaufbaufonds) an Spanien fließen. "Die EU hat nämlich die oben geschilderte Gemengelage in Spanien bisher wenig bis gar nicht erkannt", meint Sell.

Auch Telepolis hatte das auch immer wieder angesichts der Lage in Spanien formuliert. Der Volkswirtschafts-Professor weist darauf hin, dass unbekannt ist, für welche Projekte das Geld ausgebeben werden soll. Er meint, zunächst müssten "sinnvolle Projekte identifiziert" werden, die erst dann mit EU-Mitteln gefördert werden, um anschließend evaluiert zu werden.

Dass er meint, dafür den Internationalen Währungsfonds (IWF) ins Boot zu holen, steht im krassen Widerspruch zu seinem Vorschlag, welche Projekte vorrangig gefördert werden sollten. Für ihn bietet sich "offenkundig an, zuerst das notleidende Gesundheitssystem zu stabilisieren und möglichst resilient gegen weitere Schocks zu machen". Dabei wurde auch in Spanien in der letzten Krise unter Anleitung des IWF gerade das Gesundheitssystem ausgeblutet. Für den Professor ist Spanien "noch kein 'failed state', aber es ist nicht mehr weit davon entfernt. Grund genug, dass Europa endlich aufwacht."

So weit wie Sell geht die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) nicht, in der Hans-Christian Rössle auch auf den NZZ abstellt und sofort die Antwort gibt. Spanien "ist kein 'gescheiterter Staat', wie eine Zeitung bereits insinuierte", schreibt er. Doch angesichts der Corona-Chaos ist auch für ihn "das staatliche Versagen nicht zu übersehen". Kaum waren die Zahlen gesunken, "ließen Zentral- und Regionalregierungen wertvolle Zeit verstreichen", statt sich für die zweite Welle zu rüsten.

Corona: "Spanien hat wieder die Kontrolle verloren"

Er stellt auf die Regionen ab, denen es "mit den Lockerungen nicht schnell genug gehen" konnte. "Vor allem an den Küsten wollte man mit der Sommersaison die Wirtschaft retten", meint er. Dabei wollte genau das auch die Zentralregierung und warf ihre Pläne zu einer langsamen Öffnung um. Aus Katalonien kam zum Beispiel erhebliche Kritik an dem Vorgehen Madrids.

Aber auch für Rössle ist eines klar: "Spanien hat wieder die Kontrolle verloren." Seit Wochen meldeten die Behörden täglich gut 10.000 Neuinfektionen; die Zahl der Toten steige. "In Spanien hat man jedoch aus der ersten Welle wenig gelernt: Die Führung zeigt sich der Krise nicht gewachsen. Die politischen Lager prallen unversöhnlich aufeinander. Die Rechte bekämpft Sánchez' Linkskoalition, als sei der Wahlkampf noch immer nicht vorüber", stellt er richtig fest.

Dass das Versagen aber tiefer geht, stellt nun auch die Deutsche Welle fest. Sie schreibt, dass vieles schon vor der Corona-Pandemie schlecht war und verweist zum Beispiel darauf, dass das "Leben teuer ist". Sie verweist vor allem auf extrem gestiegene und oft unbezahlbare Mieten, worauf an dieser Stelle auch immer wieder hingewiesen wurde. Ballungsgebiete wie Madrid würden sich zu "Virenschleudern" entwickeln.

"Denn gerade dort sitzen nur wenige Menschen am Computer zuhause, sondern arbeiten im Krankenhaus, in der Altenpflege, im Restaurant oder als Putzfrau."

Viele arbeiteten zudem schwarz und können es sich gar nicht leisten, positiv getestet zu werden. In solchen Wohnbedingungen, oft zu Wohngemeinschaften gezwungen, ist eine Isolierung im Fall einer Infektion fast unmöglich. Verwiesen wird darauf, dass in Katalonien hier gehandelt hat und die Zahl der Tourismus-Wohnungen drastisch eingeschränkt hat, um Wohnraum frei zu machen. Die Deutsche Welle verweist auch darauf, dass dort inzwischen die Mieten durch die Regionalregierung gedeckelt wurden.

Augenscheinlich ist, dass Spanien sich in den letzten sechs Jahren immer weiter in Richtung 'failed state' bewegt hat. Und Sell liegt richtig, wenn er feststellt, dass sich das Land aus dieser prekären Lage nur selber befreien kann und dass dies Zeit beanspruchen wird. Dafür brauche es Persönlichkeiten in Wirtschaft und Politik mit Rückgrat. Die sind allerdings nicht in Sicht.

In keiner Frage greift die Regierung von Sánchez den Stier bei den Hörnern, weder, wenn es um Korruption geht, noch in Fragen der Justiz noch in sozialen Fragen oder bei den Altlasten der Franco-Diktatur oder im Konflikt mit Katalonien. Auch Sánchez versucht bisher vor allem, die Lage auszusitzen und er hofft, sie mit vielen Hilfsmilliarden zu überstehen. Da Spanien aber wie kein anderes Land in Europa von den ökonomischen Auswirkungen der Corona-Pandemie betroffen ist, wird das Land bald in den Abgrund stürzen, wenn das Ruder nicht endlich herumgerissen wird.

Europa könnte dazu einen wesentlichen Beitrag leisten, wenn Brüssel endlich aufhört, über gravierende Demokratiedefizite geflissentlich hinwegzuschauen. Corona-Hilfsgelder müssen an die Einhaltung des Rechtsstaatsprinzip gebunden werden, um Reformen zu befördern. Und damit Gelder nicht in korrupten Strukturen verschwinden, muss auch deren Einsatz auch kontrolliert und die Projekte evaluiert werden.